Praktischer Humanismus muss politisch sein

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Arik Platzek / Foto: privat

(hpd) Der gegenwärtige Humanismus ist noch unschuldig und rein. Kein Krieg wurde bisher in seinem Namen geführt, kein Mensch missbraucht und keine Träne wurde wegen ihm vergossen. Das ist vielleicht eine seiner größten Schwächen.

Kein Mensch musste bisher im Namen des religionsfreien, evolutionären und kritisch-rationalen Humanismus sterben. Im Namen vermeintlich atheistischer Regime wie dem des Kommunismus unter Stalin, Pol Pot oder Mao schon. Und diese sind lange vor den grundlegenden Ausführungen von Michael Schmidt-Salomon als quasi-religiös bloßgestellt worden. So wie sich jede zwar atheistische, aber von dialektisch-metaphysischen Annahmen geprägte politische Ideologie als quasi-religiös herausstellen muss. Der Humanismus aber, zu dessen Entwicklung sich hierzulande „Vorzeige-Humanisten“ wie Schmidt-Salomon und andere Menschen, oft auch aus den Reihen des Humanistischen Verbandes Deutschland, als verpflichtet erkannt gegeben haben, ist noch unschuldig und rein. Kein Krieg wurde bisher in seinem Namen geführt, kein Mensch missbraucht und keine Träne wurde wegen ihm vergossen. Das ist vielleicht eine seiner größten Schwächen.

Der Humanismus, wie er im „Manifest des evolutionären Humanismus“ von Michael Schmidt-Salomon und den Publikationen des HVD oder seiner Einrichtungen als derzeit führende Instanzen entwickelt wird, ist unberührt von Ereignissen und Taten, welche er für sich selber als moralisch fragwürdig oder verwerflich beurteilen muss. Er trägt nicht die Last einer zweifelhaften Vergangenheit und wer oder was kann das schon von sich behaupten? Seine Vertreter ahnen aber die Scham, welche es ihnen bereiten würde und fürchten den ersten Fleck auf der Weste „ihres“ Humanismus. Und so verhalten sie sich vielfach, man muss es so sagen, wie die keuschesten Jungfrauen in einer Welt der Sünde und Versuchungen. In welcher moralische Begriffe und ethische Ideale die meiste Zeit gegen sich selbst und zu oft gegen das Wohl und die Interessen der Mehrheit aller Menschen verwandt worden sind. Die Vertreter dieses Humanismus zögern, warten und überlegen. Sie reflektieren ihre Keuschheit.

Und es ist vielleicht gut so. Werden es viele von ihnen doch als gut genutzten Zufall erkannt haben, sich religionsfrei und fähig zur kritischen, rationalen Reflexion als Mitglieder einer kleinen, aber weitestgehend makellosen Weltanschauungsgemeinschaft in einer Gegenwart vorzufinden, die Kritik gegenüber Religionen und die Distanz zu absoluten Wahrheiten zulässt. Sich wiederzufinden mit unverbrauchten Ideen und einer Geschichte, die frei von den Makeln ist, als deren Gegensatz oder Alternative sie sich zu manifestieren versucht. Es ist ihnen gerade auch deshalb wichtig, weil in dieser Gesellschaft das Wissen und die zweifelnde Selbstbetrachtung konstitutionell bedeutend sind. Und in der nicht vor allem ein Glaube zählt, der auch gern unkritisch und unwissend sein darf, damit ihn nicht die Kenntnis um die Schande der eigenen Tradition in Zweifel zieht. Unser Wissen um die Fehler der Religionen und anderer Ideologien gibt uns dabei die Verantwortung, sie nicht zu wiederholen.

Man darf sich also ziemlich wohl fühlen als Teil einer Gesellschaft, welche diesen reinen, unschuldigen und „keuschen“ Humanismus zur Grundlage hat. Ein Wohlgefühl, das jedoch trotzdem die Ohnmacht oder den Unwillen gegenüber einer elementaren Herausforderung förmlich verdrängt. Diese verdrängte Herausforderung ist, lebendig zu sein. Zum Leben gehört Wachstum.

Wachstum zu erwarten ist jedoch nur dort, wo die Grundlagen dafür gegeben sind. Man darf behaupten, dass hierzulande am ehesten ein Wachstum möglich ist. Die wachsende Zahl religionsfreier oder nichtgläubiger Menschen bildet eine Grundlage. Die weitgehende Trennung von Staat und Instituten der Religion steht einem Wachstum nicht entgegen. Die Gesellschaft, in der man sich als Humanist wohlfühlen kann, mutet trotzdem winzig an. Während die Zahl der Atheisten oder Agnostiker vergleichsweise groß wurde, ist von einem Lebendigkeit bezeugenden Wachstum wenig zu vernehmen. Werden die Vertreter des evolutionären, säkularen Humanismus also warten wie keusche Jungfern, dass sich ihm religions- und glaubensfreie Menschen seiner reinen, makellosen Erscheinung wegen ergeben zuwenden? Wollen sie nur dort politisch sein, wo sie Notwendigkeiten dazu zwingen? Das wäre ein großer Fehler.

Ein praktischer Humanismus muss politisch sein. Niemand sollte nun dafür plädieren, die humanistischen Grundsätze zu vergessen und Prinzipien zu ignorieren. Aber wenn die Gesellschaft der religionsfreien Menschen mit humanistischer Ethik wachsen soll, muss sie politischer werden, um wahrgenommen zu werden. Wahrgenommen werden, um ihre Interessen, Ideen und Positionen bekannt zu machen, damit diese für sich werben können. So bekannt zu machen und so aktiv zu vertreten, dass sich das Wachstum nicht weiter von seinem wichtigsten Ausgangspunkten, der Zahl religionsfreier Menschen und der Idee einer säkularen, humanistischen Ethik, entkoppelt. Die reine Lehre der Idee allein bewirkt nichts, wenn sich ihr niemand anschließt.

Politisch sein heißt auch, etwas zu wagen

Politisch zu sein heißt nicht, Grundsätze zu ignorieren – im Gegenteil. Aber politisch zu sein heißt in der pluralistischen Demokratie auch immer, etwas zu wagen. Das Wagnis, das der praktische Humanismus hier zweifelsohne eingehen muss, wäre vielleicht missverstanden, geschmäht oder angegriffen zu werden. Aber das gehört zur politischen Teilnahme und diese gehört zu einem praktischen Humanismus. Denn er ist möglich, ohne dass Menschen sterben müssen, Kriege verursacht werden oder jemand Tränen vergießt. Politisch zu sein und zu agieren ist nicht unhumanistisch. Etwas zu wagen ist elementarer Ausdruck des Gedankens der Selbstbestimmung, die zu den grundlegenden Ideen des weltlichen Humanismus zählen. Nichts wagen zu müssen, zu brauchen oder zu dürfen widerspricht in fundamentaler Weise dem Selbstverständnis dieses Humanismus.

Der Kampf für die gesetzliche Regelung der Patientenverfügung war hier ein großer politischer Erfolg, aber dabei kann es nicht bleiben. Die Bus-Kampagne war innovativ, aber für viele war sie nur spektakulär und für die meisten ist sie bereits vergessen. Zum Wachstum reicht es nicht aus, Erreichtes zu verteidigen wie auch im Bündnis gegen „Pro Reli“ in Berlin. Eine humanistische Soldatenseelsorge ist wichtig, aber kaum im Alltag der meisten Menschen relevant. Auch sich im Alltag nur zu äußern, wenn die eigene Position unstreitbar ist, ist kein Wagnis und wirkt für viele eher belehrend statt offen und kritikfähig.

Hier oder weltweit sind christliche und andere religiöse Organisationen an jedem Tag dabei, Stellungen zu beziehen, ihre Interessen zu vertreten und ihren Einfluss auszuüben, in jedem Teil der Gesellschaft. Im Bereich der Bildung, Wirtschaft, Medien, Wissenschaft oder Kultur. Und sie sind erfolgreich darin. Es ist nicht ein Mangel an Willen oder ihre Lebendigkeit, was ihre Mitgliederzahlen hierzulande schrumpfen lässt, denn die Zahl der Gläubigen selbst schrumpft kaum. Und die Schwäche der Kirchen bedeutet nicht unbedingt auch einen Vorteil für den glaubensfreien, evolutionären Humanismus.

Ein praktischer und politischer Humanist zu sein könnte heißen, den Alltag mit humanistisch-säkularen Gedanken zu kommentieren, sich als Mensch oder Gruppe ständig selbst zu positionieren und täglich neu vorauszudenken. Praktischer Humanismus ist jederzeit und überall möglich, im persönlichen Umfeld und in der politischen Öffentlichkeit. Ohne Leid zu verursachen, kann man den religionsfreien Humanismus privat und öffentlich ins Gespräch bringen, neue Perspektiven aufnehmen und für dessen Grundsätze streiten. Ohne sich kritischen Standpunkten zu verschließen, darf und muss man sich auf gesellschaftliche Diskurse einlassen, deren Ausgang man nicht bereits kennt. Zuzugeben, dass man trotz einer Ethik, in der Wissen mehr als Glaube zählt, nicht alles weiß, ist humanistisch. Auf Grundlage von ihr zu diskutieren, erfordert häufig Mut. In solch einem Diskurs zu unterliegen ist kein Fehler, sondern bietet Chancen.

Die Vertreter des Humanismus sind dabei nicht nur Gremien oder Verbände. Jeder kann Vertreter sein, wenn er ihn als sich für nachvollziehbar und insofern bindend empfindet. Aber wenn Menschen und Organisationen im Namen dieses evolutionären, religionsfreien Humanismus nichts riskieren und jedes Wagnis meiden, um nur seine Keuschheit nicht zu gefährden oder die eigene Fehlbarkeit zu tarnen, wird das der religionsfreien, humanistisch eingestellten Gesellschaft weder Lebendigkeit verleihen noch ihrem eigenen humanistischen Selbstverständnis gerecht. Denn es ist Ausdruck des von allen Humanisten geteilten Konsenses, dass Fehler menschlich sind und Annahmen wie ein unfehlbarer, irrtumsfreier Humanismus nicht gelten können. Ein praktischer Humanismus muss politisch sein, sich seiner Fehlbarkeit bewusst, und zu Wagnissen bereit. Um zu wachsen und lebendig zu sein – auch als Überzeugungsgemeinschaft und nicht nur als ein Dienstleister oder reine Ideensammlung. Aber wenn der praktische Humanismus darauf zielt, politische Teilnahme zu vermeiden, nur um seine Keuschheit zu erhalten, wird das sogleich zu seinem größten Verhängnis.

Die Evolution des Humanismus ist real. Viele geistige Mütter und Väter sind in seinem Sinne tätig, in der Humanistischen Akademie, der Giordano-Bruno-Stiftung sowie in anderen wichtigen Institutionen. Aber sie können nicht alles leisten. Nur weil ein Baum stark wurzelt, seine Krone wächst und er an Höhe gewinnt, wird aus ihm nicht auch ein Wald. Wenn Humanistinnen und Humanisten ihre Gemeinschaft wachsen sehen wollen, sollten sie den Mut haben, für ihre Ideen und Grundsätze täglich zu streiten. Praktisch, politisch und im offenen, kritischen Diskurs. Und solange sie nur ihre Annahmen und Schlüsse nicht als unfehlbar betrachten, sollte im Namen des evolutionären, säkularen Humanismus weiterhin kein Mensch leiden oder sterben müssen.

Arik Platzek