Wenn Anstöße zum eigenen Denken gelingen

Schulz-Paul-Foto-E.F..jpg

Dr. Paul Schulz / Foto: Evelin Frerk

BAYREUTH. (akptks/hpd) Dr. Paul Schulz, 1937 in Hamburg geboren, studierte in Hamburg, Erlangen und Heidelberg evangelische Theologie. Von 1970-1979 war er Pastor an der Hauptkirche St. Jacobi in Hamburg. Mit seinen glaubenskritischen Thesen wurde er als „Hamburger Kirchenrebell“ und als "Ketzerpastor Paul Schulz" bekannt. Ein Interview anlässlich der Dritten Bayreuther Debatte: „Leben wir ohne Religionen besser?“

Die Kirche verhängte über ihn ein "Lehrzuchtverfahren" - der erste Ketzerprozess der evangelischen Kirche in Deutschland. Nach fünf Jahren "Glaubensverhandlungen" durch verschiedene Instanzen um zentrale Fragen der evangelisch-lutherischen Bekenntnisse verlor er den Prozess. Er wurde 1979 seines geistlichen Amtes enthoben und verlor gleichzeitig alle Beamten- und Versorgungsrechte.

Herr Dr. Schulz, Sie waren Pastor, sind heute bekennender Atheist und haben 1972 harsche Kritik an fundamentalen Aussagen der christlichen Kirche geübt. Was genau haben Sie damals kritisiert?

Ich habe als ganz junger Theologe und Pastor meiner Gemeinde und nachfolgend in einem mehrseitigen Interview mit einer Hamburger Zeitung gesagt, dass es Gott so, wie es in der Bibel steht, nicht gibt. Diese Feststellung hat Aufsehen erregt, denn sie hatte natürlich verneinende Denkfolgen für die christliche Verkündigung von "Jesus ist Gottes Sohn" bis hin zur "Auferstehung und ewiges Leben". In der Bild-Zeitung stand danach als Schlagzeile auf der ersten Seite „Hamburger Pastor glaubt nicht an Gott.“ Ausgangspunkt meiner Gottes-Kritik damals war eine Konfrontation des naturwissenschaftlichen Denkens mit dem Gottesbild der Bibel. Kybernetik und Menschenbild, Biochemie, Astrophysik, die gesamte Evolutionstheorie waren und sind mit dem Gottes- und Weltbild der Bibel nicht vereinbar.

Wie reagierte die Gemeinde?

Das eigentlich Sensationelle war damals die Tastsache, den Gott der Bibel überhaupt kontrovers zu diskutieren. Meine große Gemeinde und darüber hinaus zum Beispiel viele Leser meiner ganzseitigen ZEIT-Artikel zur Theologie faszinierte mein Versuch, eine Denk-Brücke zu schlagen zwischen modernem Wissen und christlichen Glauben. Dagegen zog mein Hamburger Bischof sein klerikales Schwert und ließ mich 1979 durch die EKiD, durch die Gesamtheit der evangelischen Kirchen in Deutschland, verurteilen. Ich habe diesen Prozess nach harter Gegenwehr verloren - der erste Ketzerprozess in Deutschland. Auch mein letzter Einspruchs, dass es doch vielleicht angesichts der Situation der Kirche sinnvoll sei, dass sich 5 Prozent der Pastoren geistig um die 95 % der Menschen kümmern, die die Kirche verlassen haben, wenn 95 % der Pastoren sich um die 5 % der Menschen kümmern, die noch zur Kirche gehen, nützte nichts. Ich habe mein geistliches Amt verloren. Meinen wissenschaftlich-theologischen Doktortitel - verliehen von der altehrwürdigen Theologischen Fakultät Erlangen - habe ich behalten.

Dann sind Sie Atheist geworden und ein Atheist glaubt ja, dass es gar keinen Gott gibt. Wie kam es dazu?

Das war im Grunde während meines Theologiestudiums in Erlangen eine erkenntnistheoretische, also eher eine philosophische Einsicht - anhand des großen Philosophen Ludwig Feuerbach. Feuerbach hat nachgewiesen, das alles Reden von Gott nicht Reden von Gott her auf den Menschen hin ist, sondern Reden vom Menschen her auf Gott hin: Gott ist die Projektion des menschlichen Bewusstsein. Nicht Gott schafft den Menschen. Der Mensch schafft Gott.

Was ist für Sie dann Gott? Können dann Handlungen oder Akte göttlich sein?

Nein. Wenn es einen eigenständigen Gott nicht gibt, kann es natürlich keine göttlichen Handlungen oder Akte geben.

Was ist dann Gott?

Ich sage das so: Definiere den Höchstwert deines Lebens. Überlege, was dir das Wichtigste ist, wofür du lebst, wofür du sterben würdest. Das ist für dich Gott. Das ist deine Ich-Identität, deine Verantwortungsmitte, dein letzter Lebensgrund. Du musst das nicht Gott nennen, du kannst es aber, denn so ist Gott immer definiert worden.

Man könnte also sagen: Ich lebe für ethische Prinzipien oder für die Akquise von Macht oder für meine persönliche Entwicklung und das ist für mich dann Gott?

Zumindest die Richtung stimmt. Weg von aller Dogmenakrobatik, vom Dogmatisch-Autoritären, weg von der 2000 jährigen Tradition der totalen Unfreiheit, in der den Menschen vorgeschrieben wurde, was sie zu denken haben. Dieser biblisch-dogmatische Gott ist nichts als Bevormundung und geistige Unterdrückung. Erst wenn sich der Mensch loslöst von diesem Gott als der höchsten religiösen Autorität, befreit sich der Mensch von größtmöglicher Fremdbestimmung, nimmt er sich heraus aus der göttlichen Bevormundung, entwickelt er sich zu einem sich selbst bestimmenden und verantwortenden Individuum. Er wird ein autonomer Mensch. Diese Autonomie ist die Befreiung des Ich!

Sie publizieren ja Bücher wie „CODEX ATHEOS. Die Kraft des Atheismus“. Woher kommt eigentlich Ihr Befreiungsdrang? Sie könnten ja auch sagen: Ich bin nur für mich selbst verantwortlich und habe das für mich selbst entdeckt. Woher kommt Ihr Drang, andere von Ihrer Überzeugung zu überzeugen?

Das ist eine gemeine Frage, weil sie sehr gezielt intim ist. Sie fordert von mir ein persönliches Bekenntnis: Ich habe einen Vater gehabt, der sein Vatersein sozusagen über die Autorität Gottes definiert hat - wie früher viele christlich-patriarchalischen Väter. Ähnlich wie auch bei Luther. Der strenge, strafende Gott, den Luther theologisch bekämpft hat, war ein Spiegelbild seiner Vatererfahrung. Luther hat dagegen einen liebenden Vater gewollt und so mit seiner Rechtsfertigungslehre einen gnädigen Gott propagiert. Ich bin darüber hinaus einen wesentlichen Schritt weitergegangen. Ich habe die Vorgabe einer absoluten göttlichen Autorität - so oder so - für mich letztlich rein rational abgeschafft. Ich brauche keinen Gott, keine Höchstautorität in persona, die mir vorschreibt, wie ich zu denken habe. Ich ziele in allem, was ich denke und tue auf individuelle Autonomie und Selbstverantwortung.

Also wollen Sie anderen Menschen das nicht zumuten, was Sie selbst mit Autorität verbinden?

Ich rede über mein atheistisches Bewusstsein nicht - möglichst nicht - aus missionarischem Antrieb, sondern weil ich zur Sache gefragt werde. Ich habe nach dem Glaubensprozess damals 1979 theologisch über 20 Jahre völlig geschwiegen. Dann habe ich meine beiden atheistischen Bücher vorgelegt. Darauf werde ich heute häufig eingeladen und gefragt, wie ich zu meinen Positionen komme. Meine Antworten zielen auf partnerschaftlichen Dialog.

Wie würde denn eine Gesellschaft aussehen, die atheistisch wäre? Gäbe es dann lauter autonome Menschen ohne Zusammenhalt oder wie wäre das?

Wieso ohne Zusammenhalt. Pierre Bayle, eigentlich der erste Aufklärer Europas um 1700 in England war zugleich der erste Denker, der sagte, er könne sich positiv (!) eine "Gesellschaft der Atheisten" vorstellen. Vor ihm war es das große klassisch Athen vor 2500 Jahren, das atheistisches Denken fundamental mit Demokratie verband. Atheismus und Demokratie gehören aufs engste zusammen. Nichts in unserer modernen Gesellschaft würde funktionieren ohne die demokratischen Prinzipien des säkularen Staates.


Sehen das Christen oder Muslime genauso?

Nie! Beide Religionen haben ein fundamentales Problem. Sie sind von ihrem religiösen Ansatz her gar nicht demokratiefähig, weder der Christ und schon gar nicht der Muslim. Ob Gott oder Allah - beide sind absolute Monarchisten (!) mit radikalen Herrschaftsprinzipien. Dagegen ist Demokratie eine partnerschaftliche Gesellschaftsform ohne Diktat, ohne Diktator. Das Christentum, speziell der Papst ducken sich nur unter die westliche Demokratie, der Islam revoltiert. Beide verlangen ein unabdingbares monarchistisches Mitspracherecht Gottes.

Naja. Man sollte ja wirklich die politischen Fragen von den religiösen Fragen trennen.

Da beginnt mein politischer Atheismus. Ich gestehe jedem Menschen seine Religion zu. Religion ist Privatsache - "res privata", wie die alten Römer sagten. Dieses Recht ist ein Grundrecht unseres säkularen Staates, erfunden und geschützt gerade auch von Atheisten.
Etwas völlig anderes ist die Machtentfaltung und Einflussnahme der institutionalisierten Religion(en) in unserer Gesellschaft. Dabei geht es um die "res publica", um die religiösen Machteinflüsse auf unsere säkulare Gesellschaft und unseren säkularen Staat.


Aber wir haben doch die Trennung von Kirche und Staat…

… haben wir? Haben wir nicht!


Warum denn nicht?

Weil heutzutage Religionen als Institutionen gerade auch in unserer Bundesrepublik zunehmend freien Lauf bekommen. Weil die Religionen ständig in unsere säkulare Demokratie einbrechen, was gemäß Grundgesetz der aufgeklärte Staat nicht zulassen dürfte.

Wo findet das denn statt? Abgesehen von der Kirchensteuer – selbst die Eheschließung ist nicht kirchlich – wo finden denn die großen Einbrüche statt, die nicht zu tolerieren sind?

Z.B. der Einfluss, den die Kirchen in der kirchlichen Kitas nehmen …

… weil da nach Ihrer Auffassung eine Sozialisation passiert, die den Menschen falsch indoktriniert?

… subventioniert zu 80 Prozent vom säkularen Staat, sprich durch Steuergelder. In den Kitas vertreten die Kirchen Positionen, die in unserem säkularen Staat nicht vertreten werden, denn unser Gemeinwesen basiert nicht auf der Bibel, sondern auf der Verfassung! Und die Verfassung ist völlig unabhängig von der religiösen institutionellen Subkultur oder Hierarchie. Es ist völlig egal was ein Herr Mixa als Bischof sagt. Bischof ist kein demokratisches Amt. Und wenn Politiker behaupten, das "C" in der CDU müsse wieder stärker zur Geltung kommen, so ist das kein Anliegen der säkularen Gesellschaft, sondern der Anspruch eines religiösen Machtklientels. Als Atheist akzeptiere ich keinen Einfluss der Kirche oder institutioneller Religionen auf unseren Staat und unsere Gesellschaft. Ich wehre mich dagegen, dass unsere Kinder in den säkularen Schulen religiösen Glaubensunterricht bekommen.

Es gibt ja immerhin das Verfassungsgut der Religionsfreiheit. Sofern es Wahlfreiheit zwischen Ethik, Philosophie und Religionskunde gibt, ist ja gegen Religionsunterricht nichts einzuwenden…

Gegen Religionskunde generell nicht. Aber ich habe etwas gegen Priester, Pastoren und Imame, die in die Schulen gehen und Unterricht geben.

Beispiel: Meine Enkelin in der Schule. Die Religionslehrerin behauptet, Gott habe die Welt geschaffen. Meine Enkelin wehrt sich. Sie verweist auf Astrophysik, auf Darwins Evolutionstheorie. Eine Lehrerkonferenz muss einberufen werden, um zu schlichten. Meinung gegen Meinung. Alles bleibt in der Schwebe. Die Lehrerin setzt ihren fatalen Religionsunterricht in der Schule fort!

Anderes Beispiel in diesen Tagen: Oberstufe Religion. Das entsetzliche Erdbeben auf Haiti. Vielleicht bis zu 200.000 Tote. Auch die Schüler sind erschüttert. Ein Kind wird aus den Trümmern gerettet. Daran sehe man - so der Lehrer - die barmherzige Gnade Gottes! Ein Schüler steht auf, klagt an, dass man Gott für die eine Rettung rühmt und angesichts von 200.000 Toten als Mörder laufen lässt. Nur mit Mühe kann vermieden werden, dass der Schüler wegen Gotteslästerung des Unterrichts verwiesen wird.

Sind denn Religionen gefährlich? Wären wir rationaler ohne Religion? Würden wir uns weniger die Köpfe einschlagen in Folge weniger Konflikte?

Die westlichen Volldemokratien haben untereinander fast über 100 Jahre Frieden gehalten und ihre Konflikte, die sie natürlich auch zuhauf hatten und haben, ohne Krieg demokratisch ausgetragen. Dagegen steht heute auch innerhalb der Demokratien ein großes religiöses Konfliktpotential.

Also sind Religionen für Sie gesellschaftliche Brandstifter?

Da wo der säkulare Staat den Religionen das Schwert aus der Hand genommen hat, sind viele Brände gelöscht worden. Dennoch bestehen überall um uns herum religiöse Konflikte. Die Spannungen mit dem Iran sind nur ein Beispiel. Der Minarett-Konflikt in der Schweiz ist ein dramatisches Signal mitten in Europa. In den USA ist der absurde Kampf der Kreationisten gegen Darwin eine anachronistische Schauergeschichte. Dass in Deutschland religiöse Konflikte gedämpft erscheinen, liegt vor allem auch daran, dass die evangelische Kirche im Moment in Anbetracht der Übermacht des Papstes gegenüber der katholischen Kirche sehr schwach erscheint. Zu acht, neun großen Themen äußert sich über Weihnachten auch in Deutschland medienmäßig nur der Papst. Ausschließlich. Und immer mit Forderungen gegenüber dem säkularen Staat und der säkularen Gesellschaft.

Und das ist dann für Sie das antidemokratische, das monarchistische?

Wenn der Papst so tut, als ob er im Namen Gottes dem säkularen Staat absolute Wahrheiten zu verkündigen hat, dann ist das ein Anschlag auf die Souveränität des demokratischen Staates. Es gilt in unserem Staat letztgültig nicht die göttliche Einmannherrschaft, sondern die demokratische Mehrheitsentscheidung.

Zur Veranstaltung am kommenden Mittwoch. Sind solche Veranstaltungen, wo von Angesicht zu Angesicht gestritten wird und hart argumentiert wird für Sie selten?

Ich mache häufiger solche Veranstaltungen mit, besser: häufig gerate ich mit meinen nüchternen Thesen auf Veranstaltungen in harte Diskussionen. Ich streite gern, nicht gegen die Person an sich, die ist geschützt. Aber zur Sache scharfe Waffen! Die geistige Debatte, die harte sachliche Auseinandersetzung ist in einer Demokratie das sachgerechte Mittel, für eine Sache einzustehen und auf Veränderung zu wirken.

Meinen Sie denn, dass solche Veranstaltungen Menschen überzeugen können?

Wenn dabei Anstöße zum eigenen Denken gelingen, wenn Aha-Erlebnisse ablaufen, dann ist schon viel gewonnen. Bei über Jahrzehnte gewachsenen Überzeugungen im Menschen ist das nicht so einfach. Aber es können Anstöße geleistet werden, die wie das Umwerfen von Dominosteine wirken können. Allerdings gilt: Wirklich ändern tut sich der Mensch in der Regel nur, wenn er unter wirklichem Leidensdruck gerät.

Ihr neues Buch "Atheistischer Glaube. Eine Lebensphilosophie ohne Gott" suggeriert Lebenshilfe zur Veränderung. Wodurch?

Ich glaube, dass der Mensch sehr wohl in eigener Verantwortung leben kann - ohne Kirche, ohne Religion, ohne Gott. Viele Menschen tun das. Sie verstehen ihr Leben vor dem Tod als ihr einziges Leben. Sie versuchen, dieses Leben bestmöglich zu gestalten. Sie setzen sich Ziele, geben sich selber Sinn, erfüllen Pflichten. Sie haben Freunde, genießen die Freuden in der Vielfalt und Schönheit des Daseins. Zugleich wissen sie um den Tod als das ganz natürliche Ende des Lebens - für immer. Ihren Tod verstehen sie als das Nichts, in dem - ohne allen Schrecken - ewiger Frieden herrschen wird.

Der Mensch kann sehr wohl zugleich in Mitverantwortung für den Mitmenschen und für die Gesellschaft leben, auch ohne Kirche, ohne Religion, ohne Gott. Viele - gerade auch junge - Staatsbürger tun das, oft sogar unter schwersten persönlichen psychischen Belastungen als Kranken- oder Altenpfleger, als Polizisten und Rettungsdienste bei entsetzlichen Unfällen und Katastrophen, als Soldaten in Afghanistan. Sie leben durch und durch in humanistischen Lebensidealen.

Der Mensch kann sich selber befreien zu einem autonom-humanistischen Menschen in einer säkularen Welt. Der Mensch braucht dazu keinen Papst, keine Religion, keinen Gott. Er braucht nur verantwortungsbewusste Menschen, die mit ihm im Leben und Sterben solidarisch sind.

Herr Dr. Schulz, danke für das Gespräch!

Die Fragen stellte Steffen Hahn, AKPTKS, Bayreuth

 

Im Anhang das "Bayreuther Manifest" von Dr. Paul Schulz

 

Bücher zum Thema

Paul Schulz, CODEX ATHEOS. DIE KRAFT DES ATHEISMUS, Rauschenplat-Verlag, 2006
Paul Schulz, ATHEISTISC HER GLAUBE. EINE LEBENSPHILOSOPHIE OHNE GOTT. Marix-Verlag, 2008