Die Legitimation „primitiver Instinkte“
Im ersten Moment könnte man meinen, dass das Willensfreiheitsproblem mit drei einfachen Sätzen aus der Welt geschafft werden könnte: Erstens: Etwas, das real nicht existiert, kann keine realen Folgen im Universum haben. Zweitens: Ein ursachenfreier Wille kann in einer von Ursachen bestimmten Welt nicht existieren. Drittens (Schlussfolgerung): Ein ursachenfreier Wille hat keine Wirkungen in der Welt.
Erst auf den zweiten Blick erkennt man, dass mit dieser Feststellung keineswegs das Wesentliche zur Willensfreiheitsfrage gesagt ist: Denn der real existierende Glaube an real nicht Existierendes ist, wie wir wissen, sehr wohl mit realen Konsequenzen verbunden! (Man denke etwa an die Wirkungen des Hexenglaubens oder des medizinischen Placebo-Effekts!) Andreas Müller stimmt diesem (in der Sozialpsychologie als „Thomas-Theorem“ bekannten) Zusammenhang erfreulicherweise zu. Allerdings tut er dies nur in Bezug auf den Glauben an Gott und Teufel, Himmel und Hölle, Gut und Böse. In Hinblick auf den Glauben an die Willensfreiheit meint er, dass dieser seltsamerweise ohne jegliche Folgen für unser Leben bleibe (zumindest, sofern man Willensfreiheit nicht mit Fatalismus verwechsle).
Wie begründet AM seine These von der lebenspraktischen Folgenlosigkeit der Willensfreiheitsunterstellung? Ich muss gestehen, dass ich Schwierigkeiten hatte, in seinem Text eine derartige Begründung überhaupt zu finden! Immerhin: Im ersten Teil seiner Serie wendet er sich dezidiert dem angeblich fehlenden Zusammenhang von Willensfreiheitsunterstellung und Rachegefühlen zu. Ich zitiere die entsprechende Passage vollständig, damit wir die eigentümliche Struktur von AMs „Argumentation“ nachvollziehen können:
>> Eine Bestrafung von Tätern aus bloßer Rache kann sowieso nicht legitimiert werden – gleichgültig, wie man zur Willensfreiheit steht. Rache hat gar nichts zu tun mit der Frage nach der Willensfreiheit. Hier wurden zwei voneinander unabhängige Fragen zu einer Einheit vermengt. Das Gleiche gilt für die angeblichen Konsequenzen der Willensunfreiheit für die Bestrafung von Kriminellen. Wolf Singer sagt dazu: „Und wenn sie zu gefährlich sind, werden wir sie weiterhin ihrer Freiheit berauben, um uns vor ihnen zu schützen. Aber ich denke, wir werden etwas nachsichtiger werden und in vielen Verbrechern das Opfer einer ungünstigen Konstellation von Genen, Entwicklungsfehlern, frühen Prägungen und so weiter sehen.“ Inwiefern sollte aus der Willensfreiheit folgen, dass wir Kriminelle hart bestrafen müssen? Nehmen wir an, dass Menschen das wollen können, was sie wollen. Warum sollten wir sie nun härter bestrafen, als wenn dem nicht so wäre? Diese Logik ist doch von Anfang an schon fehlerhaft.
Der wirkliche Grund, warum Menschen die Bestrafung eines Täters aus Rache befürworten, oder eine unverhältnismäßig harte Bestrafung fordern, ist nicht ihr Glaube an den freien Willen des Täters, ihre Meinung, er hätte auch anders handeln können. Ihr tatsächlicher Grund lautet einfach, dass sie sich gut dabei fühlen, wenn ein Täter hart bestraft wird. Das tun sie, weil sich Vergeltung zur Regulierung des Sozialverhaltens von Tieren evolutionär durchgesetzt hat und sie damit zu unserer Programmierung gehört. Vergeltung diente der Abwehr unerwünschten Verhaltens und ein vages Verlangen danach gehört zu unseren ererbten Verhaltenstendenzen. Der freie Wille ist den Leuten im Grunde egal, er dient nur zur Legitimierung eines primitiven Instinktes, was eine neue Studie erwartungsgemäß bestätigt. Gewiss: Unser Rache-Instinkt ist viel zu grobschlächtig und muss durch die Vernunft gezähmt werden. Aber, wie schon gesagt, hat dieser Umstand rein gar nichts mit der Willensfreiheit zu tun. <<
Auffällig an dieser Passage ist, dass Andreas Müller mantraartig sein eigenes Credo wiederholt („Rache hat gar nichts zu tun mit der Frage nach der Willensfreiheit“ / „Diese Logik ist doch von Anfang an schon fehlerhaft“ / Aber, wie schon gesagt, hat dieser Umstand rein gar nichts mit der Willensfreiheit zu tun“), aber außergewöhnlich wenig Platz darauf verwendet, die Gründe aufzuzeigen, die sein Credo belegen könnten. Wir erfahren bloß, dass sich Menschen (AM zufolge) einfach „gut dabei fühlen, wenn ein Täter hart bestraft wird“, was der Autor darauf zurückführt, dass sich „Vergeltung zur Regulierung des Sozialverhaltens von Tieren evolutionär durchgesetzt hat und sie damit zu unserer Programmierung gehört.“ Nun sollte an dem evolutionären Ursprung unserer Rache- und Vergeltungswünsche niemand zweifeln (siehe hierzu auch meine Schilderung des „Kriegs der Schimpansen“ in JvGuB, S. 44ff.) – doch warum sollte dies ein Argument dafür sein, dass die Willensfreiheitsunterstellung in diesem Zusammenhang bedeutungslos ist?
Erst jetzt holt AM zu seinem vermeintlich „finalen Schlag“ aus – und der nachfolgende Satz enthält in der Tat das einzige Argument, das der Autor im gesamten Kapitel zur Stützung seiner These vorbringt: „Der freie Wille ist den Leuten im Grunde egal, er dient nur zur Legitimierung eines primitiven Instinktes, was eine neue Studie erwartungsgemäß bestätigt.“
Fragen wir uns: Ist AMs Behauptung, dass die Willensfreiheitsunterstellung „nur zur Legitimation eines primitiven Instinktes“ diene, ein guter Beleg für die These, dass diese Unterstellung folgenlos sei? Nun, davon könnte man logischerweise nur dann ausgehen, wenn die Legitimation „primitiver Instinkte“ keine Folgen hätte! Doch das ist ganz gewiss nicht der Fall! Nehmen wir als Beispiel die blutigen Rache-Vergeltungsaktionen unter den Yanomami-Indianern (siehe u.a. Schmidt-Salomon, Voland: Die Entzauberung des Bösen. In: Franz Josef Wetz (Hg.): Kolleg Praktische Philosophie, Bd. 1, S.111ff.): Selbstverständlich ist die kulturelle Rechtfertigung der Blutrache bei den Yanomami ein wesentlicher Grund dafür, dass derartige Verhaltensweisen bei ihnen signifikant häufiger auftreten als in Kulturen, die (wie unsere) Blutrache eben nicht legitimieren! (Bei den Yanomami werden diejenigen, die Blutrache begehen, mit sozialen Statusvorteilen belohnt, bei uns hingegen mit hohen Gefängnisstrafen bedroht!)
Man erkennt hieran (hoffentlich!) den von mir beschriebenen Mechanismus der Makrodetermination: Kulturelle Systeme (etwa die Stammesideologien der Yanomami) haben natürlich keinen direkten Einfluss auf die Funktionsweise biologischer Systeme (etwa darauf, dass Wutreaktionen durch Adrenalinausschüttungen ausgelöst werden), aber sie haben sehr wohl einen Einfluss darauf, wie häufig solche biologischen Prozesse auftreten!
Für die Wirksamkeit theoretischer Rechtfertigungen „primitiver Instinkte“ gibt es viele weitere Beispiele: Wäre die kulturelle Legitimation von Fremdenhass nicht damit verbunden, dass die uns biologisch mitgegebene Bereitschaft zur Xenophobie sich häufiger in fremdenfeindlichen Handlungen manifestieren würde, so müssten wir uns gegen „rechte Schreibtischtäter“ nicht zur Wehr setzen! Wir müssten unter dieser Voraussetzung auch nicht die kulturelle Legitimation von Sklaverei, Unterdrückung, Mord usw. problematisieren. Schließlich greifen all diese menschlichen Verhaltensweisen auf biologisch evolvierte Verhaltensprogramme zurück! Wäre die kulturelle Legitimation dieser Verhaltensprogramme tatsächlich so bedeutungslos, wie AM meint, könnten wir uns unsere Kritik an derartigen kulturellen Rechtfertigungen komplett sparen!
Je genauer wir hinschauen, desto deutlicher wird, dass sich die gesamte ethische Debatte letztlich um nichts anderes dreht als um die Frage der Legitimation „primitiver Instinkte“! Doch Vorsicht: Beim Worte „primitive Instinkte“ denken wir in der Regel an Fremdenhass, Wut- und Rachegefühle, in Wahrheit aber sind Liebe, Empathie und die Fähigkeit zu einem altruistischen Miteinander nicht minder stark biologisch in uns verankert! Es gibt also keinen vernünftigen Grund dafür, die vermeintlich „schlechte Natur“ gegen die vermeintlich „gute Kultur“ auszuspielen. Kultur und Natur sind vielmehr unaufhebbar miteinander verwoben (nämlich dank Mikro- und Makrodetermination) und deshalb müssen ethische Ratschläge notwendigerweise an biologische Programmen andocken (also in gewisser Weise „Legitimationen primitiver Instinkte“ sein!), wenn sie denn irgendeinen realen Einfluss auf menschliche Handlungen haben sollen!
Halten wir fest: Um die Folgenlosigkeit der Willensfreiheitsunterstellung belegen zu können, hätte Andreas Müller keinesfalls schreiben dürfen, dass diese Unterstellung nur der Legitimation primitiver Instinkte diene (genau dies ist ja die Form, in der kulturelle Argumente reale Wirkung in der Welt entfalten!), er hätte vielmehr umgekehrt formulieren müssen, dass der Glaube an den freien Willen eben nicht zur Legitimation primitiver Instinkte tauge!