Klassische Verquickung von Kirche und Staat

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Foto © Evelin Frerk

BERLIN. (dfw/hpd) Kritische Reaktionen im Dachverband Freier Weltanschauungsgemeinschaften zum Urteil des Bundesverfassungsgerichts über das Berliner Ladenöffnungsgesetz. Sonntagsschutz kein Grundrecht für Religionsgemeinschaften.

Der Dachverband Freier Weltanschauungsgemeinschaften e.V. (DFW) hat das Urteil des Bundesverfassungsgerichts vom 1.12.2009 über die Verfassungsbeschwerden der Evangelischen Kirche Berlin-Brandenburg-schlesische Oberlausitz (1 BvR 2857/07) und des Erzbistums Berlin der Römisch-Katholischen Kirche (1 BvR 2858/07) kritisch zur Kenntnis genommen. Das Bundesverfassungsgericht hatte dem DFW die Gelegenheit gegeben, sich zu den Verfassungsbeschwerden gegen das Berliner Ladenöffnungsgesetz vom 14.11.2006 zu äußern. Im Kern ging es dabei um Ladenöffnungen an Sonntagen und staatlich anerkannten kirchlichen Feiertagen sowie um deren teilweise Verfassungswidrigkeit aufgrund Art. 4 Abs. 1 und 2 GG und Art. 140 GG i.V.m. Art. 139 WRV.

Der DFW sah keine verfassungswidrigen Regelungen im Berliner Ladenöffnungsgesetz, das nämlich den gegenwärtigen modernen Lebensbedingungen und –gewohnheiten durchaus Rechnung trägt. Die Verfassungsbeschwerden wurden nun auch zum Teil abgelehnt.

Stellungnahme des DFW

In seiner Stellungnahme vom April 2008 nahm der DFW u. a. folgende Positionen ein: „Die Deutungshoheit der christlichen Kirchen über den Sonntag als Tag des Herrn bzw. als Adventssonntag ist verfassungsrechtlich abzulehnen. Ein kirchlicher Feiertag und ein kirchlich bestimmter Sonntag darf nicht aufgrund seiner kirchlichen Prägung und seelischen bzw. geistlichen Motivation ein Zulassungs- oder Ablehnungsgrund für die freie Betätigung des Handels und des individuellen Konsums werden. Im Übrigen ist ein Drittel der deutschen Bevölkerung kirchlich nicht gebunden.“

Der Staat ist Heimstatt aller Staatsbürger (BVerfG. 14.12.1965) und zu weltanschaulicher Neutralität verpflichtet: „Der Staat, in dem Anhänger unterschiedlicher oder gar gegensätzlicher religiöser und weltanschaulicher Überzeugungen zusammenleben, kann die friedliche Koexistenz nur gewährleisten, wenn er selber in Glaubensfragen Neutralität beweist. Er darf den religiösen Frieden nicht von sich aus gefährden. Dieses Gebot findet seine Grundlage nicht nur in Artikel 4(1) GG, sondern auch in Art. 3(3), Art. 33(1), sowie Art. 140 GG in Verbindung mit Art. 136(1) und (4) und Art. 137(1) WRV. Sie verwehrt die Einführung staatskirchlicher Rechtsformen und untersagt die Privilegierung bestimmter Bekenntnisse ebenso wie die Ausgrenzung ‚Andersgläubiger’“.

Der DFW stellte weiter fest: Artikel 4 Abs. 1 und 2 GG regelt Grundrechte des Individuums und keine Rechte, auf die sich gesellschaftliche Gruppen berufen können. Das Ladenöffnungsgesetz Berlins schränkt die verfassungsgemäßen Grundrechte des Individuums nicht ein. Es ist freie Entscheidung des Individuums, sich an Kollektivveranstaltungen zu beteiligen. Die korporative Ausübung der Religionsfreiheit ist kein individuelles Grundrecht, sondern sie wird gewährleistet durch die Versammlungs- und Vereinigungsfreiheit nach Artikel 8 und 9 GG. Diese Artikel werden aus der Sicht des DFW durch das Ladenöffnungsgesetz ebenso wenig verletzt.

Gewiss hebt Artikel 139 WRV die besondere Bedeutung der Arbeitsruhe an Sonn- und Feiertagen in der Regel hervor. Die im Ladenöffnungsgesetz geregelten Ausnahmen bestätigen die Regel und nehmen die heute innerhalb der Europäischen Union üblichen wirtschaftlichen Rahmenbedingungen und das Konsumbedürfnis der Menschen zur Kenntnis, die sich seit 1919 wesentlich verändert haben. Der Berliner Landesgesetzgeber war diesem Anpassungsbedarf nachgekommen.

Daher forderte der DFW in seiner damaligen Stellungnahme: Die Verfassungsbeschwerden der Kirchen sind abzuweisen, da sie in der Substanz und im Grundrechtskanon im Wesentlichen keinen Rechtsbestand haben. Eine kirchliche Deutungshoheit der Sonn- und Feiertage ist abzulehnen. Sonntage und gesetzliche Feiertage mögen als freie Tage grundsätzlich Bestand haben, aber unabhängig von religiösen Begründungen. Ausnahmen sind angemessen zu ermöglichen.

Der DFW übt am Urteil des Bundesverfassungsgerichts vom 1. Dezember 2009 zu den Ladenöffnungszeiten in Berlin aus staatsbürgerlicher Sicht Kritik, da die Evangelische Kirche Berlin-Brandenburg und das Erzbistum Berlin teilweise Recht bekamen und an den Adventssonntagen die Berliner Läden künftig nicht mehr geöffnet sein dürfen. Es entsteht hier der Eindruck, dass die Kirchen nicht befugt sind, solche Beschwerden überhaupt zu erheben, und dass das Bundesverfassungsgericht seine Kompetenz überschritten und praktische Politik, vor allem Wirtschafts- und Kirchenpolitik, betrieben hat.

Sonntagsschutz kein subjektives Grundrecht für Religionsgemeinschaften

Die grundsätzliche Garantie des Sonntagsschutzes ist für den DFW kein Grundrecht, das ein Bürger oder eine Religionsgemeinschaft einklagen könne. Keine Religions- und Weltanschauungsgemeinschaft hat das Recht, ihr subjektives Verständnis von Sonn- und Feiertagsschutz durchzusetzen. Hinzu kommt, dass religiöse Veranstaltungen durch die Berliner Ladenöffnungszeiten gar nicht beeinträchtigt werden.

Der Vizepräsident des DFW, Horst Prem, erklärte dazu: „Das BVerfGE hat mit der Begründung der Entscheidung zum Ladenöffnungsgesetz in Berlin die individuellen Menschenrechte des Artikels 4(1) und (2) im Rahmen des Überwirkens der Schutzgarantie des Artikels 140 GG auch auf die Gültigkeit für Organisationen erweitert. Da der Artikel 139 der Weimarer Reichsverfassung (WRV) von 1919 als Artikel 140 ins GG eingegangen ist, seien die Kirchen durch das Ladenöffnungsgesetz in Berlin in ihren Grundrechten beeinträchtigt.

Die Rechtsauffassungen haben sich zwischenzeitlich weiterentwickelt in Richtung der individuellen Haftbarkeit für die Einhaltung der Menschenrechte, die sogar vor dem Internationalen Strafgerichtshof einklagbar ist.

Für die Einhaltung der Menschenrechte kann nur das Individuum haftbar gemacht werden. Deshalb führt eine Erweiterung der Menschenrechte über den individuellen Bereich hinaus auf Sekundärwerte von Organisationen zwangsläufig zu nicht vertretbaren Unschärfen hinsichtlich der Haftbarkeit. Das auf 25 Seiten begründete Übergreifen von Artikel 140 GG auf die individuellen Grundrechte des Artikels 4(1) und (2) im Rahmen der Entscheidung zum Ladenöffnungsgesetz in Berlin stellt damit eine klassische Verquickung von Kirche und Staat im grundrechtlichen Sinne her, die verfassungsrechtlich unzulässig ist.

Unzulässige Haftungserweiterung auf Sekundärwerte

Das GG von 1949 hat Anpassungsbedarf und das muss auch das BVerfGE berücksichtigen. Gerade im Zeitalter der islamistischen Bedrohung der Menschenrechte hält der DFW die Ausdehnung des Gültigkeitsbereiches der individuellen Menschenrechte auf Sekundärwerte von Organisationen für eine unzulässige Haftungserweiterung und damit Aushöhlung der Menschenrechte.“

Für den DFW-Präsidenten, Dr. Volker Mueller, ist besonders kritikwürdig, dass der Sonn- und Feiertagsschutz - exemplarisch für die Adventssonntage - mit einem christlichen Ursprung begründet wird, obwohl im Grundgesetz nur säkulare Gründe enthalten sind. „Das Gesetz des Berliner Abgeordnetenhauses wurde also auf Grund der Forderungen der beiden christlichen Kirchen teilweise außer Kraft gesetzt, obwohl kein Christ daran gehindert worden wäre, an den Adventssonntagen seine Religion auszuüben. Bei allem Respekt vor dem Bundesverfassungsgericht und vor der Religions- und Weltanschauungsfreiheit ist Widerstand gegen jede Art von Hegemonie des christlichen oder eines anderen Glaubens im öffentlichen Leben geboten. Es sei bedauerlich, dass christlich geprägte Verantwortungsträger bis hin zu hochrangigen Politikern und Verfassungsrichtern in Deutschland den Verfassungsvertrag der Europäischen Union im Hinblick auf die weltanschauliche Neutralität des Staates ignorieren oder unvollständig umsetzen.“

Aber das Bundesverfassungsgericht stellte u.a. – die kirchlichen Beschwerden teilweise klar ablehnend – fest, dass der Berliner Landesgesetzgeber sieht, „… dass er bei dem von ihm verfolgten Konzept einer flächendeckenden Freigabe der Ladenöffnung an Sonn- und Feiertagen … nur eine niedrige jährliche Höchstzahl derart freigabefähiger Sonn- und Feiertage ansetzen durfte, um dem Regel-Ausnahme-Gebot und der verfassungsrechtlich geforderten Sicherung eines Mindestniveaus des Sonn- und Feiertagsschutzes zu genügen. Diese Höchstzahl hat er auf der Grundlage der von ihm gewählten Schutzkonzeption, also insbesondere ohne allgemeine einzelfallbezogene Ausnahmebestimmung …, in nicht zu beanstandender Weise mit acht Sonn- oder Feiertagen angesetzt ….“ (Urteil BVerfGE, S. 54) Nur in der Regelung zur Öffnung der Verkaufstellen an allen vier Adventssonntagen wird eine Verfassungswidrigkeit erklärt.

Diese Auseinandersetzungen um das Berliner Ladenöffnungsgesetz sind ein wichtiges Zeichen für den unzureichenden Entwicklungsstand eines säkularen Staatsbewusstseins in Deutschland und für die Notwendigkeit weiterer Aufklärung.

DFW