BERLIN. (hpd) Vor dem Brandenburger Tor versammelten sich heute Mittag rund 300 ehemalige Heimkinder und deren Verwandte, um ihrer Situation mit einem „Jetzt reden wir!“ vehement Nachdruck zu verleihen. Der Tag war bewusst gewählt, da der „Runde Tisch Heimerziehung“ der Bundesregierung, dem die Veranstalter der Demonstration Verharmlosung vorwerfen, just tagte.
Die Demonstration startete im Zentrum Berlins, in der Luisenstraße, vor dem Gebäude, in dem der Runde Tisch tagt. Die für den Vormittag angesetzte Sitzung war auf Grund der Demonstration auf 14 Uhr verschoben worden. Die Vertreter der Heimkinder am Runden Tisch hatten, so wurde berichtet, geplant, herauszukommen und sich mit den Demonstranten solidarisch zu erklären. Man wollte offensichtlich jeglichen Kontakt zu den Demonstranten vermeiden.
Der Düsseldorfer Künstler Jacques Tilly hatte eigens eine etwa drei Meter hohe mobile „Prügel-Nonne“ gebaut, die in der einen Hand ein Kreuz, in der anderen Hand ein Rohrstock trägt – mit diesen wedelte sie denn auch bedrohlich auf ihrem Weg zum Endziel der Demonstration.
Unterwegs traf man auf viele Passanten, die bereitwillig und interessiert Flugblätter annahmen. Die Medienpräsenz war beachtlich, auch aus dem Ausland waren Medienvertreter anwesend. Die Stimmung der Demonstranten war insgesamt gut, freundlich und locker, während sie Sätze skandierten wie „Jetzt reden wir!“, „Nie wieder Missbrauch in Heimen und Internaten!“ und „Nie wieder schwarze Pädagogik!“
Die Ankunft der Demonstration am Brandenburger Tor rief auch bei vielen Touristen auf dem Pariser Platz ein lebhaftes Interesse hervor, da sie spontan nichts mit der Prügelnonne verbinden konnten. Auf Rückfrage nickten sie verständnisvoll.
Auf dem Podium sprachen mehrere Vertreter der Heimkinder, unter ihnen Jonathan Overfeld, vom Verein ehemaliger Heimkinder (VeH) und Verantwortlicher für die Veranstaltung, die Vorsitzende des VeH, Monika Tschapek-Güntner sowie Klaus Dickneite, der die behinderten Heimkinder vertrat. Der Runde Tisch Heimerziehung, den die Bundesregierung in Zusammenarbeit mit den Tätern, den Kirchen also, einrichtete, schließt einen Großteil der Betroffenen aus: behinderte Kinder, die Heime der ehemaligen DDR und damit Waisenhäuser sowie Säuglingsheime. Darüber hinaus wird vom Runden Tisch ignoriert, dass systematisch Menschenrechte verletzt wurden – schließlich sind etwa Hunderttausend betroffen - und dass die Kinder Zwangsarbeit leisten mussten.
Die Vortragenden protestierten gegen die Verjährung und, was manchem Zuhörer Tränen in die Augen trieb, sie erzählten, wie sie als Säuglinge, Kinder und Jugendliche in den meist kirchlichen Heimen von Diakonen und Nonnen gedemütigt, erniedrigt, misshandelt, geschlagen und grausam gefoltert wurden. Sie erhielten kaum Schulbildung und ihnen wurde medizinische Hilfe versagt. Kinder wurden nicht nur sexuell missbraucht, sondern mussten bspw. ihr Erbrochenes wieder aufessen, wurden willkürlich verprügelt, in dunkle Zimmer eingesperrt und kamen bis zu 14 Tage in Isolationshaft. Bis heute erhalten frühere Heimkinder keine Einsicht in ihre Akten.
Für etliche ehemalige Betroffene ruinierte der traumatische Heimaufenthalt ihr Leben: Der emeritierte Professor für Sozialpädagogik, Manfred Kappeler, betonte in seiner Ansprache, dass weitaus mehr Heimkinder zu der Demonstration erschienen wären, wenn sie nicht alt und krank oder alt und arm seien. Der Anteil der Suizide sei sehr hoch, häufig seien ehemalige Heimkinder bindungsunfähig und vereinsamten.
Von den Kirchen und den staatlichen Aufsichtsbehörden wurde denn auch konsequenterweise Wiedergutmachung, der Verzicht auf Verjährung, Akteneinsicht, unabhängige Forschung und Entschuldigung für die erlittenen Misshandlungen gefordert.
Fiona Lorenz