Weltanschauliche Diskriminierung in Europa (II)

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Veranstaltungsflyer

GRAZ. (hpd) Mit der komplexen Thematik der religiös-weltanschaulichen Diskriminierung befasste sich am 27. und 28. Mai 2010 eine internationale Konferenz mit Wissenschaftlern aus ganz Europa im Meerscheinschloss der Universität Graz. Die Tagung veranlasste Gerhard Czermak zu grundsätzlichen Erwägungen über die Diskriminierung von Säkularen in Deutschland, die in zwei Teilen erfolgt.

Teil 2: Diskriminierung der Nichtreligiösen und Folgerungen

In Teil 1 meiner Ausführungen zur religiös-weltanschaulichen Diskriminierung in Europa, einem Tagungsbericht, habe ich mit einem gewissen Erstaunen zur Kenntnis genommen: Alle aus ganz Europa kommenden Referenten sind wie selbstverständlich, und sei es unausgesprochen, von der auch europarechtlich fundierten Gleichberechtigung religiöser und nichtreligiöser Weltanschauungen ausgegangen, sie haben aber dennoch die Diskriminierung der nichtreligiösen Bevölkerung nicht einmal ansatzweise zum Thema gemacht. Einzige Ausnahme war der Verfasser dieser Überlegungen mit seinem Länderbericht Deutschland. Die Suche nach den Ursachen dieses bemerkenswerten Wahrnehmungsdefizits gestaltet sich schwierig.

Situation in Deutschland

a) Für Deutschland ist die Sachlage eindeutig. Die Fülle an staatlichen Vergünstigungen und gesellschaftlich-politischen Wohltaten zugunsten der großen Kirchen ist gewaltig (s. etwa die – unvollständige – Auflistung). Die staatlichen Finanzsubventionen übersteigen die durch Kirchensteuern erbrachten Mitgliedsleistungen um ein Mehrfaches. Das alles bedeutet nicht nur stets eine zumindest indirekte Benachteiligung, wenn nicht direkte Diskriminierung nicht nur aller kleineren Religionsgemeinschaften und der wenigen Weltanschauungsgemeinschaften, sondern aller erklärtermaßen nichtreligiösen Menschen, die das alles mit ihren Steuergeldern finanzieren. Nichtreligiös sind in Deutschland aber nahezu 50% der erwachsenen Bevölkerung, wenn nicht mehr. Es ist daher für Deutschland nicht ohne weiteres zu erklären, warum die säkulare und religiös-weltanschaulich neutrale Verfassung des Grundgesetzes derart missachtet werden kann, obwohl die Kirchen seit Jahrzehnten stetig viele Anhänger verlieren (Mitgliederbestand 1949: weit über 95%, 2010: knapp 60%), und zwar unabhängig von den gerade vieldiskutierten pädagogischen Verbrechen, und einen nachhaltigen Ansehensverlust erlitten haben.

b) Ein Hauptgrund ist die Finanzstärke der großen Kirchen (Subventionierung sowie fragwürdiger staatlicher Kirchensteuereinzug). Sie ermöglicht insbesondere gut alimentierte Seelsorger und leistungsstarke zentrale Kirchenverwaltungen sowie zehntausende örtliche Residenzen. Die Kirchen heften sich die unbestreitbaren Leistungen von nicht weniger als insgesamt etwa 50.000 (fünfzigtausend) kirchennahen sozialen Einrichtungen an ihre Fahnen, obwohl diese Einrichtungen fast völlig durch die öffentliche Hand und die Benutzer finanziert werden und die rechtlich-politische Ermöglichung der kirchlichen Dominanz im Sozialbereich eine große Fehlentwicklung darstellt. Die Kirchen beteiligen sich insgesamt nur mit ca. 1,8-2% Eigenmitteln an den „kirchlichen“ Sozialeinrichtungen, kompensieren mit den ihnen jedoch insgesamt zugeschriebenen Sozialleistungen aber erfolgreich ihre Ansehensverluste, weil sich die Bevölkerung über den wahren Sachverhalt nicht im Klaren ist. Der Abbau kirchlicher Monopole und Teilmonopole ließe das Sozialwesen nicht zusammenbrechen, da Sozialeinrichtungen auch von ideologisch ungebundenen Einrichtungen, etwa kommunalen, in großem Umfang erbracht werden könnten, wie das bis 1961 die Regel war.

c) Die sogenannten christlichen Parteien propagieren sehr stark eine „christliche“ Politik, und konservative, aber religiös andersdenkende Wähler haben keine weltanschaulich neutrale Alternative. In den Medien sind zumindest kommentierende christliche Journalisten schon deswegen „stark überrepräsentiert“ (so der Münsteraner katholische Religionssoziologe Karl Gabriel), weil der religiöse Glaube bei ihnen ein Sendungsbewusstsein produziert. Große Teile der Politik, auch außerhalb der C-Parteien, ließen sich bisher auch deswegen vor den religiösen Karren spannen, weil das „Christliche“ einfach eine starke Tradition hat. Aber die Selbstsäkularisierung ist bei den großen Kirchen vielfach schon so weit fortgeschritten, dass selbst grundlegende kirchliche Lehren von den meisten ihrer formalen Anhänger nicht mehr oder nur teilweise geglaubt werden. Der staatliche Religionsunterricht vermittelt Glaubenslehren nur noch in recht eingeschränktem Umfang, weil sie nämlich den kritischer gewordenen Schülern nicht mehr vermittelbar sind. Jedenfalls ist die religiöse Bildung der einheimisch-traditionellen Bevölkerung trotz oft massiver Beeinflussungsversuche in diese Richtung schon so weit gesunken, dass ihr die zahlreichen völlig unakzeptablen Teile der religiösen Überlieferung gar nicht bekannt sind (hierzu etwa Altes Testament und Archäologie – und Arbeiten von Gerd Lüdemann)

Beispielbild
Gerhard Czermak
Diese Unkenntnis (auch in vielen anderen religiösen Bereichen) macht es geistigen Mit-dem-Strom-Schwimmern leicht, die traditionellen Großkirchen zu akzeptieren. Das geht ja so weit, dass in der Öffentlichkeit den Kirchen Werte zugeschrieben werden wie Solidarität, Menschenrechte, Nächstenliebe, Friedensliebe, Gleichberechtigung von Mann und Frau, Demokratie, Völkerfreundschaft u.a. Diese Werte sind zwar in unserer Gesellschaft erfreulicherweise weithin akzeptiert. Aber sie sind nicht spezifisch christlich und wurden z.T. von den Kirchen bis in die jüngste Zeit erbittert bekämpft (zur Herkunft der Menschenrechte Pfahl-Traughber, dort: Beiträge: 5. Themenkreis). Der Gleichberechtigung von Mann und Frau stemmte sich die katholische Kirche noch in den 1950er Jahren vehement entgegen, und heute spielt sie sich gegenüber den Muslimen auf.

In den neuen Bundesländern ist die evangelische Kirche, mit 20-25% Formalmitgliedern noch die stärkste, so wenig gesellschaftsprägend, dass sich die meisten Einwohner dafür überhaupt nicht interessieren. Viele pflegen die Religion „nicht einmal zu ignorieren“. Sie empfinden die geschilderten Diskriminierungen daher mangels Problembewusstsein nicht als solche, es sei denn im Hinblick auf die Zwangskonfessionalisierung infolge der weit überrepräsentierten kirchlichen Sozialeinrichtungen oder die „Rasterfahndung“, deren Sinn es war, von unkirchlichen Menschen noch Kirchensteuer herauszuholen, wenn sie ihren längst vollzogenen Kirchenaustritt zu irregulären DDR-Zeiten nicht nachweisen konnten.

d) In Deutschland wird wegen der geschilderten Informationsdefizite die – meist nur indirekte –Diskriminierung der Nichtreligiösen wohl insgesamt nur wenig empfunden, zumal Nichtgläubige im Alltag nicht auffallen und allenfalls von „Berufschristen“ und Politikern, vorzugsweise im Hinblick auf Wahlen, abstrakt beschimpft werden als werte-los oder nicht friedensfähig usw. Demgegenüber fallen die religiösen Minderheiten in Deutschland zwar zahlenmäßig kaum ins Gewicht (knapp 2%, ohne Muslime), werden aber leichter als diskriminiert wahrgenommen (z.B. nach wie vor die Zeugen Jehovas, Universelles Leben; staatliche und private Warnungen vor „Sekten“) als die schon beachtlich starken bewusst Ungläubigen.

Ausland

Warum im Ausland die Diskriminierung von Nichtreligiösen auch wissenschaftlich nicht oder kaum erörtert wird, ist untersuchungsbedürftig. So kann man zu Italien ohne weiteres sagen, dass alle Richtungen diskriminiert werden, die nicht katholisch sind. Entsprechendes gilt für die russisch-orthodoxe Kirche in Russland und die katholische Kirche in Polen. Wie sehr „Atheisten“ bzw. „nonbelievers“ in den USA fast allgemein angefeindet werden, ist bekannt. Aber ist das ein ausreichender Grund, sich mit dieser Diskriminierung nicht zu befassen? Die statistischen Probleme sind sehr groß und die Verhältnisse in den verschiedenen Ländern recht unterschiedlich, so dass auch Vergleiche nur schwer zu ziehen sind. So mag der Prozentsatz der überzeugten Nichtgläubigen in vielen Fällen höher sein, als es nach den Statistiken (so überhaupt vorhanden) anzunehmen wäre. Denn da es außerhalb Deutschlands und einiger Kantone der Schweiz keine Kirchenfinanzierung mit staatlichem Kirchensteuereinzug gibt, vom österreichischen Beitragssystem abgesehen, dürfte in den meisten Ländern (auch in den verbliebenen staatskirchlichen Systemen) kein ähnlich großer finanzieller Anreiz wie in Deutschland bestehen, sich von der Kirche förmlich abzuwenden. Es ist dann psychologisch besonders leicht, sich trotz Unglaubens der landesüblichen Kirche zurechnen zu lassen, wenn das im Hinblick auf das persönliche Umfeld opportun erscheint.

Im übrigen ist in fast ganz Europa Religion für die Mehrheit der Bevölkerung zunehmend unwichtig. Sogar in den besonders religiösen Ländern Griechenland, Polen, Irland, Italien ist Religion nur für eine klare Minderheit wichtig. Die Zahl der Religiösen fällt schneller, als die der bewusst Nichtreligiösen zunimmt. Viele Indifferente halten an einem verschwommenen Glauben fest, weil sie geistige Anstrengung und Konsequenz scheuen. Das heißt aber nicht, dass die bewussten Agnostiker und Atheisten nicht überall eine deutlich wahrnehmbare Minderheit entsprechend den religiösen Minderheiten darstellen. Ihre Ausklammerung aus der Diskriminierungsdebatte ist daher erklärungsbedürftig.

Es wären ständige Kontakte zu ausländischen säkularen Verbänden zu knüpfen bzw. zu intensivieren, um auf europäischer Ebene einschlägige Fakten systematisch zu sammeln, um gemeinsam aktiv werden zu können.

Konsequenzen für Deutschland

Wer nicht will, dass z.B. die Priesterausbildung, Geistlichenbesoldung, Militär- und Polizeiseelsorge, Kirchentage usw. auch durch die Steuergelder Andersdenkender finanziert werden, Diskriminierungen im Schul- und Sozialwesen erfolgen usw., muss aktiv werden:
Durch Mitgliedschaft in einem säkular-humanistischen Verband, Leserbriefe, offizielle konkrete Beschwerden an staatliche Organe bis zur Dienstaufsichtsbeschwerde, Schreiben an Abgeordnete und Fraktionen sowie ausgewählte Journalisten. Es müssten Wege gefunden werden, auf Länderebene und in Bundesangelegenheiten Informationen und Belege zentral zu sammeln und zum Zweck der Information der Allgemeinheit zu dokumentieren, etwa zu rechtswidrigen Polizeiaktionen (Papstbesuch 2006) und schulischen Übergriffen oder hetzerischen Reden von Politikern oder kirchlichen Repräsentanten. Das setzt freilich belegbare Sachverhalte und Problemkenntnis voraus. Schwierig dürfte es oft sein, der nicht seltenen, auch sanften, Aggressivität religiöser Hardliner richtig zu begegnen: in der Sache hart, aber sachlich. Mit Fehlvorstellungen ist aufzuräumen. Auch die Führung und Unterstützung von Rechtsverfahren wird trotz aller handgreiflichen Probleme der Juristen mit der Problematik der religiös-weltanschaulichen Neutralität des Staats notwendig sein.

Wichtig wäre es, im Detail statistisch zu ermitteln, welche Überzeugungen die nicht organisierten „Nichtreligiösen“ haben. Es würde sich dann nach den vorhandenen Indizien zeigen, dass es sich bei den demokratischen Humanisten/Naturalisten, die überzeugte Anhänger echter Religions- und Weltanschauungsfreiheit sind, um eine beachtliche Minderheit handelt.

Noch eine Schlussbemerkung: Die Freiheit von Religion und Weltanschauung ist gleichberechtigt und unteilbar. In Fragen der an sich umfassenden „Religionsfreiheit“ wird aber die an sich selbstverständliche Freiheit der nichtreligiösen Weltanschauung meist in der konkreten Erörterung vergessen. Es tut daher leider not, stets von „Religions- und Weltanschauungsfreiheit“ zu sprechen. Die „Sekten“, ein herabsetzend empfundener und meist auch gemeinter und daher zu vermeidender Begriff, können für säkulare Humanisten insofern ein Problem sein, als sie natürlich in eine allgemeine Religionskritik (Wissenschaftsfeindlichkeit?) einbezogen werden dürfen oder müssen. Sie sind aber nicht ohne weiteres gesellschaftliche Gegner. Denn die rechtlich-gesellschaftliche Freiheit der einen wie der anderen Richtungen bedingen sich gegenseitig. Diskriminierungen religiöser Minderheiten sollten Humanisten daher als Alarmzeichen werten.

Gerhard Czermak

Hinweis der Redaktion: Eine große Hilfe in der praktischen Argumentation ist in vielerlei Hinsicht das Lexikon des Autors:
Gerhard Czermak: Religion und Weltanschauung in Gesellschaft und Recht. Ein Lexikon für Praxis und Wissenschaft. Alibri, 2009. 400 Seiten, gebunden, Euro 39.-, ISBN 978-3-86569-026-2.

Zur Rezension durch Ingrid Matthäus-Maier. Das Buch ist auch im denkladen erhältlich.