Kapitalismuskritik auf der Chaos-Bühne

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Volksbühne © Thomas Aurin

BERLIN. (hpd) René Pollesch´ Theaterstück „Cinecittà Aperta“ ist verwirrend und aussagekräftig zugleich – Seit Dienstag ist das Stück in Berlin auf der Volksbühne im Prater zu sehen

„Wenn der Humanismus etwas sein soll, was auf der politischen Ebene das Glück herbeiführen soll, dann ist er eben nicht notwendig. Man kann nicht herbeiführen wollen, was es nicht gibt. Es ist vielleicht besser zu funktionieren“, ist auf der Bühne von einem der Schauspieler zu hören – seine Identität kann nicht eindeutig zugeordnet werden. Er und seine Spielkollegen stecken eigentlich gerade mitten in den Dreharbeiten zu dem Film „Deutschland im Jahre Null“, die werden jedoch ständig von solchen philosophisch-kritischen Abschweifungen unterbrochen. Die Dreharbeiten sind Teil des neuen Stücks von René Pollesch - ein Filmset auf der Theaterbühne. „Cinecittà Aperta“ heißt es und ist der zweite Teil seiner Ruhrtrilogie. Am Dienstag hatte es in Berlin auf der Volksbühne im Prater Premiere und wurde dort mit Begeisterung aufgenommen.

Mülheimer Szenen auf der Berliner Bühne

Der Film „Deutschland im Jahre Null“ stammt ursprünglich von Roberto Rossellini, er drehte ihn 1947 im kriegszerstörten Berlin. Im Juni dieses Jahres fand die Uraufführung zu „Cinecittà Aperta“ in Mülheim an der Ruhr statt, und seit dem versucht sich auch der Regisseur Rainer Maria Ferrari in regelmäßigen Abständen auf der Theaterbühne daran. Als Drehort hatte sich der Regisseur eigentlich für Cinecittà, den berühmten Filmstudiokomplex bei Rom entschieden. Die kahle Ackerfläche im Ringlokschuppen Mülheim, auf der die Dreharbeiten aber tatsächlich stattfinden, hat jedoch nur wenig mit der italienischen Filmfabrik gemeinsam. Kein Wunder, dass sich die Schauspieler permanent fragen, ob das wirklich Cinecittà sein kann.

Für die Aufführungen auf der Berliner Bühne fügt Pollesch noch eine weitere Spielebene hinzu: Auf einer Leinwand zeigt ein Film das Schauspielteam bei den Dreharbeiten auf der Mülheimer Bühne. Und er geht wieder eine Ebene zurück, indem er die Schauspieler von der Mülheimer Kulisse auch in persona auf der Bühne in Berlin auftauchen lässt. Es folgt ein Wechselspiel zwischen Leinwand und Bühne – ganz wie man es von Pollesch gewohnt ist.

Experimentelle Gesellschaftskritik

Eine Handlung im eigentlichen Sinne besitzt das Stück nicht und auch die ständigen Rollenwechsel der Schauspieler - samt Wechsel des Geschlechts - sorgen häufig für Verwirrung. Doch Pollesch´ Stücke brauchen keine traditionellen Strukturen, seine Botschaften sind mehr als deutlich. Auf experimentelle Weise bietet er auf der Bühne reichlich Stoff zum Nachdenken. Die Texte sind konfus, aber tiefsinnig und anspruchsvoll. Hinterfragt werden grundlegende Themen zur eigenen Existenz: Brauchen wir für eine Gemeinschaft die Idee eines Gottes oder die des Menschen? Wie funktioniert unsere Gesellschaft, welchen Sinn und Zweck haben wir in ihr, wer bestimmt unsere Wahrheiten? Menschen mit dichotomer Weltanschauung werden für Pollesch´ Stücke wohl kein Verständnis aufbringen können. Man findet Anlehnungen an Darwin, Michel Foucault oder Karl Marx. Wie passend, dass Rainer Maria Ferrari sich als Drehort ausgerechnet für Cinecittà, die Stätte des italienischen Neorealismus entschieden hat!

Die Schauspieler sinnieren über ihr Schicksal beeindruckend energiegeladen und ergriffen: „Die Organismen funktionieren. Das hier und jetzt. Wozu existiert er? Um sich zu reproduzieren? Um sich am Leben zu halten? Nein. Er funktioniert einfach.“ - Man hat das Gefühl, den Wunsch nach Ausbruch auf der Bühne zu spüren. Die Verzweiflung schlägt oft schon fast in Hysterie um. Von Schwermütigkeit ist dabei trotzdem keine Spur. Auch in diesem Stück begeistert Pollesch das Publikum mit viel Witz und Ironie und sorgt so auch für erheiternde Unterhaltung.

 

Der Dramaturg und Regisseur

René Pollesch leitet seit 2001 die Volksbühne am Prater, einer der Nebenspielorte der Volksbühne Berlin am Rosa-Luxemburg-Platz. Er gilt als einer der bedeutendsten Theatermacher der Gegenwart. Für seine Aufführungen erhielt er zahlreiche Preise. Darunter 2001 und 2006 der Mülheimer Dramatiker Preis, die Kritikerumfrage der Zeitschrift „Theater heute“ brachte ihm 2002 für seine Prater-Trilogie die Auszeichnung „Bester deutscher Dramatiker“ ein.

Der dritte Teil der Ruhrtrilogie wird am 14. Juni 2010 in Mülheim an der Ruhr Premiere haben, und auch in Berlin ist im kommenden Jahr eine Freiluft-Aufführung für die Gesamttrilogie geplant.

Sabine H. Vogel