Dürfen wir unsere Kinder loben?
Da Andreas Müller solche qualitativen, inneren Verarbeitungsprozesse suspekt sind, verwundert es nicht, dass er die eigentliche Pointe meiner Darlegungen im 2. Teil von „Jenseits von Gut und Böse“ nicht versteht! Er meint nämlich, dass ich nur die „Rosinen“ herauspicken würde, die sich in meinem Willensunfreiheits-Kuchen befänden. All die negativen Folgen würde ich jedoch glatt übersehen! Denn wenn es keinen Grund für Rache und Schuld gäbe, dann sollte es doch eigentlich auch keinen Grund mehr dafür geben, beispielsweise unsere Kinder für gute Noten zu loben! Und das sei, so AM, doch nun wirklich ein Verlust!
Was ist von diesem Argument zu halten? Nun, zunächst einmal loben wir unsere Kinder nicht nur, weil wir hoffen (wie AM in klassisch-behavioristischer Weise ausführt), dass sie dies „anspornen wird, sich weiterhin zu bemühen“, sondern auch, weil wir empathische Wesen sind. Das heißt: Wir freuen uns nicht bloß über unseren eigenen Erfolg, sondern auch über die Erfolge derer, die wir als Menschen wertschätzen (und zu diesem Kreis sollten die eigenen Kinder im Normalfall dazugehören!). Warum, so müssen wir uns fragen, sollte diese Freude dadurch aufgehoben werden, dass wir wissen, dass es zwingende Ursachen dafür gab, dass unsere Kinder mit guten statt mit schlechten Noten nach Hause kamen? Der Abschied von der Willensfreiheitsunterstellung verhindert doch nicht, dass wir Erfolge als Erfolge und Niederlagen als Niederlagen wahrnehmen, er verhindert bloß, dass wir die Ursachen von Erfolg und Niederlage falsch zuschreiben!
Wir können uns unter nach dem Abschied von der Willensfreiheit in der Tat nicht mehr einbilden, „unbewegte Beweger“ zu sein, die losgelöst von Ursachen Erfolge erringen oder Niederlagen erleiden. Durch diese veränderte kognitiv-emotionale Zuschreibung verlieren wir gewiss nicht die Fähigkeit, uns über Erfolge zu freuen oder Niederlagen zu bedauern! Aufgehoben werden hierdurch ganz andere emotionale Reaktionen, die bei den meisten Menschen allerdings unweigerlich mit dem Erleben von Erfolg und Niederlage verknüpft sind, nämlich Stolz- und Minderwertigkeitsgefühle.
Ich habe im zweiten Teil von JvGuB ausführlich beschrieben, dass Stolz- und Minderwertigkeitsgefühle nicht bloß auf falschen Denkvoraussetzungen beruhen, sondern auch vielfältige negative Folgen sowohl für das Individuum als auch für die Gesellschaft haben. Eigentlich sollte daher niemand dem Verlust von Stolz- und Minderwertigkeitsgefühlen nachtrauern! Im Gegenteil! Nur wenn man diese Gefühle hinter sich lässt, hat man die Chance, sich dem psychotoxischen Diktat der „Anerkennungs-Abwertungs-Zuschreibung“ zu entziehen (siehe hierzu auch Alfred Binder: Mythos Zen. Alibri 2009) und somit jene „Leichtigkeit des Seins“ erfahren, die ich in JvGuB beschrieben habe. Das vermeintliche Manko, das Andreas Müller entdeckt zu haben glaubte, ist also in Wirklichkeit eine der prächtigsten Rosinen, die man sich aus dem Willensunfreiheits-Kuchen überhaupt herauspicken kann!
Eine zusätzliche Pointe der Geschichte besteht hier übrigens darin, dass man aus einer von außen beobachtbaren Gemeinsamkeit (Vater A lobt seine Kinder / Vater B lobt seine Kinder) nur sehr schwer beurteilen kann, welche inneren Zuschreibungen die beiden Väter vornehmen, d.h. welche Bedeutung sie ihrer Handlung subjektiv beimessen. Der megastolze Vater A könnte sich durch die guten Noten seiner Kinder darin bestätigt sehen, dass nicht nur er selbst ein „absolut fantastischer Typ“ ist, der es mit seinem „eigenen freien Willen“ von ganz alleine „zu etwas gebracht hat“, sondern dass sich diese „großartigen Eigenschaften“ auch in seinen „absolut fantastischen Kindern“ widerspiegeln, die aus „freien Stücken“ all den „gnadenlosen Versagern“ endlich gezeigt haben, wo es lang geht! Der weltanschaulich bescheidenere Vater B hingegen könnte mit seinem Lob bloß demonstrieren wollen, wie sehr er sich mit seinen Kinder freut, wobei er weder sich noch seine Kinder als etwas „Besseres“ in Relation zu anderen begreift, sondern einfach nur „dankbar“ ist, dass ein günstiger Strom von Ereignissen dazu führte, dass seine Kinder gesund und intelligent genug sind, erfolgreich ihren eigenen Weg im Leben zu gehen.
Frage: Bei welchem dieser beiden idealtypischen Väter würden Sie auf Anhieb lieber zu Abend essen? Andreas Müller, der sich für „innere Zustände“ nicht sonderlich interessiert, dürfte dies einigermaßen egal sein. Meine Wahl jedoch fiele eindeutig auf Vater B – es sei denn, ich hätte Lust, mich mal wieder richtig ordentlich mit jemandem zu streiten…
Was wir schon mehrfach gesehen haben, zeigt sich also auch hier: Der eliminatorische Reduktionismus, dem Andreas Müller folgt, definiert letztlich Unterschiede weg, die sehr wohl Unterschiede machen. Aus diesem Grund halte ich den eliminatorischen Reduktionismus auch keineswegs für eine fruchtbare wissenschaftliche Hypothese, sondern bloß für eine letztlich irrelevante, metaphysische Spekulation, die zwar im Einklang mit naturalistischen Grundannahmen steht, aber bei genauerer Betrachtung weit mehr theoretische Probleme erzeugt, als sie zu lösen vermag.