Islamistische und nationalchauvinistische Agitationen zur EM

Was ist ein "united by football" wert?

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Fanzone in Istanbul zur EM 2024
Fanzone Istanbul

Ob Anschlagsdrohungen, ISIS-Finger, rassistische Parolen oder nationalislamistische Wolfsgrüße: Die Europameisterschaft wurde zur Bühne faschistischer Ereignisse. Das Diversity-Marketing der UEFA interessiert türkische Reaktionäre nur in selbstgerechter Weise. Denn: Die Botschaft der Türkei wirft den Kritikern des Wolfsgrußes "Fremdenfeindlichkeit" vor und sie bagatellisiert die Geste zu einem bloßen "kulturellen Symbol". Islamisten und (ausländische) Rechtsextreme beherrschen längst die Nomenklatur des Scheuklappen-Antirassismus.

Ein mediales Beben löste der türkische Nationalspieler Merih Demiral aus, als er beim 2:1 der Türkei im Achtelfinale gegen Österreich seinen Torjubel mit dem Erkennungsmerkmal der islamo-rechtsextremen Grauen Wölfe unterstrich. Zuvor provozierten immer wieder etliche Türkeifans mit dem Wolfsgruß. Innenministerin Nancy Faeser hatte Demirals-Handzeichen scharf als Symbol von Rechtsextremismus und Rassismus kritisiert sowie harte Konsequenzen gefordert. Das türkische Außenministerium teilte letzten Mittwoch mit: "Die Reaktionen der deutschen Behörden auf Herrn Demiral sind selbst fremdenfeindlich."

Kurzerhand entschied sich auch der "Rudelführer" Erdoğan (Düzen Tekkal) höchstpersönlich, seine Reisepläne nach Aserbaidschan umzuwerfen und, um der türkischen Mannschaft den Rücken zu stärken, einen Halt für das Spiel am vergangenen Samstag in Deutschland einzulegen. Nachdem die UEFA Demiral dann für die nächsten zwei Spiele sperrte und Aussichten auf Einspruch seitens des türkischen Verbandes unmöglich schienen, reagierte die türkische Botschaft mit einer erneuten Einlassung der Opferrolle: "Diese Entscheidung hat die Einschätzungen verstärkt, dass die Tendenz zu voreingenommenem Verhalten gegenüber Ausländern in einigen europäischen Ländern zunimmt", hieß es in einer Meldung.

"Voreingenommenheit" ist weder der Dienstherrin des Verfassungsschutzes, Nancy Faeser, noch der UEFA vorzuwerfen. Vergegenwärtigt man sich, welchen Anstoß der auch nach ersten Beanstandungen wieder präsentierte Tauhid-Zeigefinger des deutschen Nationalspielers Antonio Rüdiger unter Islamkritikern genommen hat und wie trotz des Medienrummels keine Folgen für Rüdiger eintraten, kann die Reaktion bei Demiral eher als nachträgliches Durchgreifen denn als Willkür verstanden werden, um Vertrauensbrüchen entgegenzuwirken. Weiter noch: Demiral erhielt dieselbe Strafe wie Albaniens Stürmer Mirlind Daku, der nach der Partie gegen Kroatien den radikalnationalistischen Gesang "Tötet die Serben, tötet die Mazedonier" mit angestimmt hatte und für zwei EM-Spiele von der UEFA blockiert wurde.

Islamismus und Rechtsextremismus als gegenseitige "Brandbeschleuniger"

Die politische Debattenlandschaft von Rechts- bis Linksaußen instrumentalisierte den Wolfsgruß-Skandal auf ihre gewöhnlich eigene Art der Diskursverengung. Rechtspopulisten thematisierten ausschließlich die Pose Demirals und schwiegen zu übersteigerten nationalistischen Entgleisungen deutscher, österreichischer, albanischer sowie serbischer Fans oder Spieler – vermutlich um einen weiteren Vorwand für die Stigmatisierung von Türken oder Muslimen zu finden. Antirassistische Linke beklagten, man solle nicht nur "auf den Türken herumhacken", sondern den "Nationalismus, Rassismus und Sexismus" von Engländern, Italienern und Ungarn genauso problematisieren. Den einen ihr Fingerzeig-Rassismus, den anderen ihr "Ja, aber"-Entlastungsargument.

Tatsächlich sind Rechtsextremismus und Islamismus gegenseitige "Brandbeschleuniger", wie Sineb El Masrar im Spiegel konstatierte: "Die antiislamischen Positionen der Rechtsextremen stärken das islamistische Narrativ, dass Muslime im Westen unterdrückt seien. Islamistische Anschläge oder Gewalttaten von Muslimen, die unter anderem auch wegen ihrer islamistischen Indoktrination mit Gewalt und Terror auffallen, befördern den Rechtsruck."

Nicht nur aus diesem Grund bedarf es einer zumindest unvollständigen Auflistung aller bekannten islamistischen und rechtsextremen Vorfälle im Zusammenhang mit der EM:

  • Der IS-Ableger Islamischer Staat Provinz Khorasan (ISPK) hat drei Städte in Deutschland zu potenziellen Anschlagszielen während des Turniers erklärt. Konkret wurden die Städte Berlin, Dortmund und München genannt. Im IS-Propagandamagazin "Stimme von Khorasan" erschien der Aufruf.
  • Am Flughafen Köln/Bonn wurde ein mutmaßlicher IS-Unterstützer festgenommen, der sich um eine Akkreditierung als Ordner bei der Fußball-EM bemüht hatte. Der Gefasste steht unter Verdacht im September 2023 fast 1.700 US-Dollar auf ein Konto der genannten ISPK-Terrorgruppe überwiesen zu haben.
  • Kurz vor Beginn der EM präsentierte der deutsche Nationalspieler Rüdiger erneut den erhobenen Zeigefinger. Dieses Mal, nach dem vorausgegangenen Kritikhagel, als Porträtfoto im Trikot der Nationalelf. Ursprünglich stand der Finger für den islamischen Monotheismus, der Singularität und Einheit Gottes. Spätestens seit dem Schlachtzug des Islamischen Staates 2014 ff. ist der Fingerzeig als Terroristencode bekannt. Unter ihm fand der Genozid an den Jesiden statt.
  • Weiterhin ist unklar, ob die beiden folgenden Ereignisse in einem politischen Motiv wurzeln, allerdings sind sie von öffentlichem Interesse:
    1. Beim Auftaktspiel Deutschland – Schottland hat in Wolmirstedt (Sachsen Anhalt) ein 27-jähriger Afghane zuerst einen 23-jährigen anderen Afghanen mit einer Stichwaffe tödlich verletzt und im Anschluss mehrere Personen auf einer nahegelegenen privaten EM-Party attackiert. Die Polizei erschoss den Angreifer an Ort und Stelle.
    2. Auf der Hamburger Reeperbahn streckte die Polizei einen Mann nieder, der mit einem Molotow-Cocktail und einem Schieferhammer bewaffnet Einsatzkräfte unweit des Fan-Marsches der Holländer bedrohte. Der Angreifer war ein polizeibekannter Gewalttäter und offenbar schizophren. Auf seiner Hand befand sich ein übertätowiertes Hakenkreuz. Über Instagram kündigte er seine Tat mit einem Foto an, auf dem die Flasche mit dem Brandsatz mit dem unter anderem rechtsextremen Kürzel "HH" versehen war.
  • Deutsche Fans zeigten beim Eröffnungsspiel und im Achtelfinale gegen Dänemark den Hitlergruß.
  • Auch ungarische Fans fielen im Kontext des Deutschlandspiels mit Hitlergrüßen und sexistischen Bannern sowie mit einem "Anti-Antifa-Plakat" auf.
  • Beim Spiel Türkei – Tschechien wurde ein 67-jähriger Kurde namens "Onkel Sait" von einem rasenden PKW des Autokorsos der türkischen Fans erfasst – mit Todesfolge. Ein politischer Vorsatz ist unklar, allerdings verdeutlicht die Tat eine rücksichtslose, gefährliche Selbstüberhöhung jener türkischen Fans. Überdies kursierten im Rahmen dieser Partie Fotos feiernder Türkeianhänger mit einer Flagge der Grauen Wölfe.
  • Englandfans posierten mit einem fremdenfeindlichen Plakat, auf dem "Stop the Boats" stand – eine Anspielung auf Asylbewerber, die mit Booten den Ärmelkanal überqueren.
  • Albanische Fans inszenierten sich vor dem Spiel gegen Italien mit einer Großalbanien-Fahne, die Teile von Montenegro, Serbien, Nordmazedonien, Griechenland und den gesamten Kosovo inkludierte. Gemeinsam mit dem erwähnten Stürmer Mirland Daku skandierten kroatische und albanische Fans antiserbische Tötungsaufrufe. Weiterhin waren im Block serbien- und kosovofeindliche Plakate zu sehen. Ebenfalls verbrannten albanische Fans eine serbische Fahne.
  • Kroatische Fans huldigten vor dem Spiel gegen Spanien dem Kriegsverbrecher Slobodan Praljak und trugen Embleme einer neofaschistischen Miliz.
  • Serbische Fans zeigten prorussische Schriftzüge. In München riefen sie vor dem Spiel gegen Dänemark "Putin, Putin". Zudem ließen sich serbische Fans mit der Fahne einer ultranationalistischen Miliz, die Kriegsverbrechen begangen hat, ablichten.
  • Englische Medien informierten darüber, dass Affenlaute aus dem serbischen Fanblock in Richtung der Engländer zu hören waren.
  • Im österreichischen Fanlager wurde während des Spiels gegen Polen ein Banner mit der Aufschrift "Defend Europe" gehisst. Dabei handelt es sich um einen Claim der völkischen Identitären Bewegung.

Keine Randerscheinung, sondern ein Massenphänomen

Demirals Wolfsgruß war nur der vorläufige Höhepunkt der ultranationalen türkischen Machtdemonstration. Spätestens mit der Stippvisite Erdoğans am Samstag entwickelte sich das letzte Türkeispiel gänzlich zum politischen Spektakel. Bereits im Vorfeld des Spiels kam es zu mehreren Solidaritätsbekundungen türkischer Offizieller oder Fans mit Demiral. Die türkische Armee veröffentlichte ein Propagandavideo, in dem sie mit martialisch-mystischer Begleitmusik unter den Worten "Nationaler Geist, nationale Kraft" für den Sieg gegen die Niederlande trommelte. Türkische Ultras hatten dazu aufgerufen, im Stadion massenhaft den Wolfsgruß darzubieten. Schließlich nahm am Samstag in der VIP-Loge der ehemalige deutsche Nationalspieler Mesut Özil eine Reihe hinter Recep Tayyip und Emine Erdoğan Platz.

Özil wurde einst als integrierter Vorzeigemigrant zelebriert, geriet dann jedoch später wegen seiner Erdoğan-Treue, seiner offenen Sympathie mit den Grauen Wölfen und wegen seines Antisemitismus in die Kritik. Heute fungiert er – immer dann, wenn eigentlich eine ehrliche Auseinandersetzung mit der Persistenz von türkischem Nationalislamismus vonnöten wäre – als prominenter Vorbringer des Strohmann-Arguments, dass jeder Tadel "Rassismus" oder "Respektlosigkeit" gegenüber kulturellen Konventionen sei. Noch vor dem Spiel verteidigte auch der Ex-Bayernstar Hamit Altintop im Interview die problematisierende Beurteilung der Wolfsgruß-Geste als "Falschinformation" und Unwissenheit gegenüber der "Kultur der Türkei". Man solle einen "Historiker dazu holen", um die "unfaire" Einordnung geradezubiegen.

Mit diesem namhaften Rückenwind wähnten sich Erdoğan-loyale Türkeifans und Sympathisanten der Grauen-Wölfe-Bewegung am Samstag auf der sicheren Seite. Ein Fanmarsch von 5.000 bis 6.000 Fans musste wegen wiederholter Zurschaustellung des Wolfsgrußes von der Polizei in Berlin aufgelöst werden. Während der Nationalhymne formten tausende türkische Fans im Olympiastadion ihre Hände zum Wolfskopf. "Bilder, die die UEFA nicht gezeigt hat", kommentierte ARD-Korrespondent Andreas Kynast auf X. Sobald niederländische Spieler am Samstag im Ballbesitz waren, erwiderte der türkische Stadionmob die Aktion mit einem beispiellosen frenetischen Pfeif- und Buhkonzert, wie es sich längst im zivilisierten Fußball verbietet. Nach der Niederlage kam es dann zu Ausschreitungen von frustrierten Türkeianhängern in der Berliner und Dortmunder Fanzone.

Keine Einzelfälle, keine Randerscheinung, sondern ein Massenphänomen. Die selektive Empörung besteht nicht darin, dass einzelne türkische Fauxpas "herausgepickt" wurden, sondern darin, dass das Ausmaß des türkischen Nationalislamismus wahrhaftig rechtsextreme Geschmacklosigkeiten anderer EM-Nationen in den Schatten stellt und der Aufschrei im Vergleich dazu noch lauter und konsequenter hätte sein müssen. Selbstredend entflammen Diskussionen über Integrationsversagen, weil ein Gros der Wolfsgrußzeiger deutsch-türkischer Herkunft ist und türkische Faschisten mit über 12.000 Mitstreitern die größte rechtsextreme Bewegung in Deutschland bilden. Bemerkt man dazu, dass die Anhänger über einen Migrationshintergrund verfügen und ihr Rekrutierungsmilieu in Relation zur Mehrheitsgesellschaft eine Minderheit darstellt, dürfte die Dimension der Herausforderung mit Nachdruck unterstrichen werden.

Verweise türkischer Repräsentanten, die den Wolfsgruß als Folklore identifizieren, sollen gegen Kritik immunisieren, gleichzeitig ebnen sie eine Richtung, die zu weiterer Nachforschung motiviert. Auf welchen Bedeutungsinhalt und welche Kulturgeschichte blicken die Grauen Wölfe zurück?

National-islamische Symbiose

Zum Wolfsgruß als Symbol türkischer Rechtsextremisten wurde schon viel gesagt. Der hpd publizierte bereits 2020 einen Grundlagentext. Graue Wölfe firmieren in der Türkei geläufiger unter der Eigenbezeichnung Ülkücü ("Idealisten"), die sowohl eine Denkrichtung als auch eine Bewegung impliziert. Idealisten sind unter Türken keine Splittergruppe, sondern an der türkischen Regierung beteiligt und auch in der Opposition vertreten. Missbilligungen des Wolfsgrußes können nationale Befindlichkeiten von Türken triggern, weil Idealisten sich auf nationale Mythen und den Volksislam berufen.

Recep Tayyip Erdoğan regiert in der Türkei mit einer Koalition aus der ultrakonservativen AKP und der MHP (Partei der Nationalistischen Bewegung). Neben der BBP (Partei der großen Einheit) ist die MHP der parlamentarische Arm der Ülkücü. Deniz Yücel wies in einem Facebookposting unter anderem darauf hin, dass sozialdemokratisch-kemalistische Politiker wie Erdoğans Kontrahent Kemal Kılıçdaroğlu oder der Istanbuler Oberbürgermeister Ekrem Imamoğlu bereits mit dem Wolfsgruß dokumentiert wurden. Selbst bei den Gezi-Protesten wurden Idealistengrüße neben prokurdischen Aktivisten geduldet. Selbst wenn diese Gesten eine Taktik waren, um enttäuschte MHP-Anhänger oder rechtsradikale Oppositionelle zu gewinnen, zeigt es Yücel zufolge, "dass der Wolfsgruß in der Türkei nicht überall verpönt ist – wie zur MHP, trotz ihrer gewalttätigen Geschichte und ihren Verbindungen zur organisierten Kriminalität, noch nie eine 'Brandmauer' existierte."

Was auch mit der Etablierung von turanistischen Erzählungen in der türkischen Erziehung und Staatspropaganda zu tun haben kann: Der Begriff Turan kennzeichnet ein märchenhaftes Siedlungsgebiet in Zentralasien. Die Ideologie des Turanismus oder Panturkismus, ein Kernelement der Ülkücü, verfolgt die Vereinigung aller Turkvölker von Wien bis nach China qua gemeinsamer Abstammung in einem großtürkischen Reich. Aus diesem Grund wurde auch der Sieg gegen Österreich als "dritte Türkenbelagerung Wiens" glorifiziert. Graue Wölfe definieren Turkvölker als rassisch überlegen und begründen dadurch ihren trikontinentalen Expansionsdrang, der in Form der Flagge mit den drei Sichelmonden illustriert wird.

In der vorislamischen türkischen Mythologie versinnbildlichen Wölfe ganz zentral "Tapferkeit", "Stärke", "Ehre" und "Agilität", sie sind hochgeschätzte Wesen. Im Mittelpunkt vom Totem des Grauen Wolfes stehen die sogenannte Ergenekon-Legende und die Sage rund um Wölfin Asena. Dem Ergenekon-Narrativ nach wurde das türkische Volk aus einem vier Jahrhunderte alten "Gefängnis" von einem grauen Wolf in Richtung Sicherheit befreit. Die Geschichte von Asena erzählt die Abstammung der Turkvölker. Im alten China war ein kleiner Junge der letzte Überlebende eines türkischen Stammes. Die Wölfin Asena fand den Jungen, zog ihn auf und vereinigte sich mit ihm. Wölfin Asena gebar einen Jungen, halb Mensch, halb Wolf – die neue Basis des Turkvolkes.

Diese Legenden kamen gänzlich ohne islamische Theologie aus. Stramme Turanisten, zu denen nach Yücel der Ülkücü-Vordenker Nihal Atsız gehörte, waren Atheisten, die den Islam verabscheuten und die rassische Überlegenheit der Türken aus der Nation ableiteten. Rasch nach der MHP-Parteigründung 1969 wandte sich der damalige Parteivorsitzende Alparslan Türkeş vom bloßen Turanismus ab und brachte den Islam mit ins Spiel. Türkeş erklärte die "Türkisch-Islamische Synthese" zur Leitideologie, die in der Bedeutung der Grußform des Wolfes zur Geltung kommt: "Schau her, der kleine Finger symbolisiert den Türken, der Zeigefinger den Islam. Der beim Wolfsgruß entstehende Ring symbolisiert die Welt. Der Punkt, an dem sich die restlichen drei Finger verbinden ist ein Stempel. Das bedeutet: Wir werden den Türkisch-Islamischen Stempel der Welt aufdrücken."

Seitdem berufen sich Idealisten nicht nur auf präislamische nationale Mythen, sondern ebenfalls auf den Islam als völkische Substanz des Türkentums. Die Symbiose von Politischem Islam und ultranationalem Imperialismus drückt sich im Symbol der drei Halbmonde aus, die mal auf rotem (Nation) und mal auf grünem (Islam) Grund prangen. Ebenfalls zeigten türkische Soldaten beim Überfall auf die kurdische Stadt Afrin 2018 gleichzeitig den Wolfsgruß und das Rabia-Zeichen der islamistischen Muslimbruderschaft. Auch Erdoğan lichtete sich bereits mit beiden Codes ab. In einem Facebook-Beitrag bebilderte ein Austrotürke am Beispiel Demirals die Verschmelzung von Nationalismus und Islam: Zuerst postete er Merih Demiral mit doppeltem Wolfsgruß, anschließend das Bild von Demiral inklusive Familie bei der Pilgerfahrt in Mekka. In den Augen Alparslan Türkeş' der "ideale Türke".

Aufgrund dieser weltanschaulichen Verbindung bieten sich für die Ideologiebeschreibung der Grauen Wölfe auch die Begriffe "nationalislamistisch" oder "islamo-rechtsextrem" an. Gemäß dem Ülkücü-Eid ist die Gesinnung der Grauen Wölfe antidemokratisch, antiliberal und antikommunistisch. Zu ihren Feindbildern gehören Juden, Christen, Armenier, Jesiden, Griechen, Kommunisten, Freimaurer, Israelis beziehungsweise "Zionisten", die EU und die Vereinigten Staaten von Amerika. Die Ülkücüs haben etliche politische Morde zu verzeichnen. Innerhalb sowie außerhalb der Türkei sind sie als paramilitärische "Anti-Terror-Einheit" mit der Jagd auf Dissidenten befehligt. Gleichzeitig leiten sie auch in Deutschland Kulturvereine, Fußballclubs, mischen in der Kommunalpolitik mit, betreiben Moscheen und sind popkulturell, allerdings bedrohlich in Rockerclubs wie den "Osmanen Germanias", unterwegs.

Mehr zu den Strukturen und der Strategie der Grauen Wölfe in Deutschland hier: "Niemand kann auf Dauer eine Maske tragen".

Geschäftsmodell "Antirassismus" als anything goes

Mit der natürlich einseitigen Ülkücü-Bezugnahme auf türkische Kultur, Identität, Religion und – für Westler – allochthone Geschichtsschreibungen führen Graue Wölfe ihre natürlichen Gegner (Linke und Liberale) aufs Glatteis. Der Siegeszug der Kulturrassismusthese, jenes sogenannten "Rassismus ohne Rassen" (Étienne Balibar, 1988 und Stuart Hall, 1989) zog einen Verlust an antifaschistischer Urteilsfähigkeit nach sich. Zusätzlich eröffnete sich ein Spielraum, in dem jede minoritäre Identität einen Persilschein ausgestellt bekommen kann, solange sie sich vermarkten lässt. Die grotesken Folgen davon fanden im Fall Demiral ihren Ausdruck.

Damals, beispielsweise bei der WM 2010, waren Public Viewings oft nahezu homogene Zusammenkünfte von deutsch-deutschen Fußballfans, die nicht selten unangenehm für Migranten oder Sympathisanten anderer Nationalmannschaften enden konnten. Die obige Aufzählung ("Islamismus und Rechtsextremismus als gegenseitige 'Brandbeschleuniger'") signalisiert zwar, dass nationaler Chauvinismus noch immer nicht vom Rasen, Stadion oder Fan-Event verschwunden ist, jedoch sind die Selbstbilder von Gastgebernation und UEFA andere. Heute ergänzt der ZDF-Kommentator Oliver Schmidt die Zeile "Einigkeit und Recht und Freiheit" der deutschen Nationalhymne beim Eröffnungsspiel mit dem Zusatz "und vor allem Vielfalt". Analog dazu lautet die Agenda der UEFA für die EM 2024 "united by football". Ähnlich wie die "One Love"-Armbinde wurde das rosafarbene Deutschlandtrikot als Bekenntnis zu Diversität eingeführt. Zugespitzt gesagt: Deutschland ist bunt statt braun.

Man müsste annehmen, dass die Europameisterschaft bei diesem Anspruch ein ausschließliches Happening der Völkerverständigung sei und Rassismus die rote Karte erteilt werde. Formal widersprüchlich ist allerdings, wenn diesmal der größte rechtsextreme Skandal von einem muslimischen Türken ausgeht und die Verteidiger den Klägern "Fremdenfeindlichkeit" vorwerfen. Ein Resultat, das, wie sich zeigen wird, angesichts der Metamorphose des Antirassismus nur folgerichtig ist. Als Neonazis nicht mehr ungefiltert von "minderwertigen Rassen" sprachen, sondern Ersatzbezeichnungen mit den Begriffen "Ausländer", "Türken" oder "Moslems" fanden, kehrte die Linke einfach den Spieß um. Jenes "die sind wegen ihrer Kultur so" gilt bei völkischen Rassisten als Rechtfertigung für Hass; bei Antirassisten avancierte der Ausspruch "das ist deren Kultur" zur Romantisierung noch der schlimmsten Verbrechen: Die Poststrukturalistin Judith Butler lobte die Burka als Äußerung orientalischer Authentizität. Islamistische Selbstmordattentate werden von der US-amerikanischen Professorin Jasbir Puar als das neue "queer", "subversiv" und "pervers" gelabelt. Diese "Umwertung aller Werte" (Friedrich Nietzsche) heißt Kulturrelativismus.

Weil Rassisten bestimmte Menschengruppen wegen ihrer vorgeblich unentrinnbaren Kultur herabwürdigen, verfallen Linke dem Trugschluss, entweder nicht-weiße Kulturen hochzujazzen oder Vielfalt als Selbstzweck ohne rote Linien zu verherrlichen. Statt eine Colorblindness zu vertreten, in der Subjekte als Individuen betrachtet werden, gelten Menschen im oberflächlichen Antirassismus in affirmativer Weise als Statthalter ihrer Kultur, Hautfarbe oder sonstiger kollektiver Zugehörigkeit. Nur so sind postmoderne Diskurstrends von sogenannten "situated", nicht-weiß verorteten Positionen möglich. In der Quintessenz findet keine Gleich-, sondern eine Exklusivbehandlung der "Anderen" statt. Eine Überbetonung von Differenz, die Katrin Göring-Eckardt (Die Grünen) unglücklicherweise selbstentlarvend im X-Beitrag über die deutsche Nationalelf zur Schau stellte: "Diese Mannschaft ist wirklich großartig. Stellt euch kurz vor, da wären nur weiße deutsche Spieler."

Im Zeitalter des globalisierten Kapitalismus springen große Konzerne gerne auf den Zug der Diversität mit auf. "Corporate Social Responsibility", die gesellschaftliche Verantwortung von Firmen, ist das Stichwort des unternehmerischen Zeitgeists. Unmissverständlich ist die EM ein Milliardengeschäft und die UEFA profitorientiert. So lässt es sich der Fußballverband nicht nehmen, auch aus Gründen der suggerierten Weltoffenheit, "Visit Qatar" und "Qatar Airways" als offizielle Sponsoren der EM 2024 einzusetzen. Jene Marke, die eine islamistische Monarchie präsentiert, welche Menschenrechte mit Füßen tritt, Homosexualität mit Gefängnis oder Todesstrafe bestraft und die Führungsriege der Hamas beherbergt, die seit 9 Monaten israelische Geiseln im Gazastreifen festhält. Eine Doppelmoral, die sich schon am Verbot der "One Love"-Binde bei der WM 2022 in Katar enttarnte und immer auch dann auffällt, wenn im LGBTQ-Pride Month der Regenbogen nur bei Firmenlogos in westlichen Ländern eingefügt wird, wohingegen die mehrheitlich muslimischen Wirtschaftsstandorte ausgespart werden.

Auf diesem Nährboden aus Kritikverbot kultureller Traditionen und Vermarktung von Differenz konnten das Phänomen Demiral und die türkische Reaktion hervorragend gedeihen. Im Sinne der "Islamopobie"-Definition, einer sogenannten Spielart des Kulturrassismus, der zufolge Menschen, die Skepsis bis Ablehnung gegenüber dem Islam spüren, an "phobischen", also krankhaften Ängsten leiden, hat der Vorsitzende der Grauen Wölfe-Partei MHP recht, wenn er sagt: "Dass er (Demiral, Anm.) seinen Torjubel mit dem Graue-Wölfe-Zeichen verbindet, hat kranke (sic!) Kreise im In- und Ausland gestört und so als Vorwand für verschiedene Erklärungen und Untersuchungen gedient."

Wolfsgruß nicht mit Schweigefuchs verwechseln

Das Fußballgroßevent ist ein Seismograf gesellschaftlicher Entwicklung. Die Sicherheitsgefahr "Islamismus" hält Deutschland weiterhin auf Trab. Und die rechtsextremen Eskapaden sämtlicher nationaler Fangruppierungen spiegeln den beunruhigenden europaweiten Rechtsaußen-Trend wider. Augenscheinlich reiht sich der Eklat des Wolfsgrußes in die Liste der nationalchauvinistischen Ereignisse ein. Zur selben Zeit offenbart der Vorfall auch die Schwachstelle der liberalen Kräfte im Umgang mit reaktionären Bewegungen, die nicht "alt, weiß und biodeutsch" sind. Ein manichäisches Weltbild, in dem Westler permanent aufseiten der Unterdrücker stehen und Menschen des Südens grundsätzlich unterdrückt werden, hält der Wirklichkeit nicht stand. Der größte blinde Fleck der Progressiven scheint es zu sein, dass Minderheiten stets in einer minoritären Situation vorgestellt werden, in der es unmöglich wirkt, andere diskriminieren zu können. Letzten Endes fehlt ein Verständnis dafür, dass bestimmte Minderheiten in ihren Herkunftsgesellschaften nicht zwangsläufig welche sind, sondern auch über Regierungsbeteiligung verfügen können und möglicherweise faschistische Ordnungen mit autoritären Mitteln herbeiführen wollen.

Wenn die Weltoffenen aus falscher Toleranz zum türkischen Nationalislamismus verstummen, erfüllt der Wolfsgruß die Funktion des Schweigefuchses und ihre Gleichgültigkeit wird zum Stempelkissen für Alparslan Türkeş' Erben. Die linken, vielleicht gut gemeinten Sehnsüchte nach Kollektiv, Identität und authentischer Kultur erwiesen sich als Spiegelbild rassistischer Narrative. Rund um Demiral schlugen die türkischen Faschisten mit den Waffen der Identitätspolitik zurück. Es reicht jetzt nicht, die Ülkücü-Kombattanten zu bekämpfen, weil sie imperialistisch und rechtsextrem sind. Das sind sie zweifelsohne und diese Erkenntnis ist zumindest lobenswert. Islamistisch sind sie ebenfalls und die Sprache der scheinbar moderaten Legalisten beherrschen sie im gleichen Maße wie ihre Gesinnungsgenossen der Muslimbruderschaft. Die Hochburg der Muslimbrüder, Katar, ist bereits so weit, dass sie ungeniert die Werbebanner der EM schmückt und dadurch Milliarden einfährt.


Hinweis der Redaktion: Der Vorspann wurde am 12.07.2024 um 15 Uhr überarbeitet.

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