Ein neues Buch von Horst Groschopp ist vor kurzem im Alibri Verlag erschienen. Der Titel ist "Weltliche Schulen und Lebenskunde". Die Publikation ist Band 8 der Reihe "Humanismusperspektiven". Sie enthält eine umfängliche Dokumentation historischer Quellen und Texte. Der hpd sprach mit dem Autor.
hpd: Herr Groschopp, Ihre Monografie ist eine zusammenfassende Kulturstudie zu den Themen "weltliche Schule" und "Lebenskunde". Der hpd informierte darüber bereits und veröffentlichte einen MIZ-Text, der wiederum die Kurzfassung eines wissenschaftlichen Aufsatzes ist, den Sie im Mai 2020 auf Ihrer Homepage veröffentlichten. Warum ist Ihnen das Thema so wichtig?
Horst Groschopp: Wie eigentlich immer bei meinen Publikationen geht es um die Aktualität kulturhistorischer Vorgänge. Es ist nicht nur das Erinnern an einen konkreten Vorgang, der am 14. Mai 1920 in Berlin-Adlershof begann, als die erste "weltliche Schule" Deutschlands entstand. 1933 gab es 200, die meisten – 75 – im Raum Düsseldorf. Es geht in dem Buch aber nicht nur um deren politische und konzeptionelle Vor- und Nachgeschichte, etwa um ganz aktuelle Streitfragen wie die zu den Ursprüngen eines seit Jahren breit geforderten Ethikunterrichts in der Schule. Sondern es geht auch um das Grundgesetz, in dem im Artikel 7 Absatz 3 eine "bekenntnisfreie Schule" vorkommt, von der es keine einzige gibt.
Warum steht es dann in der Verfassung?
Weil es schon in der Weimarer Reichsverfassung von 1919 stand, dort mit einem klarstellenden Zusatz in einer Klammer, um die Sache eindeutig zu machen: "bekenntnisfreie (weltliche) Schulen". Daran hat sich der spätere hessische Ministerpräsident Zinn in der Schlusssitzung des Parlamentarischen Rates erinnert, als die CDU mit den Kirchen in Sachen Religionsunterricht den Durchmarsch versuchten. Daraufhin wurde der Passus noch hineinformuliert. Heute weiß niemand mehr so richtig, was das meint.
Warum hat seitdem niemand eine solche Schule versucht?
Ob es jemand versucht hat, weiß ich gar nicht. Das hat viele Gründe, hier die wichtigsten: Es gibt eine falsche, aber vorherrschende juristische Argumentation seit den 1920ern, die darunter "Weltanschauungsschulen" versteht. Dann wäre dies Ländersache. Da es jedoch nie zu einem "Reichsschulgesetz" kam und es auch kein "Bundesschulgesetz" gibt, auf das man sich berufen könnte – wo soll man ansetzen? Es könnte sowieso nur dort versucht werden, wo die "Bremer Klausel" nicht gilt. Außerdem müssten genügend Eltern eines Ortes ihre Kinder, und dies wahrscheinlich vor der Einschulung, vom Religionsunterricht abmelden. Die meisten Eltern sehen dies aber als weniger wichtiges Problem gegenüber anderen.
Könnten solche Schulen nicht aus der "säkularen Szene" heraus initiiert werden?
Ich will da niemand bremsen, eher mit einer rhetorischen Gegenfrage antworten: Welche Organisation oder welche Partei hat das Thema "Weltlichkeit des Schulwesens" auf der Agenda?
Wer das Buch liest, wird also in der Vergeblichkeit des Ansinnens bestätigt. Warum sollte ich es trotzdem kaufen?
Ich könnte antworten: Weil aus der Geschichte immer etwas zu lernen ist, will dazu aber etwas Grundsätzliches sagen: Der Kulturhistoriker Wolfgang Schivelbusch hat viele interessante Sachen geschrieben, zur Eisenbahnreise, zu Genussgiften und so weiter, in den letzten Jahren zu den Kulturen des Rückzugs und der Niederlagen. Die Geschichte der "Weltlichkeit des Schulwesens" und diejenige der Alternative "Lebenskunde" zum Religionsunterricht gehört zu den wohl letzten großen, historischen, heroischen Bewegungen der Freidenkerei. Wer über Belebungen nachdenkt, sollte über deren Rückzüge und Niederlagen begründet Bescheid geben können.
Nun wird aber sicher in diesem Jubiläumsjahr viel erinnert werden. Sie wollen sich hier mit Ihrem Buch kritisch einbringen?
So viel sehe ich da gar nicht, jedenfalls außerhalb von Berlin und Brandenburg, wo der Humanistische Verband Deutschland (HVD) löblicherweise einiges auf die Beine stellen will. Aber vielleicht bin ich ungenügend informiert.
Es bieten sich doch sicher in den nächsten Jahren noch viele Gelegenheiten, solche 100-Jahrfeiern zu begehen?
Auch mir ist unbekannt geblieben, wo die letzte "weltliche Schule" entstand, wahrscheinlich nach 1925/1926. Die Aktivisten verlegten sich stärker auf "Lebensgemeinschaftsschulen" und andere Typen "Freier Schulen", darunter Privatschulen. In der Literatur schwanken die Angaben zwischen fünfzig und zweihundert für ganz Deutschland. Es gibt zu wenig regionale Studien, auch, weil die Schüler und Schülerinnen solcher Schulen inzwischen wohl alle verstorben sind.
Wie ist die Literaturlage?
Sie ist zu beiden Sachverhalten – also "weltliche Schule" und "Lebenskunde" – überschaubar und im Buch in einer Bibliografie zu finden. Was Not tut – ich komme auf das oben erwähnte Thema einer Kultur der Niederlage zurück –, ist eine "kritische" Revue. Denn es gibt auch hier eine Art der Geschichtsbetrachtung, die mit verbandsideologischer Motivation behauptet, etwa bezogen auf "Lebenskunde", in dieser Tradition zu stehen.
Haben Sie dafür ein Beispiel?
Einige. Sie werden im Buch nahezu alle behandelt, andere, aber angrenzende, bewusst weggelassen. Zu den Auslassungen gehört das Problem der "Einheitsschule", eines der sozialdemokratischen Hauptziele vor der Revolution 1918/1919 neben der "Weltlichkeit des Schulwesens". Darüber wurde ebenfalls hart gestritten und es setzte hier auch Niederlagen – in den frühen 1920ern, in der frühen Bundesrepublik und in Ostdeutschland nach 1990. Heutige Gemeinschaftsschulen als Fortsetzung der Idee der "Einheitsschule" zu sehen, ist nicht nur Geschichtsglättung, sondern hier wie auch anderswo wird nach dem Bonmot geurteilt: Die DDR hat es nie gegeben.
Nun möchte ich es aber doch gern genauer wissen: Welche Legenden greifen Sie in Ihrem Buch auf und an?
Nun gut, eine mögliche Leserschaft will ja angeregt werden. Da ist schon die Frage das erste Problem: Was ist überhaupt eine "weltliche Schule"? Das ist eine sehr enge Definition und der Begriff selbst war behördentechnisch untersagt. Es ging um "Sammelschulen" (wobei es auch "Sammelklassen" gab) als "Notlösungen" (ein amtlicher Begriff!) und es gab sie letztlich nur in Preußen, weil es hier 1920 ff. noch paar tapfere Sozialdemokraten in der Regierung und in einigen Regierungsbezirken gab, die Einzelgenehmigungen erteilten. Es werden in der Literatur immer wieder Schulen als "weltliche" benannt, die sich selbst so sahen, aber keine waren. So war die berühmte Neuköllner "Karl-Marx-Schule" eine Aufbau- und Versuchsschule.
Gibt es Gründe, solche Legenden zu kultivieren?
Außer der Fortschreibung einzelner zeitbedingter Befunde aus Forschungen der 1970er/1980er Jahre ist einer wohl wesentlich. In Berlin gaben in der Endzeit der Weimarer Republik die Kultursozialisten Kurt Löwenstein und Fritz Karsen, auf die man sich heute wesentlich stützt, den konzeptionellen Ton an. Sie dominierten seit 1929/1930 den "Bund der freien Schulgesellschaften", die Interessenorganisation der "weltlichen Schulen". Dass es im Ruhrgebiet im Westen des Landes Preußen sowie um Magdeburg viele solcher Schulen gab, mit von der Berliner Linie "abweichender" Konzeption, kann heute nicht mehr mit dem Vorwurf konterkariert werden, die seien kommunistisch gewesen. Über Parteieinstellungen wissen wir auch nach meinem Buch noch viel zu wenig, wie auch zur "Lebenskunde" der Freireligiösen. Menschen sind sowieso keine personifizierten Programme.
Es gibt die Legende, die Grundidee der "weltlichen Schule" sei es gewesen, eine Schule ohne Religionsunterricht zu sein, dafür aber "Lebenskunde" zu haben.
Fehlender Religionsunterricht war die verfassungsrechtliche Voraussetzung. Die Schulen aber blieben evangelische oder katholische Bekenntnisschulen, wenn auch ohne Religionsunterricht. Was aber stattdessen unterrichtet wurde, war – von den Inhalten von "Lebenskunde" mal ganz abgesehen – sehr differenziert.
Waren die "weltlichen Schulen" religionslos?
Nein, man wollte nicht als "kulturlos" gelten. Es gibt die ganze Zeit über Debatten, inwiefern "Religion als Kulturgut" Schulstoff sein müsse, Am 22. Dezember 1921 wurden die Fächer "Lebenskunde" und "Allgemeine Religionskunde" (als Unterteilungen des "Moralunterrichts"!) genehmigt, wenn Eltern dies wünschten. Aber was sollte dies sein? Platz für schöpferische Ideen! In allen anderen Fächern unterlagen die "weltlichen Schulen" dem jeweils verbindlichen Lehrplan für Volksschulen. Es handelte sich also um ein staatliches Fach, kein weltanschauliches. Eine Mehrheit im oben genannten Bund sprach sich sogar gegen eine Lebenskunde aus. Man wollte lieber "Staatsbürgerkunde". Andere befürworteten "Soziologie". Alles sehr komplex und deshalb spannend.
… und die heutige Lebenskunde in Berlin-Brandenburg?
… ist, um es zugespitzt, aber formal richtig zu sagen, ein konfessioneller Weltanschauungsunterricht des HVD, anderem Bekenntnisunterricht weitgehend gleichgestellt, so offen der Humanismus als Grundlage auch sein mag. Für die 1920er Jahre habe ich übrigens nur zwei kleine Spuren in Richtung Humanismus gefunden. Einer der Verfechter zielte auf "Humanität" als Erziehungsziel (was der Klassenkampfidee widersprach), der andere meinte den konservativen "dritten Humanismus". Humanismus galt damals in der Arbeiterbewegung als bürgerliche Ideologie. Der Lebenskundeunterricht des HVD ist demzufolge und wegen anderer Lehrinhalte ein historischer Bruch.
Auch in anderen Fragen argumentiert Ihr Buch gegen Interpretationen, die Kontinuität betonen, etwa was die Reformpädagogik betrifft.
Ja, und andere Fragen auch, zum Beispiel die, ob diese Einrichtungen "Dissidentenschulen" waren. Nein, auch hier war das Leben vielfältiger. Die KPD war gegen diese "Isolationsschulen", nannte deren Verfechter gegen Ende hin sogar "Schulfaschisten". Dennoch schickten zahlreiche Kommunisten ihre Kinder in diese Schulen. Nachweislich waren viele Widerstandskämpfer gegen den Nationalsozialismus ehemalige Schüler "weltlicher Schulen". Ihre Verfechter gingen überwiegend in die spätere DDR, wurden SED-Mitglieder, eine sogar Ministerin.
Noch einmal zurück zur "Kontinuitätsbehauptung" der Lebenskunde des HVD, die ja auch im hpd nachlesbar ist. Was haben Sie dagegen?
Gar nichts, ganz im Gegenteil, denn jede Analyse setzt ihre Nachprüfbarkeit voraus. Diese erfolgt am historischen Material. Zur Illustration abschließend eine Episode: Mein Buch dokumentiert erstmals das Drehbuch zur Ausstellung anlässlich 80 Jahre weltliche Schule Adlershof, "Denket selbst.", inklusive der damals gezeigten Quellen plus einiger Fotos. Die Ausstellung besaß 16 Tafeln, davon 15 historische. Die letzte Tafel, die damalige Lebenskunde vorstellend, verantworteten nicht die Historikerkollegen, sondern der HVD selbst. Ich weiß gar nicht, ob es diese 16. Tafel noch gibt. Sie wäre selbst ein historisches Dokument.
Wir bedanken uns für das Gespräch.
Das Interview führte Martin Bauer für den hpd.
Horst Groschopp: Weltliche Schule und Lebenskunde. Dokumente und Texte zur Hundertjahrfeier ihrer praktischen Innovation 1920. Reihe Humanismusperspektiven, Bd. 8. Alibri, 2020. 292 Seiten, Abbildungen, kartoniert, ISBN 978-3-86569-219-, 28,00 Euro