(hpd) Zum 50. Todestag des niederländischen Astronomen Anton Pannekoek, der als Naturwissenschaftler und Gesellschaftstheoretiker bekannt wurde. Bemerkenswert ist Pannekoeks Kritik des Atheismus.
Eine Betrachtung von Klaus Blees
Vor 50 Jahren, am 28. April 1960, starb der niederländische Astronom Anton Pannekoek. Geboren wurde er am 2. Januar 1873. Außerhalb von Fachkreisen bekannt wurde Pannekoek, nach dem das astrophysikalische Institut der Universität Amsterdam benannt ist, vor allem als marxistischer Theoretiker und kommunistischer Aktivist. Er gehörte vor dem Ersten Weltkrieg sowohl der niederländischen als auch der deutschen sozialdemokratischen Partei an, schrieb für verschiedene sozialdemokratische Zeitungen, unter anderem das SPD-Theorieorgan Die Neue Zeit und war Dozent an der Parteischule der SPD.
Als Vertreter des linken Parteiflügels war der Weg- und Kampfgefährte Rosa Luxemburgs entschiedener Kriegsgegner, der Erste Weltkrieg führte zum Bruch mit der Sozialdemokratie. Innerhalb der kommunistischen Bewegung wurde er bald zu einem der wichtigsten Gegenspieler Lenins und einem immer schärferen Kritiker der bolschewistischen und dann stalinistischen Parteidiktatur. Lenins Streitschrift Der “linke Radikalismus”, die Kinderkrankheit im Kommunismus richtete sich hauptsächlich gegen Pannekoek und dessen Freund Herman Gorter. Die Verhältnisse in der Sowjetunion betrachtete Pannekoek nicht als Sozialismus, sondern als den russischen Bedingungen spezifisch entsprechende Ausdrucksform des Kapitalismus, also als Staatskapitalismus.
Für Pannekoek als einem der bedeutendsten Theoretiker des Rätekommunismus war eine kommunistische, befreite Gesellschaft nur auf dem Weg der revolutionären Initiative und Selbstverwaltung der Arbeiter zu erreichen. Parteien lehnte er als Organisationsform der kommunistischen Bewegung daher ebenso ab, wie er den Parlamentarismus als dem Kampf der Arbeiter nicht mehr angemessenes Mittel ausschloss. Wegen dieser Organisationsvorstellungen wird er des Öfteren den Anarchisten bzw. Anarchosyndikalisten zugeordnet, verstand sich aber selber bis an sein Lebensende als orthodoxer – nicht zu verwechseln mit dogmatischer – Marxist. Lenins erwähntes Pamphlet hat wesentlich dazu beigetragen, Pannekoek das Image eines ultralinken Sektierers zu verpassen, der er nie gewesen ist. In seinem 1938 veröffentlichten Buch Lenin als Philosoph rechnete Pannekoek dann mit den erkenntnistheoretischen Grundlagen des Bolschewismus ab, die Lenin 1908 in seiner die Ideologie der moskauorientierten Dritten Internationale entscheidend prägenden Schrift Materialismus und Empiriokritizismus formuliert hatte.
Zweierlei Materialismus
Der Naturwissenschaftler und Gesellschaftstheoretiker Pannekoek setzt sich in diesem Buch wie in zahlreichen anderen Schriften mit den Grundlagen von Erkenntnistheorie und der Frage auseinander, was unter einer materialistischen im Gegensatz zu einer idealistischen Weltanschauung verstanden wird oder zu verstehen ist und worin sich der Marxsche historische Materialismus vom bürgerlichen, mechanischen Materialismus unterscheidet. Allen Spielarten des Materialismus ist gemeinsam, die “äußere Welt” als das Primäre zu betrachten, aus der sich “geistige Vorgänge wie Gefühle, Bewußtsein und Gedanken ableiten”. (1) Damit stehen die Materialisten im Gegensatz zu den Idealisten, die in der “absoluten Idee”, in Gott oder sonst einer geistigen oder übernatürlichen Wesenheit den Ursprung der Welt sehen. Der wesentliche Unterschied zwischen dem bürgerlichen, naturwissenschaftlichen und dem historischen Materialismus ist, dass ersterer das Geistige als Produkt von “physisch-chemisch-biologischen Vorgängen in der Materie des Gehirns”(2) begreift, während letzterer davon ausgeht, “daß die Gedanken des Menschen von seiner gesellschaftlichen Umwelt bestimmt werden” (3). Zwar setzt auch der historische Materialismus die naturgesetzliche Bedingtheit der Bewusstseinsvorgänge voraus, geht aber qualitativ darüber hinaus und sieht die entscheidende Fragestellung woanders.
Der Mensch ist ein gesellschaftliches Wesen, sein Bewusstsein wird durch die gesellschaftlichen Verhältnisse, in die er hineingeboren wird, bestimmt, einschließlich der dort präsenten Überlieferungen vorangegangener Gesellschaftsformationen. Bedingtheit ist auch nicht, wie der mechanische Materialismus suggeriert, ein die Menschen einseitig bestimmender Vorgang, sondern diese sind tätige, arbeitende Wesen, die ihre Welt beständig verändern. Menschen gebrauchen Werkzeuge als künstliche Organe, die im Laufe der Menschheitsgeschichte immer weiter entwickelt wurden bis hin zur rasanten technologischen Entwicklung im Kapitalismus. Die Naturwissenschaften haben die unbegriffenen und deshalb höheren Mächten zugeschriebenen Naturkräfte durchschaubar und beherrschbar gemacht. Die materialistische Gesellschaftswissenschaft erhellt die Triebkräfte der Gesellschaft, vor allem der kapitalistischen, denen, “durch die Gesamtheit der Menschen bewirkt, aber ohne bewußte Absicht oder Plan”(4), die Akteure hilflos ausgeliefert sind. Indem der historische Materialismus diese Kräfte verständlich macht, schafft er Voraussetzungen für die revolutionäre Umgestaltung der Gesellschaft und damit für den bewussten Umgang mit ihnen.
Pannekoeks Revolutionshoffnungen mögen heute als naiv und überholt erscheinen, aber seine Aktualität zeigt sich nicht zuletzt in der kritischen Auseinandersetzung mit dem mechanischen Materialismus, der im Gewand des “Neuen Atheismus” eine Renaissance erfährt. Wenn er etwa feststellt, dass Menschen zwar durch ihre gesellschaftliche Umwelt bestimmt sind, diese aber selbst schaffen und in der Lage sind, ihr Leben selbst in die Hand zu nehmen, steht er in Widerspruch zu Hirnforschern wie Singer, Roth oder Markowitsch, die aus ihren Befunden die Berechtigung glauben ableiten zu können, die Existenz eines freien Willens und damit der Handlungsfreiheit zu dementieren. Seine Kritik lässt solche Auffassungen als philosophische Ladenhüter erscheinen, die jetzt umetikettiert wieder auf den Markt geworfen werden, mit gegenaufklärerischen Konsequenzen.
Kritik der Erde statt Kritik des Himmels
Bedeutsam in diesem Zusammenhang ist Pannekoeks Kritik des Atheismus. So sagt er: “Religion ist nicht einfach ein von Priestern und Herrschern erfundener Aberglaube, der durch atheistische Propaganda bekämpft werden kann. Sie ist ebensowenig eine bloße Wirkung der Unwissenheit, die durch Belehrung mittels Naturwissenschaft vernichtet werden kann. Sie entsteht aus der Unfähigkeit der Menschen, ihr eigenes Schicksal zu beherrschen.” (5) “Nur ein klares Verständnis dafür, welche Kräfte die Gesellschaft treiben und wie das Denken und Handeln der Menschen durch wirtschaftliche Lebensverhältnisse bestimmt werden, macht den Glauben in übernatürliche Erklärungen überflüssig und sinnlos. Aber ohne dieses Verständnis ist Unglauben, Atheismus gerade so gut ein dogmatischer Glauben, ohne festes Fundament.” (6) Pannekoek greift den Atheismus folglich nicht aus einer religiösen Perspektive an, sondern im Gegenteil als Lehre, die nur an der Oberfläche kratzt, nicht radikal ist, also nicht zu den Wurzeln der gesellschaftlichen Verhältnisse vordringt, welche die Religion erst hervorbringen.
Religionen entwickeln und verändern sich, in Abhängigkeit von gesellschaftlichen Kämpfen. Im Feudalismus war die Kirche Stütze der Fürsten- und Adelsherrschaft und selbst Großgrundbesitzerin. Sie war eine Art “Obermonarchie über die ganze Christenheit” und “die hauptsächlichste ausbeutende Macht”. (7) Religion und Herrschaft waren unmittelbar verflochten. Deshalb äußerte sich Widerstand gegen diese Ausbeutung als Ketzerei. Das um die Macht kämpfende Bürgertum sammelte sich “unter der Fahne der Erneuerung der Religion, als Reformation (...). In den Klassenkämpfen des 16. und 17. Jahrhunderts waren die Religionen, was im 19. Jahrhundert die politischen Parteien waren, die lebendigen Organisationen des Klassenkampfes – später versteinerten sie zu Kirchen mit toten Dogmen.” (8)
Im radikalsten Teil des revolutionären Bürgertums entwickelten sich materialistische Anschauungen. Die Naturwissenschaften waren Voraussetzung der Technik, der Entwicklung der Produktivkräfte in einem bisher ungekannten Ausmaß und der Herausbildung der kapitalistischen Produktionsweise. Die von ihnen entdeckten Gesetzmäßigkeiten schlossen jedes willkürliche Eingreifen einer höheren Macht aus. Angesichts der untrennbaren Verbindung von Religion und feudaler Herrschaft schloss der Kampf des Bürgertums gegen letztere den Kampf gegen diese Religion untrennbar ein. “Und wo der Kampf schwer und heftig wurde, (...) gewann der Materialismus eine größere Bedeutung.” (9)
Pannekoek versucht auch zu erklären, warum die Bourgeoisie, zur Herrschaft gelangt, ihre religionskritische Haltung verlor und sich im Bürgertum wieder religiöse, mystische und abergläubische Vorstellungen entwickelten. Denn der Optimismus der bürgerlichen Gesellschaft, die Erwartung eines allgemeinen Wohlstands und der Glaube, alle Probleme seien lösbar, wurde durch die gesellschaftliche Entwicklung dementiert. Verheerende Kriege und Krisen und das Gespenst der kommunistischen Revolution durch die für ihre Befreiung kämpfende Arbeiterklasse führten, unverstanden, zu neuer Unsicherheit und zum Rückgriff auf übernatürliche Erklärungs- und Tröstungsversuche.
Mit der Herausbildung der sozialistischen Arbeiterbewegung wurde Religionslosigkeit erstmalig in der Geschichte der Menschheit zur Massenerscheinung, aber eben nicht durch atheistische Propaganda, sondern indem die Arbeiter die Ursachen und Lösungsmöglichkeiten ihres Elends im praktischen Kampf kennen lernten. Die Auseinandersetzung mit der Wirklichkeit ließ “das überlieferte phantastische Denken verblassen und allmählich verschwinden” (10). Warum die Entwicklung zur Areligiosität in der Arbeiterbewegung dann doch an ihre Grenzen stieß, erörtert Pannekoek ebenfalls, macht unter anderem die “reformistische Entartung”, das Mitläufertum infolge der sozialdemokratischen Wahlerfolge und den Umstand dafür verantwortlich, dass die kapitalistische Herrschaft sich doch als mächtiger erwies, als man geglaubt hatte. Manche Einschätzungen Pannekoeks sind mit Recht als naiver Optimismus zu charakterisieren, doch wurden sie vor einem Dreivierteljahrhundert formuliert, als Entwicklungen, die wir heute kennen, noch nicht absehbar waren. Sichtbar für die, die sehen wollten, war allerdings damals schon, dass sich Faschismus und Nationalsozialismus auch auf die Arbeitermassen stützten, wenngleich man sich über die Dimensionen der Verbrechen, die diese Bewegungen dann begehen sollten, noch Illusionen machen konnte.
Klaus Blees ist Mitarbeiter der Aktion 3.Welt Saar.
Nachdruck mit freundlicher Genehmigung der MIZ-Redaktion. Der Artikel wurde in der aktuellen Ausgabe 1/2010 der MIZ veröffentlicht.
Anmerkungen:
(1) Pannekoek, Anton: Materialismus und historischer Materialismus. 1942. Zitiert nach: Pannekoek, Anton: Arbeiterräte. Texte zur sozialen Revolution. Fernwald 2008, S. 599-614, hier S. 610.
(2) Ebenda, S. 611.
(3) Ebenda, S. 610.
(4) Pannekoek, Anton: Kommunismus und Religion. 1936. Zitiert nach: Pannekoek, Anton: Arbeiterräte. Texte zur sozialen Revolution. Fernwald 2008, S. 504-514, hier S. 510.
(5) Ebenda, S. 508.
(6) Ebenda, S. 513.
(7) Ebenda. S. 504.
(8) Ebenda.
(9) Ebenda, S. 506.
(10) Ebenda, S. 512.
Empfehlenswerte Literatur:
Pannekoek, Anton: Arbeiterräte. Texte zur sozialen Revolution. Fernwald: Germinal Verlag 2008. Neben Pannekoeks Hauptwerken Arbeiterräte und Lenin als Philosoph enthält der umfangreiche Sammelband zahlreiche Aufsätze aus den Jahren 1927 bis 1955.
Brendel, Cajo: Anton Pannekoek – Denker der Revolution. Freiburg: ca ira Verlag 2001. Brendel, der mit Pannekoek zusammenarbeitete, gibt mit dieser Monographie eine gut lesbare Einführung in Pannekoeks Gesamtwerk.
Foto: "picture courtesy of the Astronomical Institute Anton Pannekoek, University of Amsterdam"