Humanistische Lebenskunde bundesweit?

POTSDAM. Nach dem Urteil des Brandenburger Landesverfassungsgerichts vom 15. Dezember 2005 (VfGBbg 287/03),

wonach an öffentlichen Schulen weltanschauliche Gemeinschaften gegenüber den Kirchen und anderen religiösen Gemeinschaften nicht diskriminiert werden <dürfen>, hat heute der Brandenburger Landtag im Rahmen der Schulgesetznovellierung – sozusagen im Huckepackverfahren – die Gleichbehandlung von Weltanschauungsgemeinschaften an den Schulen festgeschrieben. Diese dürfen künftig als Alternative zum Religionsunterricht der Kirchen einen weltanschaulichen Unterricht anbieten.

Das Gericht hatte entschieden, dass „Ungleichbehandlungen [...] der für und gegen jede Religion und jede Weltanschauung geltenden staatlichen Neutralität“ widersprechen. „Läßt der Staat Religionsunterricht einfachgesetzlich zu, berechtigt ihn Art. 7 Abs. 3 Satz 1 Grundgesetz nicht, Weltanschauungsgemeinschaften die Erteilung von Weltanschauungsunterricht aufgrund ihrer Eigenschaft als Weltanschauungsgemeinschaft zu versagen.

Mit seiner Entscheidung hat das Gericht klargestellt, dass auch in anderen Bundesländern ein weltanschauliches Unterrichtsfach, wie es die seit 1984 in <Berlin> inzwischen für mehr als 42.000 Schülerinnen und Schüler angebotene Humanistische Lebenskunde ist, gleichberechtigt zum Religionsunterricht der Kirchen und anderer Religionsgemeinschaften angeboten werden kann. Der Humanistische Verband Berlin-Brandenburg (HVBB) erwartet in Kürze die Zulassung des Faches „Humanistische Lebenskunde“, welches seit vielen Jahren in Berlin erfolgreich unterrichtet wird, nun auch für das Land Brandenburg (vgl. dazu <diesseits> Nr. 74,2006, S.9-12). Inzwischen hat der HVBB entsprechende Strukturen geschaffen.


Auch der
HVD-Bundesverband hat heute dazu eine Erklärung abgegeben. Er betont, dass der Brandenburger Landtag den Weg frei macht für ein gleichberechtigtes Angebot des weltanschaulichen Unterrichtsfaches „Humanistische Lebenskunde“ parallel – und damit als Alternative – zum Religionsunterricht an den öffentlichen Schulen Brandenburgs: nicht in Konkurrenz zum Fach LER (Lebensgestaltung – Ethik – Religionskunde).
 

Der HVD sieht sich vom Verfassungsgerichtsurteil in seinem Bestreben bestärkt, die Einführung des Unterrichtsfaches Humanistische Lebenskunde auch in anderen Bundesländern durchzusetzen. So befinden sich derzeit weitere Landesverbände (darunter Bayern, Niedersachsen und Nordrhein-Westfalen) im Prozess der Beantragung. Dem Vernehmen nach bilden sich auch in Regionen, in denen der HVD noch nicht vor Ort ist, Landesgemeinschaften, weil sie das christlich dominierte Ersatzfach Ethik nicht ausreichend für die Wertebildung von Schülerinnen und Schülern finden.

Ob die zuständigen Ministerien diesen Anträgen unmittelbar folgen werden oder erst durch Gerichte dazu veranlasst werden müssen der HVD erwartet eine bundesweite Debatte über die Gleichbehandlung von Weltanschauungsgemeinschaften an öffentlichen Schulen in der freiheitlich-demokratischen Grundordnung. „Wenn es christlichen, demnächst islamischen Religionsunterricht gibt“, so die Haltung des HVD, „dann auch Humanistische Lebenskunde.“

 

Zum Hintergrund: Was ist Humanistische Lebenskunde?


Lebenskunde war zunächst ein schillernder Begriff mit unterschiedlichen Verwendungen. So dass die heutige Humanistische Lebenskunde sich in Distanz zu diversen historischen, biologistischen, sogar völkischen und nationalsozialistischen Verwendungen definiert, auch zum „Lebenskundlichen Unterricht“ in der Bundeswehr. Das Fach selbst wird wegen inhaltlicher Nähe oft verwechselt mit <LER>.

Zwischen 1890 und 1919 wurden unter diesem Begriff im Umfeld des Deutschen Bundes für weltliche Schule und Moralunterricht mehrere Probleme diskutiert: Befreiung der Dissidentenkinder vom Religionsunterricht, Vorbereitungsunterricht auf die Jugendweihe, Ersatzfach für Religionsunterricht), sittliche und / oder staatsbürgerliche Unterweisungen, pädagogische Gesundheitslehre, philosophische Volkskunde und Ratschlagliteratur. Durch die Dominanz freireligiöser und ethischer Vereine im freigeistigen Spektrum vor 1914 wurde dieser Unterricht noch stark als Religionskunde gesehen. Die Didaktik sollte anderen Glauben verstehen und verstandesmäßig erfassen lehren.

Unter dem Einfluss der (weitgehend sozialdemokratischen) Freidenkerbewegung, der Natur-, Sozial- und Kulturwissenschaften und des Marxismus kamen zu Beginn des 20. Jahrhunderts Forderungen nach einem „wissenschaftlichen“ Weltanschauungsunterricht auf. Diese Debatten prägen auch die 1920er Jahre. Eine Verankerung von Lebenskunde in der Weimarer Reichsverfassung misslang. Als „Lebensanschauungsunterricht“ sollte er in „weltlichen Schulen“ („Sammelschulen“ für diejenigen Kinder, die von ihren Eltern aus dem Religionsunterricht nach 1920 in Preußen abgemeldet wurden) als Fach und reformpädagogisches Prinzip gelten. Lebenskunde wurde 1924 in Berlin eigenständiges Lehrfach an Volksschulen.

Doch ist dies eine Ausnahme, wenn es auch in anderen Regionen Deutschlands (z.B. Sachsen) entsprechenden Unterricht und „weltliche Schulen“ gab. Da das versprochene „Reichsschulgesetz“ ausblieb und faktisch die Rechtslage von 1906 galt, wurde Lebenskunde abhängig von den politischen Konstellationen in den Regionen. Die Ende der 1920er Jahre vorhandenen 240 weltlichen Schulen (mit ca. 96 000 Schülern, d.i. 1% aller im Reichsgebiet) sind in wenigen Großstädten konzentriert. Berlin zählte allein 52.

Es sind dies im Wesentlichen diejenigen Regionen, in denen der HVD heute unmittelbaren Zuspruch für sein Fach erhält. Eine erste (und einzige?) Lehrerfortbildung im Fach Lebenskunde wurde 1927/28 an der Diesterweg-Hochschule der Gewerkschaften eingerichtet.

Die Nationalsozialisten verboten den demokratisch gesinnten Lebenskundeunterricht, schlossen die weltlichen Schulen geschlossen und entließen die Lebenskundelehrer. Der Weg vieler in den Widerstand ist belegbar. Die Nationalsozialisten missbrauchten später den Begriff Lebenskunde für ihre menschenverachtende Rassenideologie. Es wurde über „Erbfaktoren“ unterrichtet. Das machte Lebenskunde zum rassistisch-weltanschaulichen Teil des Faches Biologie, v.a. in der Mittelstufe). Forschungen fehlen hier nahezu gänzlich.

Nach dem Krieg, 1953, versuchte ein Arbeitskreis v.a. ehemaliger Lehrer des Faches, Lebenskunde in Berlin wieder einzuführen. Er wollte an die demokratischen Prinzipien von vor 1933 anknüpfen. 1956 arbeitete der spätere Rechtsträger des humanistischen Unterrichts, der Deutsche Freidenkerverband, Sitz Berlin, heute Humanistischer Verband Deutschlands, Landesverband Berlin, einen Lehrplan aus. Im April 1959 fiel die bis heute gültige Entscheidung des Berliner Senats, die Durchführung und Finanzierung des Lebenskunde-Unterrichts nach den (im Prinzip) gleichen Grundsätzen zu regeln wie den Religionsunterricht der Kirchen.

Im Oktober 1959 begann der Unterricht, wurde aber 1963 wegen mangelnder Zahl der Klassen wieder eingestellt. 1980 wurde ein erneuter Antrag gestellt, 1982 ein Schulversuch durchgeführt und 1984 kam endgültige Zulassung. Lebenskunde ist seit 1984 freiwilliges, weltanschauliches und nicht-religiöses Unterrichtsfach des Humanistischen Verbandes Deutschlands in Berlin (2 Wochenstunden in allen Schulstufen). Lebenskunde ist zugelassen auf Basis Art. 4 VII und 140 GG sowie § 23 und § 24 Berliner Schulgesetz. Ein „Ersatzfach“ (Ethik; Philosophie o.ä.) gibt es nicht.

Humanistische Lebenskunde ist heute humanistischer Weltanschauungsunterricht. Er will kein „neutraler“ schulischer Ethik- oder LER-Unterricht und steht nicht in Gegnerschaft, sondern in gleich zu behandelnder, demokratischer Konkurrenz zum Religionsunterricht, den des Islam eingerechnet. Lebenskunde geht davon aus, dass es keinen vorgegebenen Sinn des Lebens gibt, aber Menschen ihrem Leben einen Sinn zu geben vermögen. Dabei sind die Wissenschaften Hilfsmittel, moralisches Handeln zu verstehen und eigene Positionen im Alltag wie in existenziellen Situationen auszubilden.

Der Unterricht stellt die Würde jedes einzelnen Menschen und seinen Wunsch, gut zu leben, in den Mittelpunkt. Er versucht, bei den Kindern Kraft für Toleranz und Solidarität auszuprägen und ihnen zu helfen, jedem Dogmatismus und rel. Fanatismus zu widerstehen.Lebenskunde behandelt Religionen kritisch als von Menschen entwickelte Systeme, ihnen Zuspruch und Hoffnung zu spenden, sie anzuspornen und zu ermutigen, aber ihnen auch mit Strafe zu drohen bzw. auf ein Jenseits zu vertrösten.

Zugleich wird im Lebenskunde-Unterricht auf die Glaubens- und Gewissensfreiheit Wert gelegt, die es anzuerkennen und zu achten gilt. Leitbegriffe der Didaktik sind Vernunft und Gewissen, Standpunktbildung und Wissensvermittlung, Selbstbestimmung und Mitverantwortung, Vertrauen im authentischen Gespräch, Schüler- und Handlungsorientierung und soziales Lernen ohne Zensurendruck.
Gegenstände des Lebenskunde-Unterrichts sind anhand jeweils konkreter Beispiele Lebensfreude und Glück, Phantasie und Realität, Mythen und Geschichte, Umwelt- und Umweltschutz, Gottesvorstellungen und Kulte, ausländischer Nachbar und Multikultur. Gesellschaft, Eifersucht und Trennungsschmerz, Liebe und Sexualität, „oben und unten“ in der Gesellschaft, Gewalt und Menschenrechte u.a.

Die Erfahrungen der Kinder werden, ausgehend von einer humanistisch-wertebewussten Weltanschauung, diskutiert.Die Methoden orientieren sich an Traditionen der Reformpädagogik: sinnliches Begreifen, Projektarbeit, offener Unterricht, „Dialektik von Ergebnis und Prozess, Wechsel der Aktions- und Erarbeitungsformen, das Anerkennen unbewusster“ Dimensionen in der Lehr-Lern-Dynamik sowie sensibler Umgang mit Ängsten, Gefühlen, Wünschen und Hoffnungen.Lernziele sollen nach dem Spiralprinzip erreicht werden.

Sie gruppieren sich um Lernfelder: Individuum im sozialen Umfeld (Werte und Normen anhand familiärer Erfahrungen und eigener Freundschaften, Interessenkonflikte und moralische Dilemmata); Verantwortung der Menschen für Natur und Gesellschaft (Entwicklung und Zukunft des Lebens, die eigene Verantwortung, ökologische Probleme, soziale Gerechtigkeit); Weltdeutungen und Menschenbilder.

(Benutzte Quelle: Lexikon der Religionspädagogik. Hg. von Norbert Mette und Folkert Rickers. Neukirchen-Vluyn: Neukirchner Verlag 2001, Sp. 317-318, 1167-1170, 1481-1483) 

 

Ansprechpartner Humanistische Lebenskunde vor Ort:


Berlin: Werner Schultz, Abteilungsleiter Bildung/Lebenskunde, Tel.: 030.613904-60

Brandenburg: Gerd Wartenberg, Vorsitzender HVBB, Tel.: 0171.4748048

NRW: Mattias Wiedenlübbert: Vizepräsident HVD NRW, Tel.: 0231.527248 oder 02206.8650901

Bayern: Susanne Jahn, Landesvorsitzende, und Michael Bauer, Geschäftsführer, Tel.: 0911.43104-0

Niedersachsen: Jürgen Gerdes, Landessprecher Freie Humanisten Niedersachsen, Tel.: 0511.167691-60


Anmerkung
: Das novellierte
<Schulgesetz> ist ab Mitte der kommenden Woche im Internet unter abrufbar und erscheint Anfang kommenden Jahres als Broschüre.

GG