Kommentar

Kardinal Marx schenkt uns Zeit

leere_kirche.jpeg

Symbolbild
Symbolbild

In seinem Beitrag "Zum Sonntag", der vom Bayerischen Rundfunk ausgestrahlt wird, referiert Kardinal Marx über den Sonntag und sagt uns, in blumige Worte verpackt, wie wir den Tag zu nutzen haben. Wenn Herr Marx seinen "Schäfchen" die katholische Interpretation des Sonntags erläutert, ist das eine innerkirchliche Angelegenheit und Teil seines Berufes. Da er aber in seinem Vortrag alle Menschen anspricht, mitunter mich als Humanisten, sehe ich mich genötigt, ihm in einigen Punkten eine alternative Sicht entgegenzuhalten.

Herr Marx beschreibt die Bedeutung des Sonntags für Christen und verallgemeinert dann wie folgt: "Deshalb ist auch der Schutz des Sonntags so wichtig. Das ist kein Privileg für gläubige Christen, sondern geschenkte Zeit für die ganze Gesellschaft […]". Von wem das großzügige Geschenk stammt, wird nicht beantwortet. Herr Marx ist Bischof, naheliegend ist, dass er glaubt, es sei ein Geschenk Gottes oder der katholischen Kirche. Was mit Geschenk gemeint sein könnte? Das digitale Wörterbuch der deutschen Sprache sieht darin eine "freiwillige und uneigennützige, eine Gegenleistung ausschließende Übertragung […]."

Die katholische Interpretation des Sonntags erfüllt nicht die Bedingungen dieser Definition. Es wird eine Gegenleistung verlangt, nämlich der Besuch der Messe. Anstatt den Tag frei gestalten zu können, wird erwartet, Gott anzubeten, sich die Predigt anzuhören und dafür auch noch Kirchensteuer zu entrichten. Man könnte fast meinen, dass die Rolle der Schenkenden und Beschenkten vertauscht ist: Die Gläubigen schenken der Kirche ihre freie Zeit, setzen sich einseitigen ideologischen Reden aus (abweichende Meinungen sind in der Messe nicht vorgesehen) und bezahlen auch noch dafür. Es gibt Menschen katholischen Glaubens, die die Messe gerne besuchen; in meiner Kindheit war es jedoch eine ungeliebte Pflicht, der man durch den Druck seitens meines stockkatholischen Heimatdorfes nicht entkommen konnte. Der sonntägliche Messebesuch ist auch nicht optional, wie manche annehmen, sondern verbindlich. Ein Artikel auf domradio.de sagt es unmissverständlich: "Die Sonntagspflicht (auch: Sonntagsgebot) verpflichtet jeden Katholiken, an Sonntagen oder Vorabenden die heilige Messe zu besuchen." Auch von Uneigennützigkeit kann nicht die Rede sein. Durch die regelmäßige Messe werden die Gläubigen – von Kindesbeinen an – mittels Indoktrination an die Kirche gebunden, um so deren Fortbestand zu sichern.

Auch für Angehörige der evangelischen Kirche ist der Sonntag mitnichten frei von Verpflichtungen. Auf ekd.de beruft sich Hermann Barth auf einen schulischen Katechismus von 1833: "Wodurch werden die Feyertage besonders entheiligt? […] Durch leichtsinnige und muthwillige Versäumung der öffentlichen Gottesverehrung; Durch unanständige und unmäßige Vergnügungen." Es wird nur mäßiger Spaß zugelassen und auch erst nach der Gottesverehrung.

Die beiden christlichen Kirchen möchten mit aller Macht die Deutungshoheit über Sonntage, Feiertage und Gedenkveranstaltungen behalten. Sie formulieren dies heute weniger direkt, sondern tun unterschwellig so, als ob es selbstverständlich wäre. Aus humanistischer Sicht kann das hinterfragt werden.

Reinhard Marx teilt seinen Namen mit dem Philosophen Karl Marx, der in Sachen Religion gegensätzliche Auffassungen vertrat. Für ihn war sie "Opium des Volkes", die die Menschen über die realen Verhältnisse hinwegtrösten sollte. Seine theoretischen Überlegungen in praktische Politik umzusetzen, hat nicht immer funktioniert, wie der real existierende Sozialismus in der DDR gezeigt hat. Aber er war auch ein Vordenker der Arbeiterbewegung, aus der die Gewerkschaften hervorgegangen sind. Sie haben beginnend in den 50er Jahren nach und nach in allen Branchen die 5-Tage-Woche erkämpft und auch mindestens 25 Urlaubstage durchgesetzt.

Nicht kirchlich gebundene Menschen können sich über zwei arbeitsfreie Tage in der Woche freuen, katholische und evangelische Menschen haben nur einen Tag zur freien Verfügung – und den haben sie eher Karl Marx als Kardinal Marx zu verdanken.

Schön wären noch mehr freie Tage. Aber ein Land kann nicht einfach beliebig viele freie Tage festlegen; diese müssen durch die wirtschaftliche Leistung, das BIP, ermöglicht werden. Vereinfacht gesagt, jeder arbeitsfreie Tag kostet Geld, das aber weder von den Kirchen noch von den Gewerkschaften aufgebracht wird. Im Gegenteil, sowohl die Kirchen als auch die Gewerkschaften werden für ihre Arbeit bezahlt. Insbesondere die Kirchen geben das Geld von anderen aus, wollen aber für sich zu einhundert Prozent die moralische Dividende einfahren.

Weder Herr Marx noch Herr Marx haben uns Zeit geschenkt. Wir – die arbeitenden Menschen in Deutschland – haben uns die arbeitsfreien Tage mühsam erarbeitet, wir dürfen darüber nach Belieben verfügen, es ist ein Geschenk an uns selbst.

Unterstützen Sie uns bei Steady!