Praktischer Humanismus muss politisch sein

Politisch sein heißt auch, etwas zu wagen

Politisch zu sein heißt nicht, Grundsätze zu ignorieren – im Gegenteil. Aber politisch zu sein heißt in der pluralistischen Demokratie auch immer, etwas zu wagen. Das Wagnis, das der praktische Humanismus hier zweifelsohne eingehen muss, wäre vielleicht missverstanden, geschmäht oder angegriffen zu werden. Aber das gehört zur politischen Teilnahme und diese gehört zu einem praktischen Humanismus. Denn er ist möglich, ohne dass Menschen sterben müssen, Kriege verursacht werden oder jemand Tränen vergießt. Politisch zu sein und zu agieren ist nicht unhumanistisch. Etwas zu wagen ist elementarer Ausdruck des Gedankens der Selbstbestimmung, die zu den grundlegenden Ideen des weltlichen Humanismus zählen. Nichts wagen zu müssen, zu brauchen oder zu dürfen widerspricht in fundamentaler Weise dem Selbstverständnis dieses Humanismus.

Der Kampf für die gesetzliche Regelung der Patientenverfügung war hier ein großer politischer Erfolg, aber dabei kann es nicht bleiben. Die Bus-Kampagne war innovativ, aber für viele war sie nur spektakulär und für die meisten ist sie bereits vergessen. Zum Wachstum reicht es nicht aus, Erreichtes zu verteidigen wie auch im Bündnis gegen „Pro Reli“ in Berlin. Eine humanistische Soldatenseelsorge ist wichtig, aber kaum im Alltag der meisten Menschen relevant. Auch sich im Alltag nur zu äußern, wenn die eigene Position unstreitbar ist, ist kein Wagnis und wirkt für viele eher belehrend statt offen und kritikfähig.

Hier oder weltweit sind christliche und andere religiöse Organisationen an jedem Tag dabei, Stellungen zu beziehen, ihre Interessen zu vertreten und ihren Einfluss auszuüben, in jedem Teil der Gesellschaft. Im Bereich der Bildung, Wirtschaft, Medien, Wissenschaft oder Kultur. Und sie sind erfolgreich darin. Es ist nicht ein Mangel an Willen oder ihre Lebendigkeit, was ihre Mitgliederzahlen hierzulande schrumpfen lässt, denn die Zahl der Gläubigen selbst schrumpft kaum. Und die Schwäche der Kirchen bedeutet nicht unbedingt auch einen Vorteil für den glaubensfreien, evolutionären Humanismus.

Ein praktischer und politischer Humanist zu sein könnte heißen, den Alltag mit humanistisch-säkularen Gedanken zu kommentieren, sich als Mensch oder Gruppe ständig selbst zu positionieren und täglich neu vorauszudenken. Praktischer Humanismus ist jederzeit und überall möglich, im persönlichen Umfeld und in der politischen Öffentlichkeit. Ohne Leid zu verursachen, kann man den religionsfreien Humanismus privat und öffentlich ins Gespräch bringen, neue Perspektiven aufnehmen und für dessen Grundsätze streiten. Ohne sich kritischen Standpunkten zu verschließen, darf und muss man sich auf gesellschaftliche Diskurse einlassen, deren Ausgang man nicht bereits kennt. Zuzugeben, dass man trotz einer Ethik, in der Wissen mehr als Glaube zählt, nicht alles weiß, ist humanistisch. Auf Grundlage von ihr zu diskutieren, erfordert häufig Mut. In solch einem Diskurs zu unterliegen ist kein Fehler, sondern bietet Chancen.

Die Vertreter des Humanismus sind dabei nicht nur Gremien oder Verbände. Jeder kann Vertreter sein, wenn er ihn als sich für nachvollziehbar und insofern bindend empfindet. Aber wenn Menschen und Organisationen im Namen dieses evolutionären, religionsfreien Humanismus nichts riskieren und jedes Wagnis meiden, um nur seine Keuschheit nicht zu gefährden oder die eigene Fehlbarkeit zu tarnen, wird das der religionsfreien, humanistisch eingestellten Gesellschaft weder Lebendigkeit verleihen noch ihrem eigenen humanistischen Selbstverständnis gerecht. Denn es ist Ausdruck des von allen Humanisten geteilten Konsenses, dass Fehler menschlich sind und Annahmen wie ein unfehlbarer, irrtumsfreier Humanismus nicht gelten können. Ein praktischer Humanismus muss politisch sein, sich seiner Fehlbarkeit bewusst, und zu Wagnissen bereit. Um zu wachsen und lebendig zu sein – auch als Überzeugungsgemeinschaft und nicht nur als ein Dienstleister oder reine Ideensammlung. Aber wenn der praktische Humanismus darauf zielt, politische Teilnahme zu vermeiden, nur um seine Keuschheit zu erhalten, wird das sogleich zu seinem größten Verhängnis.

Die Evolution des Humanismus ist real. Viele geistige Mütter und Väter sind in seinem Sinne tätig, in der Humanistischen Akademie, der Giordano-Bruno-Stiftung sowie in anderen wichtigen Institutionen. Aber sie können nicht alles leisten. Nur weil ein Baum stark wurzelt, seine Krone wächst und er an Höhe gewinnt, wird aus ihm nicht auch ein Wald. Wenn Humanistinnen und Humanisten ihre Gemeinschaft wachsen sehen wollen, sollten sie den Mut haben, für ihre Ideen und Grundsätze täglich zu streiten. Praktisch, politisch und im offenen, kritischen Diskurs. Und solange sie nur ihre Annahmen und Schlüsse nicht als unfehlbar betrachten, sollte im Namen des evolutionären, säkularen Humanismus weiterhin kein Mensch leiden oder sterben müssen.

Arik Platzek