Freier Wille, Rache und Vergebung
Unterstellen wir einmal, dass AM eigentlich meinte, dass der Glaube an den freien Willen nicht zur Legitimation „primitiver Instinkte“ tauge (obwohl er im Text das Gegenteil schrieb). Auf diese Weise könnte man eventuell auch seinen oben zitierten, kryptischen Kommentar zu Wolf Singer erklären: „Nehmen wir an, dass Menschen das wollen können, was sie wollen. Warum sollten wir sie nun härter bestrafen, als wenn dem nicht so wäre? Diese Logik ist doch von Anfang an schon fehlerhaft.“ AM gibt an dieser Stelle nicht an, was an Singers Logik fehlerhaft sein soll. Berücksichtigt man allerdings, was AM im zweiten und vor allem im dritten Teil der Artikel-Serie über „Konsequentialismus“ schreibt, so könnte man folgende Argumentation rekonstruieren: (Straf-) Sanktionen sollten nicht das Rachebedürfnis befriedigen, sondern der Prävention unerwünschten Verhaltens dienen. Deshalb sollte es für unsere Beurteilung und Sanktionierung unerwünschten Verhaltens irrelevant sein, welche konkreten Faktoren (etwa ein Hirntumor, schreckliche Kindheitserfahrungen oder ein fälschlicherweise unterstellter „freier Wille“) als ursächlich für die Entstehung dieses Verhaltens angenommen werden.
Zunächst muss man hier feststellen, dass AMs Argumentation für ein Präventiv- und gegen ein Vergeltungsstrafrecht völlig kompatibel ist mit dem Ansatz von Wolf Singer sowie mit meinen eigenen Darlegungen (siehe insbesondere das Kapitel „Gerächt ist nicht gerecht!“, JvGuB, S. 278ff.). Warum aber meinen wir im Unterschied zu Andreas Müller, dass der Abschied von der Willensfreiheitsideologie sehr wohl hilfreich wäre, um die letzten Reste eines Vergeltungsstrafrechts hinter uns zu lassen? Antwort: Weil die Unterstellung, dass sich ein Täter dank seines „freien Willens“ in einer bestimmten Situation auch anders hätte entscheiden können („Prinzip der alternativen Möglichkeiten“), im emotional-kognitiven Verarbeitungsprozess eines Individuums den Wunsch nach Vergeltung stärkt – beziehungsweise umgekehrt, weil die Unterstellung, dass ein Täter unter den gegebenen Bedingungen nur so handeln konnte, wie er unter diesen Voraussetzungen handeln musste, den Wunsch nach Rache abmildert.
Der psychologische Mechanismus, der diesem Zusammenhang zugrunde liegt, lässt sich folgendermaßen skizzieren: Wenn wir behaupten, dass sich Person A „frei“ (im Sinne von ursachenfrei) zu einer Schreckenstat entschloss, so führen wir einen nicht-berechenbaren Faktor X ein, der verhindert, dass wir die Ursachen, die zu der Tat führten, je nachvollziehen könnten. Diese angebliche Nichtnachvollziehbarkeit der Tat wird innerpsychisch (ohne, dass dies vielen Menschen bewusst wäre) dazu genutzt, um die Haltung zu legitimieren, dass wir uns gar nicht erst in die Lage des Täters hineinversetzen bräuchten. Die Willensfreiheitsunterstellung hat also innerpsychisch vor allem die Funktion einer Empathiebremse! Wir unterstellen dem anderen, dass er sich aus freien Stücken für „das Böse“ entschieden habe, damit wir aus vermeintlich guten Gründen „böse“ (im Sinne von „wütend“) auf ihn sein können.
Diese Gründe sind aber nur solange psychologisch „gut“, solange wir uns nicht die Mühe machen, das komplexe Ursachengeflecht zu verstehen, welches den Täter zu seiner Tat trieb. Würden wir uns dieser empathischen Mühe jedoch unterziehen, so würden wir sehr schnell feststellen, dass wir selbst unter vergleichbaren Umständen auch zu vergleichbaren Schandtaten fähig gewesen wären, dass wir es also letztlich nur einem günstigen Strom von Ursachenfaktoren zu verdanken haben, dass wir nicht selbst auf der Anklagebank gelandet sind.
Mit anderen Worten: Wenn wir die (durch die Willensfreiheitsunterstellung angezogene) Empathiebremse lockern, so werden wir in die Lage versetzt, den anderen zu verstehen und uns selbst in ihm zu erkennen, was unseren Rachedurst deutlich abmildert. Dies ist auch der Grund dafür, warum in jedem Vergebungstraining das empathische Einfühlen in den Täter, das Nachvollziehen der Gründe und Ursachen, die die Tat bewirkten, von fundamentaler Bedeutung ist! Um diesen psychologischen Sachverhalt zu verstehen, bedarf es keiner ausgefeilten, psychologischen Theoriemodelle. Er ist (normalerweise!) intuitiv einsichtig, was sich nicht zuletzt in den vielen, volksnahen Redewendungen widerspiegelt, die diesen Sachverhalt verarbeiten, etwa dem bekannten Sinnspruch der Sioux-Indianer: „Urteile nie über einen anderen Menschen, bevor du nicht zwei Wochen lang in seinen Mokassins gelaufen bist!“
Wie kann es also sein, dass Wolf Singer einerseits den hier skizzierten, psychologischen Sachverhalt als intuitiv einsichtig voraussetzt, während Andreas Müller ihn andererseits mit der gleichen Selbstverständlichkeit (d.h. ebenfalls ohne weitere Begründung!) als „unlogisch“ abweist? Ich fühlte mich in diesem Zusammenhang wieder einmal an „Raumschiff Enterprise“ erinnert – und zwar an die amüsanten Situationen, in denen Mr. Data bzw. sein „Vorgänger“ Mr. Spock, die „fehlende Logik“ menschlicher Gefühle bemängelten. Zwar dürfen wir mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit davon ausgehen, dass Andreas Müller weder ein (weitgehend gefühlloser) Androide wie Data noch ein (Emotionen erfolgreich unterdrückender) Vulkanier wie Spock ist, doch ganz offensichtlich teilt er mit diesen beiden faszinierenden Star-Trek-Charakteren ein gewisses Unverständnis gegenüber der Dynamik innerpsychischer Verarbeitungsprozesse! Innerhalb seines eliminatorisch-reduktionistischen Denkansatzes ist dies, wie gesagt, auch durchaus konsistent: Denn wenn die von außen „unsichtbaren“ inneren Zustände von Individuen tatsächlich keinen Einfluss auf die Welt haben sollten, so wäre es in der Tat „unlogisch“, derartigen Zuständen in der Analyse besonderes Gewicht beizumessen.
Freier Wille, Schuld und Reue
Das hier zum Ausdruck kommende fehlende Verständnis gegenüber den in uns Subjekten wirksamen emotional-kognitiven Verarbeitungsprozessen schlägt sich auch in AMs abschließenden Anmerkungen zum „Konsequentialismus“ nieder. So schreibt er zu der von mir vorgenommenen Unterscheidung von Schuld- und Reuegefühlen: „Schuld bedeutet eine moralische Verurteilung, Reue ist die Einsicht in einen Fehler, um in Zukunft diesen nicht zu wiederholen (vgl. S. 215). Ob wir uns schuldig fühlen oder unsere Tat bereuen, folgt beides notwendig aus bestimmten Ursachen. Aus dieser Tatsachenfeststellung kann man aber nichts ableiten, schon gar keine eine Beurteilung, ob denn nun Schuld oder Reue besser wäre. Die sind einfach da, wenn sie da sein müssen.“
Zunächst einmal referiert Andreas Müller hier durchaus korrekt den von mir hervorgehobenen Unterschied zwischen Schuld und Reue und verweist auf den (spätestens seit Max Weber) hinreichend bekannten Unterschied von Tatsachenfeststellungen und Werturteilen (auf den ich in fast jeder meiner philosophischen Publikationen aufmerksam mache). Wo also besteht die Differenz? Er besteht in dem unscheinbaren (aber sehr bedeutungsvollen!) Sätzchen „Die [Schuld oder Reue] sind einfach da, wenn sie da sein müssen.“
Denn in AMs reduktionistischem Weltbild sind allein die physikalischen Grundkräfte (Gravitation, starke, schwache, elektromagnetische Wechselwirkung) dafür verantwortlich, ob ein Individuum Schuld- oder Reuegefühle empfindet. Viel mehr kann er innerhalb seiner eigenen Prämissen über das Auftreten von Schuld- oder Reuegefühlen nicht aussagen! In dem von mir vorgeschlagenen Modell jedoch haben kulturelle Konzepte tatsächliche Bedeutung. Und so ist das Faktum, das ein Mensch Schuld- oder Reuegefühle empfindet, keineswegs bloß auf Gravitation und physikalische Wechselwirkungsprozesse zurückzuführen (ein reichlich absurder Gedanke!), sondern vor allem auf die Wirkmacht innerer Verarbeitungsprozesse! Geht ein Individuum (fälschlicherweise) davon aus, dass es sich unter den gegebenen Bedingungen anders hätte verhalten können, als es sich verhalten hat, werden sich aus dieser Denkannahme moralische Schuldgefühle ergeben. Unterlässt das Individuum derartige Unterstellungen, so wird es sich selbst für die erfolgten ethischen Fehlhandlungen nicht moralisch verurteilen, diese aber sehr wohl bereuen und danach trachten, den entstandenen Schaden (sofern möglich) wieder gut zu machen.
Interessanterweise meint Andreas Müller in seinen weiteren Darlegungen (hier wieder analog zu meinen Ausführungen in JvGuB!), dass Reuegefühle sowohl für das Individuum als auch für die Gesellschaft fruchtbarer seien als Schuldgefühle. Aber allem Anschein nach geht er davon aus, dass schon allein die Beherzigung der (konsequentialistischen) Maxime „Empfinde lieber Reue statt Schuld, damit es dir und allen anderen besser geht!“ ausreiche, um reale Schuldgefühle zu überwinden. In Wahrheit funktioniert dies aber ganz sicher nicht mithilfe eines solchen, einfachen Programmierbefehls (nur Data könnte mit einem „Suche Schuld und ersetze durch Reue“-Skript die eigene Matrix verändern).
Für die Überwindung von Schuldgefühlen müssen wir Menschen uns weit mehr ins Zeug legen. Vor allem müssen wir die komplexen innerpsychischen Muster dekonstruieren, auf denen unsere Schuldgefühle beruhen! Und dies ist selbst für diejenigen schwer, die den prinzipiellen Zusammenhang von Willensfreiheitsunterstellung und Schuldgefühlen verstanden haben! Denn ein bloß theoretisches Verständnis eines Zusammenhangs ist noch lange keine Garantie dafür, dass man ihn auch im eigenen Leben beherzigen kann! Wer die psychotoxischen Wirkungen des Konzepts „Schuld“ überwinden möchte, der sollte sich also auf einen langwierigen Prozess des Auffindens und Dekonstruierens eigener emotionaler und kognitiver Zuschreibungen einstellen…