BERLIN. (hpd) Die Diskussion und Offenlegung der seelischen, körperlichen und sozialen Verletzungen, die Heimkindern in den 50er Jahren in christlichen Heimen angetan wurden, ist spätestens seit 2008 eröffnet. Die Reaktion ist meist Betroffenheit, das war schlimm damals, das waren Ausnahmen damals. Vor allem scheint es jedoch den mit der Untersuchung beauftragten PolitikerInnen und Verantwortlichen ein unangenehmes Thema zu sein.
Eine Reflexion von Daniela Gerstner
Und wie sah es in den alten Bundesländern in den 60er und 70er Jahren mit christlichen, speziell katholischen erzieherischen Leit(d)bildern in öffentlichen Schulen und Kloster-Internaten aus?
Wie geht es diesen ehemaligen Schülerinnen heute? Sie sind Mitte 40, einem Alter, in dem in unserer Kultur meist die letzte Möglichkeit besteht, die Weichen für das zukünftige Leben noch einmal zu stellen. Und in dem zurückgeblickt wird, auf das, was war: Bin ich den Weg gegangen, den ich gehen wollte? Oder hatte ich wenig Zugang zu meinen eigenen Selbststeuerungs-Kompetenzen?
Viele haben die katholische Sozialisation als Einschüchterungs- und Entwertungspädagogik erlebt. Ihre Selbstwahrnehmung und das Bewusstsein für die eigene Würde sind nachhaltig beschädigt.
Hildegard (Jahrgang 1967) aus Rheinland-Pfalz: „Bei der Arbeit gehe ich zu sehr über meine Grenzen, da ich so erzogen bin, mich selbst nicht wertzuschätzen. Ich fühle mich schnell klein und unsicher. Mein Selbstbewusstsein ist nicht gut. Ich mache gute Arbeit, aber ich verdiene immer zu wenig. Ich stelle mein Licht immer unter den Scheffel. Ich fühle mich immer besorgt um das Wohl der Anderen. Ich komme zuallerletzt, wenn ich nicht mehr kann. “
Die Wirkungsmacht des religiösen Glaubensbekenntnisses einer so Erzogenen könnte in der Metaebene lauten:
Ich glaube an die Beschämungsrituale der katholischen Kirche, denn wenn ich meinen Schmerz und meine Verletztheit zeige, kann ich damit rechnen, lächerlich gemacht und verhöhnt zu werden. Also bleibe ich stumm und trage einen Schleier unter meiner Haut.
Ich glaube nicht mehr an mich selbst, zu oft ist mir befohlen worden, mich zu schämen, zu oft ist mir Unkeuschheit mit Blicken und Andeutungen unterstellt worden. Lange bevor ich annähernd verstehen konnte, was Keuschheit bedeutet, war ich so beschmutzt durch die Unterstellungen der heiligen katholischen Erwachsenen, bis ich schließlich zusammenbrach.
Ich glaube an die Einschüchterungsmacht der katholischen Kirche, ja, bis zum heutigen Tag. Ich traue mich nicht, öffentlich zu sagen, dass ich aus der Kirche ausgetreten bin, da ich von meinen Angehörigen mit Herzinfarkt und Schwächeanfall-Drohungen erpresst werde, da auch sie so eingeschüchtert sind, dass sie glauben, der ewigen Verdammnis anheim zu fallen, wenn es ihnen nicht gelingt, mich von meinem gesunden Menschenverstand und meiner Selbstachtung abzuhalten.
Als theoretische Grundlage dieser Unterwerfungs-Sozialisation diente unter anderem das im deutschsprachigen Raum weit verbreitete Werk: „Lebenskunde. Angewandte Ideal-Pädagogik. Handbuch für Erzieher. Herausgegeben von einer Arbeitsgemeinschaft von Jugendseelsorgern“ das in den Jahren 1943 bis 1965 sechs Auflagen hatte. Bedenkt man die Lebensarbeitszeit eines Religionslehrers, so war ein 1950 ausgebildeter Lehrer mit diesem Hintergrund bis 1990 tätig. Das Buch hatte vor allem die „Sittlichkeitserziehung“ katholischer Mädchen und Jungen zum Ziel. Auf Seite 11 (Ausgabe 1947) heißt es: „Es soll nicht in unberufene Hände kommen … von Schülern oder von unverständigen Erwachsenen.“
Dieses Praxishandbuch für katholische Pädagoginnen und Priester gibt systematische Anleitungen zur Indoktrination von Kindern. Die Kinder sollten dazu angehalten werden, Schweigen zu bewahren: „Es ist klug, am Anfang das Schweigeversprechen abzunehmen.“ (Seite 20). Verletzungen des Geheimnisses sollten energisch bestraft werden, so die Autoren.
Aufgrund des Akademikermangels in den 60er und 70er Jahren gab es, als Folge des so genannten „Sputnik-Schocks“, Kampagnen, Arbeiter - und Bauernkinder – und erstmals insbesondere auch Mädchen - zum Besuch höherer Schulen zu rekrutieren. Dies machten sich verschiedene Orden für ihre Missionierungsarbeit zu Nutze und entwickelten spezielle Angebote für Kinder aus so genannten bildungsfernen Familien.
Judith (Jahrgang 1962), Bauerstochter aus Bayern, besuchte das Gymnasium eines Kloster-Internates des Englische-Fräulein-Ordens: „Ich fühlte mich minderwertig, denn ich kam aus einer Bauernfamilie, die nicht in den Bildungsbereich gehörten. Dies hat die katholische Schule sehr vermittelt. Meine Bettnachbarin im Internat war eine Arzttochter. Die Nonnen sind sehr unterschiedlich mit uns umgegangen.“
So konnten Wirtschaftssystem und Kirche gemeinsam ihre Interessen befriedigen: sie bildeten gut qualifizierte junge Frauen aus Arbeiterfamilien mit einem schlechten Selbstwertgefühl heran, die sich später im Berufsleben nicht gegen Unterbezahlung wehrten.
Judith: „Das Gefühl, ausgeliefert zu sein wurde noch schlimmer, wenn ich erfolglos versuchte, meine Mutter um Unterstützung zu bitten. Denn meine Mutter wurde als Bäuerin von der Schulleitung nicht ernst genommen.“
Anna (Jahrgang 1962) besuchte ein Kloster-Internat der Armen Schulschwestern in Nordrhein-Westfalen: „Für die Anderen über die eigene Kraft, die eigene Grenze zu gehen, wurde als erstrebenswert gelehrt.“
In dem katholischen Erziehungsratgeber lesen wir, wie es gelingen kann, Kinder zu selbstausbeuterischen Erwachsenen zu konditionieren: „Die dunkle Urschuld hat nach christlicher Lehre die Kräfte und Triebe des Menschen in Unordnung gebracht. So besteht denn die große Aufgabe eines Menschen in der Selbstbeherrschung …“ (Seite 13)
Anna: „Meine Familie hat es gut gefunden, dass ich in so ein Format – ein Kloster-Internat- komme, da ich eine wilde Trude war. Wenn ich gebrochen wurde, dann damit, dass ich nicht ich selbst sein konnte. Es war erst gut, Ruhe, als ich keine Leidenschaften mehr hatte, keine Fähigkeit mehr, selbst für mich zu sorgen.“
Unser katholischer Erziehungsratgeber, der übrigens nur an einer einzigen Stelle erwähnt, dass es eine wichtige Aufgabe ist, die „hasserfüllte Menschheit der Nachkriegsjahre“(Seite 23) zu bilden, geht nicht im Geringsten auf die Kriegstraumatisierungen und Folgen der nationalsozialistischen Indoktrination ein. Viel wichtiger sind ihm Beschämungsrituale, um die Kinder dazu zu bringen, sich „freiwillig“ in die Schablonen der katholischen Geschlechterrollenkonstrukte zu legen.
Hier eine Maßregelungsvorlage, die Anwendung finden sollte bei einem „Verstoß des Kindes“:
Magda.
Unschickliches, grobes Benehmen.
- Grüß dich Gott, Magda! So, was gibt´s wohl beim Pfarrer? Setz dich! Du, wir wollen ganz ehrlich sein, so wie das Gewissen es mir und dir sagt. Es ist schön, dass du gekommen bist. Du wusstest ja schon, dass wir etwas Unangenehmes zu besprechen haben. Das war tapfer!
- Also, ich habe dir schon angedeutet, dass du zu wenig fein seiest für ein Mädchen…. Der Schnee war ja verlockend, gewiß. Aber die Buben fanden es auch verlockend, euch zuzuschauen, wie ihr zwei euch im Schnee gewälzt und eingerieben habt, die Beine in die Höhe gestreckt und so geschrieen habt, dass es auffiel. Weißt du, was eine Frau mir gesagt hat über euer Lachen und Kreischen: Wollüstig war´s!
- Das war gar nicht fraulich fein, Magda, das war roh, das war fast schlimm und schlecht. Ich habe gemeint, das Ideal der Frau, von dem wir doch gesprochen, hätte euch gezeigt, was sich gehört und was nicht. Aber es scheint, dass ich mich arg getäuscht habe - in der Magda - - - Die Magda war rot geworden. Sie sagte nichts. Sie war auch ein bisschen trotzig und stierte zu Boden.
- Magda, wenn Buben so wild tun, macht das nicht viel aus. Es sind eben Buben, nicht Mädchen wie du. Hör, was ich jetzt sage: ich habe ein bisschen Angst um dich! Du schaust mich erstaunt an? Ja, ich habe etwas Angst um dich! Denn wenn die Magda jetzt so tut, im Schulhof, vor den Buben, dann wird sie auch später nicht zurückhaltend sein vor jungen Männern! Und dann werden es die jungen Männer vor der Magda noch viel weniger sein! …Darum habe ich Angst, Magda - - - -. Magda war purpurrot geworden. Und die Tränen liefen. (So, jetzt aufbauen!)
- Siehst du Kind, du musst dich jetzt einfach gegen das Rohe und Bubenhafte in dir wehren, da du ja ein Mädchen bist. .…. (Lebenskunde, Seite 94)
Judith: „Mit 15 entwickelte ich Bulimie. Es war ein Aufbegehren, ein Versuch mich zu retten. Ich fühlte mich erdrückt von Lasten. Ich fühlte mich immer gebremst, gehemmt und wertlos. Dann habe ich das Instrumentarium entwickelt, mich abzugrenzen. Erst war es faszinierend: Pah! Du bist ja gar nicht so machtlos, nicht so ausgeliefert. Die ersten Wochen waren Durchatmen. Die Bulimie war ein Rettungsversuch, der mich stabilisiert hat. Aber relativ bald ist mir das Gefühl gekommen: Hilfe, du bist ja ganz pervers! Dann aber hatte die Bulimie mich im Griff bis Anfang 40. Ich hatte 25 Jahre lang Bulimie.“
Hildegard, Anna und Judith (die Namen wurden aus Gründen des Persönlichkeitsschutzes geändert) sind inzwischen 42 und 47 Jahre alt. Bis heute leiden sie unter bio-psycho-sozialen Einschränkungen und Belastungen als Folge der Zertrümmerung ihrer natürlichen psychosexuellen Entwicklung. Geholfen hat ihnen die Auseinandersetzung mit feministischen Ideen. Aber die Verletzungen sitzen tief, der Heilungsprozess gestaltet sich langwierig und erfordert professionelle Hilfe: psychosomatische Behandlung, Psychotherapie, berufliches Coaching. Leider betrachten viele Berater/innen die Probleme als Einzelschicksal. Häufig wird der Zusammenhang zwischen der Indoktrination zur Selbstaufopferung von Mädchen und ihrer Schwierigkeit, für sich einzustehen, nicht auf das katholische Weiblichkeitsideal zurückgeführt. In einem Land, in dem viel über die Unterdrückung der Frau im Islam diskutiert wird, bleibt der blinde Fleck für die Gehirnwäsche durch die katholische Kirche in professionellen Kreisen zu oft unbemerkt, steht in keinem Ausbildungs-Lehrplan.