Paulskirche – Weimar – Grundgesetz

Am 12. September 1847 trafen sich im Gasthaus Salmen in Offenburg die „Freunde der Verfassung“. Vor knapp 1000 weiteren Teilnehmern verabschiedeten sie die „Forderungen des Volkes in Baden“ und formulierten damit das erste demokratisch geprägte politische Programm Deutschlands. Darin hieß es (Artikel 3): „Wir verlangen Gewissens- und Lehrfreiheit. Die Beziehungen des Menschen zu seinem Gotte gehören seinem innersten Wesen an, und keine äußere Gewalt darf sich anmaßen, sie nach ihrem Gutdünken zu bestimmen. Jedes Glaubensbekenntnis hat daher Anspruch auf gleiche Berechtigung im Staate. Keine Gewalt dränge sich mehr zwischen Lehrer und Lernende. Den Unterricht scheide keine Confession“.

Das waren damals revolutionäre Forderungen, für die man ins Gefängnis gesteckt oder als Lehrer aus dem Schuldienst entlassen wurde. Sie verbreiteten sich wie ein Lauffeuer durch ganz Deutschland. Was die Verfasser im Jahr 1847 zunächst thesenartig als politisches Programm entwickelt hatten, wurde in den Monaten danach in Gesetzesartikel umformuliert und floss als „Offenburger Forderungen“ in die deutschen Verfassungsentwürfe ein.

Die Paulskirchenverfassung blieb 1849 nur eine Absichtserklärung, denn die zarte Pflanze der Demokratie wurde schon wenige Wochen später von Soldatenstiefeln zertreten.

Ich bin ein wenig stolz darauf, dass es die Gründungsväter des späteren Badischen Lehrervereins waren, die jene Formulierungen entwarfen, mit denen das erste demokratisch gewählte gesamtdeutsche Parlament vor 160 Jahren, am 28. März 1849, den Deutschen zum ersten Mal die volle Glaubens- und Gewissensfreiheit garantierte und die Staatskirche abschaffte. Niemand sollte mehr verpflichtet sein, seine religiöse Überzeugung zu offenbaren, hieß es in der „Paulskirchenverfassung“ und der Genuss der bürgerlichen und staatsbürgerlichen Rechte sollte durch das religiöse Bekenntnis weder bedingt noch beschränkt sein. Erstmals wurde das Erziehungswesen unter die Oberaufsicht des Staates gestellt.

Die Paulskirchenverfassung blieb 1849 nur eine Absichtserklärung, denn die zarte Pflanze der Demokratie wurde schon wenige Wochen später von Soldatenstiefeln zertreten. Aber, um noch einmal auf das später gern „Musterländle“ genannte Baden zurückzukommen, das diesen Ehrentitel wegen seiner liberalen = freiheitlichen Reformen erhielt: Hier wurden trotz des Scheiterns der ersten Republik bereits knapp dreißig Jahre danach, im Jahr 1876, die konfessionelle Volksschule abgeschafft und durch eine „Simultanschule“ ersetzt, wie das damals hieß, in der alle Kinder, egal ob katholisch, evangelisch oder jüdisch (andere „Bekenntnisse“ gab es damals praktisch nicht in Baden), gemeinsam unterrichtet wurden. In anderen Ländern gab es noch lange Konfessionsschulen, in den süd-württembergischen Landesteilen des heutigen Landes Baden-Württemberg wurden die staatlichen Bekenntnisschulen erst fast 100 Jahre danach, nämlich 1967, abgeschafft. Die Schulaufsicht allerdings blieb auch im liberalen Baden bis 1919 in den Händen der Kirchen.

Die Weimarer Reichsverfassung galt bis zum 23. März 1933, jenem Tag der Schande, als die „bürgerlichen“ Parteien unser Land mit dem Ermächtigungsgesetz einer Horde von Verbrechern überantworteten.

Es dauerte nach dem Scheitern der Paulskirchenverfassung noch 70 Jahre, bis aus dem Verfassungstraum Wirklichkeit wurde: Am 11. August 1919 trat die Weimarer Reichsverfassung in Kraft, die fast 14 Jahre lang das Grundgesetz der deutschen Republik war, bis zum 23. März 1933, jenem Ta g der Schande, als die so genannten „bürgerlichen“ Parteien unser Land mit dem Ermächtigungsgesetz einer Horde von Verbrechern überantworteten.

Im zweiten Hauptteil „Grundrechte und Grundpflichten der Deutschen“ enthält die Weimarer Reichsverfassung die so genannten „Kirchenrechtsartikel“ (Artikel 135 bis 141) – sie stammen direkt, teilweise wörtlich, von den entsprechenden Paragrafen der Paulskirchenverfassung ab. Drei dieser Artikel finden sich fast wörtlich heute im Grundrechtskatalog des Grundgesetzes wieder. Es ist eine klare Linie, die von Frankfurt nach Weimar und von dort zum Bonner Grundgesetz führt.

Artikel 135 der WRV besagt auszugsweise: „Alle Bewohner des Reichs genießen volle Glaubens- und Gewissensfreiheit. Die ungestörte Religionsausübung wird durch die Verfassung gewährleistet und steht unter staatlichem Schutz.“

Anders als noch die Paulskirchenverfassung gestand die WRV diese Glaubens-, Gewissens- und Religionsfreiheit nicht nur den Deutschen zu, sondern allen, die hier wohnen, das Grundgesetz garantiert sie sogar allen Menschen ohne jede Einschränkung. Schritt für Schritt also ging es vorwärts in den vergangenen 160 Jahren.

Nicht mehr der katholische Erzbischof oder der evangelische Oberkirchenrat bestimmten über das Schulwesen, sondern der säkulare Staat.

In Artikel 144 der WRV ist verfügt: „Das gesamte Schulwesen steht unter der Aufsicht des Staates; … . Die Schulaufsicht wird durch hauptamtlich tätige, fachmännisch vorgebildete Beamte ausgeübt.“ Das war das Ende der geistlichen Schulaufsicht. Nicht mehr der katholische Erzbischof oder der evangelische Oberkirchenrat bestimmten über das Schulwesen, sondern der säkulare Staat.

Und in Artikel 149 der WRV findet sich zum Religionsunterricht, der – außer an bekenntnisfreien Schulen – zum „ordentlichen Lehrfach“ erklärt wird, die Bestimmung: „Die Erteilung religiösen Unterrichts und die Vornahme kirchlicher Verrichtungen bleibt der Willenserklärung der Lehrer, die Teilnahme an religiösen Unterrichtsfächern und an kirchlichen Feiern und Handlungen der Willenserklärung desjenigen überlassen, der über die religiöse Erziehung des Kindes zu bestimmen hat.“

Aus den Artikeln 135, 144 und 149 der WRV sind also die Grundgesetzartikel 4 und 7 geworden. Ganze zwei Artikel im Grundrechtsteil des Grundgesetzes beschäftigen sich also dezidiert mit dem Verhältnis von Staat und Religion. Deshalb hören die meis¬ten Menschen dann auch auf, im Grundgesetz nach weiteren Bestimmungen zu diesem Thema zu suchen. Das ist ein Fehler, denn auch die übrigen „Kirchenrechtsartikel“ der WRV sind bis auf einen im Jahr 1949 wörtlich in das Grundgesetz der soeben gegründeten Bundesrepublik Deutschland übernommen worden.

Allerdings verstecken sie sich ganz am Ende unserer heutigen Verfassung in Artikel 140. Dort heißt es lapidar: „Die Bestimmungen der Artikel 136, 137, 138, 139 und 141 der deutschen Verfassung vom 11. August 1919 sind Bestandteil dieses Grundgesetzes.“

Mehr steht da nicht. Leider haben die Mütter und Väter des Grundgesetzes darauf verzichtet, den Wortlaut dieser fünf bedeutsamen Verfassungsbestimmungen direkt zu zitieren, nicht einmal als Fußnote sind sie abgedruckt, obwohl sie doch integraler Bestandteil unserer Verfassung sind. Das ist fatal, denn damit gehen sie regelrecht unter, sie werden oft vergessen oder nicht beachtet.

Dabei wird in ihnen und in Zusammenschau mit den eben genannten Grundgesetzartikeln 4 und 7 das Verhältnis von Staat und Religion in unserer Republik definiert. Ich will hier einige wesentliche Punkte zitieren – wobei ich gerne einräume, dass dies eine subjektive Auswahl ist, aber sie sind mir halt besonders ans Herz gewachsen:

„Artikel 136
(1) Die bürgerlichen und staatsbürgerlichen Rechte und Pflichten werden durch die Ausübung der Religionsfreiheit weder bedingt noch beschränkt.
(2) Der Genuss bürgerlicher und staatsbürgerlicher Rechte sowie die Zulassung zu öffentlichen Ämtern sind unabhängig von dem religiösen Bekenntnis.
(3) Niemand ist verpflichtet, seine religiöse Überzeugung zu offenbaren. Die Behörden haben nur soweit das Recht, nach der Zugehörigkeit zu einer Religionsgesellschaft zu fragen, als davon Rechte und Pflichten abhängen oder eine gesetzlich angeordnete statistische Erhebung dies erfordert.
(4) Niemand darf zu einer kirchlichen Handlung oder Feierlichkeit oder zur Teilnahme an religiösen Übungen oder zur Benutzung einer religiösen Eidesformel gezwungen werden.

Artikel 137
(1) Es besteht keine Staatskirche. …“
Das ist in unserem Land geltendes Verfassungsrecht. Seit neunzig Jahren also – unterbrochen durch die finsteren Jahre der Nazi-Barbarei und wiederaufgelebt seit sechzig Jahren – ist in Deutschland die Religionsfreiheit ein Verfassungsauftrag – und zwar die negative und die positive Bekenntnisfreiheit. Der Staat muss ebenso das Recht schützen, ein Bekenntnis zu haben und danach zu leben, wie er umgekehrt das Recht eines Jeden wahren muss, kein Bekenntnis zu haben und danach zu leben und zu handeln.