IRLAND / BAD BOLL. (ds) Anlässlich der Veröffentlichung des Berichts der Regierungskommission über die Zustände in irischen Kinderheimen fragt sich der evangelische Pfarrer Dierk Schäfer, ob sich diese Berichte auf Deutschland übertragen lassen und welche Konsequenzen das hätte.
Ein Kommentar von Dierk Schäfer
Fünf Bände, 2.600 Seiten mit dokumentierten Misshandlungen von Kindern in irischen Kinderheimen! 1.700 Zeugen trugen innerhalb von 10 Jahren zu dem Bericht der Untersuchungskommission ihre Leidensgeschichten zusammen: Misshandlungen, Missbrauch, Zwangsarbeit und durchgängige Demütigungen. Dieser Bericht kommt aus Irland und findet seit vergangenen Donnerstag umfassende Resonanz in den deutschen Medien.
In Deutschland tagt zur Zeit, auf zwei Jahre angesetzt, der „Runde Tisch“. Es geht um dasselbe Thema.
Was bedeutet der irische Bericht für die deutschen Verhältnisse?
Einerseits nicht viel, Irland ist Irland. Das Untersuchungsergebnis ist ein irisches, kein deutsches.
Andererseits sind Parallelen deutlich. Hier wie dort wird und wurde geleugnet, wurde von bedauerlichen Einzelfällen gesprochen, wurde auf zeittypische Erziehungsmethoden verwiesen. Der irische Bericht macht klar, dass das Unvorstellbare Realität gewinnen kann. Nein, nicht für die ehemaligen Heimkinder, die haben nie daran zweifeln können, sie leiden noch heute unter dieser erlebten Realität.
Realität haben die unvorstellbaren Menschenrechtsverletzungen für die irische Öffentlichkeit gewonnen, für den Staat und für die Heimträger, doch manche leugnen immer noch.
Nach den vorliegenden Berichten der ehemaligen Heimkinder ist für Deutschland kein wesentlich anderes Ergebnis zu erwarten: Misshandlungen, Missbrauch, Zwangsarbeit und durchgängige Demütigungen.
Was bedeutet das?
Der Runde Tisch will „ergebnisoffen“ arbeiten. Dieses Ziel ist nicht länger haltbar. Der Runde Tisch muss davon ausgehen, dass es in Deutschland kaum anders aussehen dürfte als in Irland. Er muss also heute schon deutlich machen, an welche Entschädigungen er denkt, wenn die Daten, wie zu erwarten, erhärtet werden. Hierzu liegen bereits von anderer Seite Vorschläge auf dem Tisch, auch auf dem Runden. (Verfahrensvorschläge-RT)
Wenn der Runde Tisch nach dem von ihm nicht zu verantwortenden Startschwierigkeiten Glaubwürdigkeit gewinnen will, muss er nach den erschreckenden aber objektivierten Daten aus Irland vom worst case ausgehen, also, dass es ähnlich teuer werden wird, wie in Irland, das vielleicht auch noch auf größerer Zahlenbasis. Doch es hilft nichts, vergangenes Unrecht muss man anerkennen und dafür bezahlen, auch wenn man nur Rechtsnachfolger ist.
Noch etwas anderes lehrt ein Vergleich. Das wird die ehemaligen Heimkinder weniger interessieren, denn wer gequält wurde, denkt an die Qual und nicht an die Erklärungen. Dennoch: Es war so logisch: In den deutschen Heimen arbeitete vielfach Personal, das in den Wertvorstellungen der Nazi-Zeit erzogen war, so dachte und so handelte. Doch das kann keine Erklärung sein, denn Irland hat keine Nazi-Vergangenheit.
Ein anderer Erklärungsansatz mag in der Sexualnot zölibatär lebenden Heimpersonals gesehen werden. Auch dieser Ansatz hilft nicht weiter. In evangelischen Heimen hat es anscheinend nicht besser ausgesehen, als in katholischen Einrichtungen. Von einem evangelischen Heim hörte ich, dass dort sämtliche Jungen von den Erziehern und Erzieherinnen missbraucht wurden.
»Das Personal war nicht gut ausgebildet!« Auch das erklärt nur wenig, denn die Heimleitungen kann man darunter nicht subsumieren. Die hatten eine bessere Ausbildung und wurden zum Teil selber handgreiflich. Sehr ergreifend zu lesen auf Seite 17 im Beitrag von Prof. Manfred Kappeler über den heimleitenden Pfarrer. VORTRAG-am-RUNDEN-TISCH-am-02-04-2009_-_Zur-zeitgechichtlichen-Einordnung-der-Heimerziehung
Was also erklärt die Unmenschlichkeiten?
Ich sehe nur die unkontrollierte Macht als Erklärung, sehe das Fehlen von Gewaltenteilung. Sie lässt die dunkle Seite der conditio humana, der menschlichen Beschaffenheit zum „Vorschwein“ (!) kommen, um eine bekannte Freud’sche Fehlleistung hier aufzunehmen. Lord Acton, interessanterweise in Zusammenhang mit der Unfehlbarkeitserklärung des Papstes, schrieb 1887: „Macht korrumpiert, absolute Macht korrumpiert absolut“.
Die Erzieher (und Erzieherinnen) waren lauter kleine Päpste, Herren mit Gewalt über die Gewalt- und absolut Wehrlosen. Und sie wurden nicht kontrolliert. „Es gab keine Systematik der Gewaltausübung außer der, dass alle Untaten toleriert wurden.“ schreibt der Historiker Zoran Janjetovic im Ausstellungskatalog „Daheim an der Donau – Zusammenleben von Deutschen und Serben in der Vojwodina“, über das Schicksal der deutschen Donauschwaben in der ersten Zeit nach dem verlorenen Krieg (zitiert nach FAZ/18. Mai 2009). Die Brutalität, mit der Heimkinder behandelt und mißbraucht wurden, ist tatsächlich die gleiche, wie die, von der mir Kriegskinder berichtet haben. (siehe: kriegskinderkongress_frankfurt)
Wozu wir selber fähig wären, wenn wir unkontrollierte Macht über Wehrlose hätten, wissen wir nicht. Hoffentlich funktionieren dann unsere Spiegelneuronen und bewirken unser Mitleiden, wenn andere leiden.
Etwas weiter sind wir in der deutschen Diskussion aber schon: »Ich habe mir bis vor zwei Jahren nicht vorstellen können, dass wir so etwas in unserer Geschichte der Diakonie mitschleppen«, sagte Kottnik [Präsident des Diakonischen Werks/EKD]. Mehrere hunderttausend Kinder und Jugendliche waren in der frühen Bundesrepublik oft aus nichtigen Anlässen in vorwiegend kirchliche Heime eingewiesen worden. Viele von ihnen wurden geschlagen und zur Arbeit gezwungen, zudem gab es sexuelle Misshandlungen. Eine Schulausbildung erhielten die Kinder häufig nicht.
Er habe früher von Einzelschicksalen gesprochen, sagte der Präsident. Heute wisse er, dass dies eine unzulässige Bagatellisierung sei. „Ich will, dass es für die Betroffenen in irgendeiner Form eine Wiedergutmachung gibt“, betonte Kottnik. Der vom Bundestag eingerichtete Runde Tisch, an dem sich auch die Diakonie beteiligt, wolle Ende Juni erste Vorschläge unterbreiten.
Hoffen wir, dass die Wiedergutmachung »in irgendeiner Form« nicht im und Irgendwann und Irgendwie stecken bleibt.
Jetzt muss der Runde Tisch Perspektiven aufzeigen.
Die Zeit der Ergebnisoffenheit ist vorbei.