Gewalt und Missbrauch auch im Jugendverband

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Fotografie: Evelin Frerk

MÜNCHEN. (hpd) Die bisher bekannt gewordenen Taten von Misshandlungen und sexuellem Missbrauch beschränkten sich vorwiegend auf katholische Internate, Kollegien und Seelsorgeeinheiten. Der große Bereich der katholischen Jugendorganisationen schien davon verschont geblieben zu sein. Dieser Eindruck täuscht. Auch dort kam es zu Gewalt und Missbrauch.

Mit „Abscheu und Fassungslosigkeit“, so der Bundesvorstand des Bundes der Deutschen Katholischen Jugend (BDKJ), nehme man die Vorfälle von sexuellem Missbrauch und sexualisierter Gewalt wahr: „Wir sind erschüttert von den Fällen in unserer Kirche. Unser ganzes Mitgefühl gilt den Opfern. Gerade die Pervertierung des kirchlichen und schulischen Schutzraumes und das widerwärtige Ausnutzen der besonderen Beziehung als Seelsorger und Seelsorgerin, Lehrer und Lehrerin zu jungen Menschen wiegen besonders schwer“, wie es in einer am 11.3.2010 veröffentlichten Stellungnahme des BDKJ-Bundesvorstandes heißt.

Der BDKJ räumt ein: „Wir können nicht ausschließen, dass es bei uns Fälle gibt“. Und weiter: „Obwohl wir alles tun, was in unserer Macht steht, um Missbrauch in unseren Reihen zu verhindern, können wir nicht ausschließen, dass es auch im Kontext katholischer Jugendarbeit sexuellen Missbrauch und sexualisierte Gewalt gegeben hat und gibt. Wir werden dafür sorgen, dass in unseren Reihen nichts vertuscht und verheimlicht wird. Wir werden alles tun, was in unserer Macht steht, um Opfern zu Gerechtigkeit zu verhelfen. Wir werden gegen Täterinnen und Täter konsequent vorgehen.“

Den Humanistischen Pressedienst erreichte am vergangenen Dienstag das Schreiben eines inzwischen 57-jährigen Mannes, dessen Identität der Redaktion bekannt ist. Der Inhalt des Schreibens bezieht sich auf seine Erlebnisse als Jugendlicher während der Gruppenfahrten des Schülerverbandes der „Marianischen Congregation“.


Ich versichere folgendes an Eides statt:

Ich war von 1963-70 Mitglied des Schülerverbandes der „Katholischen Studierenden Jugend“ München der „Marianischen Congregation“ (MC), der sich 1972 umbenannt hat in „Jugendverbände der Gemeinschaft Christlichen Lebens“ (J-GCL), eines Mitgliedsverbandes des „Bundes der Deutschen Katholischen Jugend“ (BDKJ).

Die zu dieser Zeit etwa 120 Kinder und Jugendliche umfassende Münchner Gliederung der MC rekrutierte ihren Nachwuchs in erster Linie aus der Schülerschaft des Humanistischen Ludwigsgymnasiums München, an dem der Präses der Marianischen Congregation als Religionslehrer tätig war; auch Schüler aus dem Nymphenburger Gymnasium waren vertreten.

Das Kinder- und Jugendprogramm der MC umfasste einmal pro Woche stattfindende „Gruppenstunden“, bei denen, eingebunden in verschiedene Spiel-, Sport- und Freizeitaktivitäten, konservativ- rechtslastige und vor allem religiöse Indoktrinierungsarbeit geleistet wurde.

Hinzu kamen obligat zu besuchende Gottesdienstveranstaltungen an den Sonntagen.

Wesentlicher Bestandteil der MC-Aktivitäten waren regelmäßig in den Schulferien durchgeführte „Gruppenfahrten“, 7-10tägige Aufenthalte in Zeltlagern oder Jugendherbergen, bei denen paramilitärische Uniformhemden getragen wurden. Während die „Gruppenstunden“ altershomogen besetzt waren, nahmen an den „Gruppenfahrten“ Kinder und Jugendliche der verschiedenen Altersstufen teil.
Jede Jahrgangsgruppe hatte einen so genannten „Gruppenführer“, der die „Gruppenstunden“ abhielt und auch an den „Gruppenfahrten“ teilnahm. Die Gruppenführer waren in der Regel junge Erwachsene, die der Jugendabteilung der MC entwachsen waren; die meisten waren Studenten.

Ich nahm über mehrere Jahre hinweg an sämtlichen „Gruppenfahrten“ teil. Ich erinnere mich, bei zwei dieser Fahrten von einem der „Gruppenführer“ körperlich schwer misshandelt worden zu sein. Wer die täglich stattfindenden Drill-„Übungen“ - Liegestütze, Kniebeugen, Geländelauf usw. - nicht mit ausreichendem Durchhaltevermögen absolvieren konnte, wurde zum Strafexerzieren abkommandiert, bei dem es u.a. schmerzhafte „Kopfnüsse“ und „Pferdeküsse“ gab (Schläge mit der Faust gegen den Oberarm). Viel geübte Strafmaßnahme, die ich mehrfach selbst zu erdulden hatte, war das so genannte „Klappmesser“, bei dem der zu Bestrafende sich mit erhobenen Armen hinstellen musste und dann von hinten einen kräftigen Schlag mit der Handkante gegen die Leber erhielt. Man klappte nach Luft ringend und verhöhnt vom Rest der Gruppe „wie ein Taschenmesser“ zusammen. Eine Sonderstrafe, der ich aus nicht mehr erinnerlichem Grunde im Alter von etwa 13 Jahren unterzogen wurde, war eine so genannte „doppelte Bockfotze“: ein mit beiden Händen ausgeführter gleichzeitiger Schlag gegen beide Ohren. Ich erlitt seinerzeit einen beidseitigen Trommelfellriss, der dazu führte, dass mein Hörvermögen durch die Vernarbung der Trommelfelle bis heute erheblich eingeschränkt ist. Meinen Eltern konnte ich seinerzeit nicht berichten, was vorgefallen war, aus Sorge, ich dürfe womöglich nicht mehr an weiteren „Gruppenstunden“ teilnehmen. Zudem hatte ich Angst vor Rachemaßnahmen des besagten „Gruppenführers“.

Während ich selbst keine sexuellen Übergriffe zu erdulden hatte, habe ich häufig miterlebt, wie Gruppenkameraden von einem der „Gruppenführer“ zu - aus heutiger Sicht: eindeutig sexualisierten - „Ringkämpfen“ in Badehose genötigt wurden, bei denen immer wieder auch das Genital berührt wurde. Auf den „Gruppenfahrten“ wurde regelmäßig auch gemeinsam onaniert, mir ist zumindest ein Fall bekannt, bei dem ein 12- oder 13-Jähriger Kamerad einen der „Gruppenführer“ masturbiert hat.
(15.03.2010)

Nachgefragt I

Am Mittwoch, den 17. März 2010 erreichte der hpd bei der zuständigen Bundesstelle der „Jugendverbände der Gemeinschaft Christlich Lebens“ keinen Verantwortlichen.

Über die Vermittlung der Geschäftsstelle erreichen wir zu einem angeratenen Zeitpunkt und über die den ,dringenden Fällen‘ vorbehaltene Mobil-Nummer den Pressesprecher des Bundesvorstandes des ,Bund der Deutschen Katholischen Jugend‘ (BDKJ) und damit die zuständige Organisation für die „Stellungnahme des BDKJ -Bundesvorstand zum Thema sexueller Missbrauch und sexualisierte Gewalt“.

Und dieser nahm die ihm berichteten Fakten der ,Versicherung an Eides statt‘ (mit den Stichworten wie Teilnahme an sämtlichen Gruppenfahrten zwischen 1963 - 1970, körperlich schwere Misshandlungen durch Gruppenführer, Strafexerzieren,“ Kopfnüsse“, „Pferdeküsse“, „Klappmesser“, „doppelte Bockfotze“ , Sonderstrafe mit 13 Jahren in deren Folge Trommelfellriss, Vernarbung und lebenslange Einschränkung des Hörvermögens bleiben...) keineswegs gelassen auf, sondern im Sinne der von seinem Verband am 11. März 2010 herausgegebenen Erklärung, die mit drei Worten überschrieben war: „Erschüttert und entschlossen“.

„Es ist das erste Mal, dass wir davon hören, dass es in einer zum BDKJ gehörenden Jugendgruppe zu Übergriffen und Missbrauch gekommen ist. Wir sind fassungslos und erschüttert. Die Bundesstelle hat schon 1990 auf der Bischofskonferenz gefordert, dass dieses kein Tabu-Thema sein dürfe, sondern darüber zu sprechen sei.“

1990 - also schon vor 20 Jahren war Gewalt und sexueller Missbrauch in der Kirche ein Thema?

„Wir haben es immer befürchtet. Konkret lag uns bis eben keine einzige Meldung vor. Wir haben immer aufgefordert, Verdachtsmomente zu benennen. Wir konnten nicht ausschließen, dass es Missbrauch und Gewalt auch in unseren Reihe gegeben hat und gibt. Wir blicken auf 50 und mehr als 60 Jahre katholischer Jugendarbeit zurück. Sie konfrontieren uns jetzt damit, dass es auch in unseren Reihen passiert ist! Zurzeit sind 650.000 Jugendliche in insgesamt 16 Organisationen im BDKJ zusammengefasst."

Wie wird der Bund der Deutschen Katholischen Jugend auf die vorgetragenen Vorwürfe reagieren?

„Wir verhalten uns so: Erst einmal haben die Opfer Recht. Der Mann, der die Vorwürfe erhebt, sagt die Wahrheit - davon geht der BDKJ aus. Will er in die Öffentlichkeit gehen -bieten wir ihm unsere Hilfe an. Wir sichern ihm Opferhilfe zu, um die Erfahrungen aufzuarbeiten. Lassen Sie uns wissen, was der Mann möchte. Je nach Lebenslage ist der Wunsch der Betroffenen unterschiedlich.“

Wir vereinbaren, von unserer Seite aus über die Theologische Assistentin ebenfalls das Führungsgremium der Jugendverbände der Gemeinschaft Christlichen Lebens Bundesstelle in Augsburg zu unterrichten und erhalten dafür eine Adresse außerhalb der im Internet angezeigten. Wir verabschieden uns in dem Wissen, weitere Kontakte folgen.

Nachgefragt II

Am nächsten Tag kommt der Rückruf des Verantwortlichen für die „Jugendverbände der Gemeinschaft Christlichen Lebens.“ Der Pressesprecher des BDKJ hatte ihn vorab informiert. Um nicht aneinander vorbei zu reden trage ich die Punkte des Berichts erneut vor, mit der abschließenden Frage, was er dazu sagen möchte.

„Ich hoffe, dass es sich um einen Einzelfall handelt und bedauere natürlich sehr, wenn es zu solchen Fällen gekommen ist. Da spielt es auch keine Rolle, wie lange es her ist.“

„Täter“, dieses Wort spricht der Vorsitzende explizit aus. Kamen sie aus den Reihen der geistlichen Leiter, waren es Erwachsene, Padres oder Priester, Jesuiten aus der Marianischen Congregation, deren sexuelle Übergriffe nicht erst seit den Veröffentlichungen Anfang 2010 aus dem Canisius Kolleg bekannt sind? Oder waren die Täter junge Erwachsene, in den eigenen Reihen aufgewachsen, die als Gruppenführer Verantwortung für Jugendliche übernommen hatten? Diese Form der Ausbildung war und ist immer noch aktuell. War es einer? Waren es mehrere? Das alles seien Fragen, denen er als Verantwortlicher nachgehen werde. Und er spricht weiter von den Kindern und Jugendlichen, die ihm vor dem Auge seien und die vor Übergriffen zu schützen sind. Aus seiner Sicht hat der Verband in den letzten Jahren vorsorgend und fürsorglich daran gearbeitet, Ausbildungsprämissen vorzulegen, speziell Positionspapiere gegen Missbrauch zu erarbeiten und hat diese Texte veröffentlicht.

„Es ist sehr zu bedauern, aber leider nicht auszuschließen, dass es zu Übergriffen gekommen ist. Man muss es beim Namen nennen, Misshandlungen aus früheren Zeiten sind mir nicht bekannt. Und doch ist nicht auszuschießen, dass es heute noch passiert, obwohl wir 1990 ein neues Schulungskonzept eingeführt haben, auf pädagogische Schulung größten Wert legen und bei unseren Kindern politische Bildung sowie die Entwicklung von demokratischen Verständnis nicht zu kurz kommt.“

Er verweist dabei auf die Internetseite, mit speziellen Positionspapieren.

Die Worte des für Tausende Jugendlicher zuständigen und Verantwortung tragenden Vorstandes im Ohr lese ich die Positionspapiere. Gut gemeinte Worte ist die eine Ebene, alle werden freundlich zustimmen, die Umsetzung im Alltag ist jedoch der andere Teil. Ist dies eine ausreichende Maßnahme? Ist damit Vorsorge getroffen, als Schutz vor Übergriffen, Gewalt und Missbrauch?

„Aktuell geht es darum, Täter zu finden, nicht zu schützen. Wenn das Opfer sich entscheidet, Namen zu nennen, können wir der Sache nachgehen und, auch wenn es schwierig werden sollte, Staatsanwalt und Polizei einschalten. Wir bieten unsere Unterstützung und Hilfe an.“

Der Widerspruch zwischen dem Erleben des Opfers, seinem früh verloren gegangenen Vertrauen in die Organisation und dem Wunsch eben dieser Organisation, man möge ihr doch jetzt vertrauen, bleibt unüberbrückbar bestehen.

Evelin Frerk