Paulskirche – Weimar – Grundgesetz

Seit neunzig Jahren also – unterbrochen durch die finsteren Jahre der Nazi-Barbarei und wiederaufgelebt seit sechzig Jahren – ist in Deutschland die Religionsfreiheit ein Verfassungsauftrag.

Es ist bisweilen notwendig, hieran zu erinnern. Denn bis heute haben nicht alle begriffen, dass unsere Verfassung beispielsweise verbietet, Schülerinnen und Schüler oder ihre Lehrkräfte zur Teilnahme an Schul- und Schülergottesdiensten zu zwingen.

Dass sich diese fünf Artikel so verstecken, liegt an der Entstehungsgeschichte des Grundgesetzes. Es war schwierig genug, diese Bestimmungen der WRV überhaupt in unsere Verfassung hineinzuretten: Bei den Verhandlungen des Parlamentarischen Rats war es nämlich zunächst überhaupt nicht vorgesehen, das Verhältnis von Staat und Kirche im Grundgesetz zu regeln. Es ist ein Treppenwitz der Verfassungsgeschichte, dass die Aufnahme der Kirchenrechtsartikel der WRV eigentlich den Parteien der Rechten, der CDU sowie der katholischen Zentrumspartei und der Deutschen Partei, die beide längst in der CDU aufgegangen sind, zu verdanken ist.

Die wollten nämlich unbedingt die Religion in die Verfassung aufnehmen und beantragten deshalb, zwar den aus der Paulskirchenverfassung und der WRV tradierten Grundsatz beizubehalten, dass keine Staatskirche besteht, zugleich aber wollten sie den Kirchen und Religionsgesellschaften „in ihrer Bedeutung für die Wahrung und Festigung der religiösen und sittlichen Grundlage des menschlichen Lebens“ eine besondere Stellung zubilligen. Die Weltanschauungsgemeinschaften, die in der WRV den Kirchen gleichgestellt worden waren, fehlten in diesem Antrag der rechten Parteien.

Das rief die SPD und die FDP auf den Plan. Sie brachten den Antrag der Rechtsparteien mit knapper Mehrheit zu Fall. Die CDU und ihre Partner schlugen dann ersatzweise vor, die einschlägigen Bestimmungen der Weimarer Verfassung aufrechtzuerhalten, aber mit zwei Bedingungen:

1.
Erstens sollte Artikel 138 Abs. 1 WRV entfallen. Darin ist bestimmt: „Die auf Gesetz, Vertrag oder besonderen Rechtstiteln beruhenden Staatsleistungen an die Religions¬gesellschaften werden durch die Landesgesetzgebung abgelöst. Die Grundsätze hierfür stellt das Reich auf.“

Aber damit war ein entscheidender Schritt auf dem Weg getan, endlich Schluss zu machen mit der hemmungslosen Subventionierung der Großkirchen.

Das war der Versuch, eine ganz wesentliche Vorschrift der WRV wieder zurückzuschrauben. Zwar ist diese Ablösung der Staatsleistungen an die evangelische und die katholische Kirche – wie viele andere gute Vorsätze auch – in der Weimarer Zeit nicht gelungen. Aber damit war ein entscheidender Schritt auf dem Weg getan, endlich Schluss zu machen mit der hemmungslosen Subventionierung der Großkirchen. Denn ein beträchtlicher Teil dieser jährlich hunderte von Millionen Euro umfassenden Zuwendungen geht darauf zurück, dass Anfang des 19. Jahrhunderts bei der Auflösung des alten Kaiserreiches sehr viel Kirchenvermögen an die neuen und alten weltlichen Herrscherhäuser bzw. ihre Staaten ging. Auch der neu gegründete badische Staat von Napoleons Gnaden bzw. sein Großherzog haben damals viel eingesackt. Und seine Erben, die heute noch im damals enteigneten Kloster Salem wohnen, verscherbeln derzeit einiges davon an den Nachfolgestaat Baden-Württemberg.

Für diese Enteignungsmaßnahmen vor 200 Jahren zahlen die Steuerzahler heute noch unermessliche Summen an die früheren Besitzer – das sind die beiden Großkirchen. Dabei gilt in unserer Rechtsordnung doch, dass bei einer Enteignung an den Vorbesitzer eine angemessene Entschädigung zu entrichten ist. Wir tun aber so, als gehörten diese Ländereien und Gebäude den Kirchen immer noch und wir müssten ihnen dafür seit mehr als zweihundert Jahren kräftig Miete zahlen. Das tun wir auch dann noch, wenn die Gebäude längst abgebrochen sind oder ganz anderen Zwecken dienen.

2.
Zum Zweiten versuchte die CDU bei den Beratungen des Parlamentarischen Rats durchzusetzen, dass die am Kriegsende bestehenden Kirchenverträge so lange anerkannt werden, bis sie durch neue, von den Ländern abzuschließende Verträge ersetzt würden. Gemeint waren das Reichskonkordat Hitlers mit dem Vatikan, aber auch das Badische Konkordat von 1932 und der parallele Staatskirchenvertrag mit der Evangelischen Kirche. Auch das hat mit Geld zu tun, mit viel Geld.

Beide Vorhaben der CDU und ihrer rechten Bündnispartner sind gescheitert. Der Parlamentarische Rat beschloss stattdessen, die Kirchenrechtsartikel der WRV mit einer Ausnahme komplett, Wort für Wort ins Grundgesetz aufzunehmen – ohne eine Bezugnahme auf die Konkordate.

Das ist ein wichtiger Schritt gewesen und wir dürfen uns noch heute darüber freuen. Wir feiern es heute. Aber was das Geld angeht, hat sich seitdem nichts geändert. Noch immer ist der fortdauernde Auftrag der WRV unerledigt, die Staatsleistungen an die Kirchen abzulösen.

Ich will sagen, was das für uns hier bedeutet: Das heutige Land Baden-Württemberg hat in seiner Landesverfassung eine Bestimmung eingebaut und sie in den 2007 mit den beiden Großkirchen abgeschlossenen Staatskirchenverträgen noch einmal wiederholt: „Die dauernden Verpflichtungen des Landes zu wiederkehrenden Leistungen an die Kirchen bleiben nach Maßgabe des Artikels 138 der deutschen Verfassung vom 11. August 1919 dem Grunde nach gewährleistet.“

Was das konkret heißt, steht auch in diesen Verträgen, von denen kaum jemand weiß: Das Land zahlt im Jahr 2009 allein „für kirchenregimentliche Zwecke, für Zwecke der Pfarrbesoldung und -versorgung und für andere besondere Rechtstitel“

  • 13.294.200 Euro Staatsleistungen an die Evangelische Landeskirche in Baden;
  • 36.334.400 Euro Staatsleistungen an die Evangelische Landeskirche in Württemberg; sowie „anstelle früher geleisteter Zahlungen für Zwecke des Kirchenregiments, der Pfarrbesoldung und -versorgung sowie anstelle anderer, früher auf Gesetz. Vertrag oder besonderen Rechtstiteln beruhender Zahlungen einen Gesamtzuschuss“ in Höhe von
  • 24.621.500 Euro an die Erzdiözese Freiburg,
  • 24.719.200 Euro an die die Diözese Rottenburg-Stuttgart.

Zusammen sind das fast genau 100 Millionen Euro Staatsgeld an die Kirchen, vorrangig für die Besoldung der amtierenden und der zur Ruhe gesetzten „Gottesdiener“. Alle Steuerzahler, auch alle ohne Religion, müssen dafür blechen.

Übrigens: In den baden-württembergischen Staatskirchenverträgen von 2007 finden sich genau jene Worte des damaligen CDU-Antrags wieder, die 1949 im Parlamentarischen Rat von der Mehrheit abgelehnt wurden: Das alles geschehe „in Anerkennung der Bedeutung der Kirchen für die Bewahrung und Festigung der religiösen und sittlichen Grundlagen des menschlichen Lebens“. Wer mag diese Formulierung da wohl hineingeschmuggelt haben? Wichtiger noch als diese eher ironische Frage ist die sachliche Feststellung: Hier zeigt sich, dass man in Religionsfragen ein gutes, langes Gedächtnis und viel Geduld haben muss.

Und damit sind wir bei des Pudels Kern: Trotz dieser Verfassungsbestimmungen gibt es in Deutschland heute beileibe keine vollständige Trennung von Staat und Kirche. Unsere Verfassung ist immer noch unvollendet. Zwar besteht keine „Staatskirche“ mehr, aber Staat und Religion, vor allem der Staat und die beiden Großkirchen, sind nach wie vor vielfach miteinander verflochten, zum Beispiel durch den Religionsunterricht an öffentlichen Schulen, den Einzug der Kirchensteuer durch den Staat, die Bezahlung der oberen Kirchenbeamten und Bischöfe durch den Steuerzahler oder die staatliche Mit-Finanzierung vieler kirchlicher Gebäude und Einrichtungen.