Damit kommen wir zur nächsten Frage von Ihnen, Herr Kurzke, der Frage nach gemeinsamkeitsstiftenden Aspekten von Religion und Weltanschauung.
Dazu stelle ich Ihnen nun einige Gegenfragen: Wie sollen sich zwei Denksysteme miteinander verbinden lassen, wenn eines der Systeme von unumstößlichen Wahrheiten ausgeht, ein übernatürliches Alphamännchen beinhaltet, ein undemokratisches Gesellschaftssystem skizziert und davon ausgeht, dass das Leben auf der Erde nur die Vorstufe zur ewigen Existenz in einem transzendenten Jenseits ist, während das andere Denksystem die Grenzen menschlicher Erkenntnisfähigkeit anerkennt, jeden Menschen als selbstbestimmtes und eigenverantwortliches Individuum versteht, die Macht über das Volk in die Hände des Volkes legt und den Tod als zwingendes Ende der eigenen Existenz betrachtet?
Wie soll eine Religion, hier am Beispiel des Christentums gefragt, gemeinsamkeitsstiftende Aspekte aufweisen, wenn sich jeweils 30 % der Deutschen (6), nämlich Protestanten und Katholiken, nicht einmal darauf einigen können, ob sie beim Abendmahl nun wirklich den Leib Christi zu sich nehmen, oder ob dies nur ein Symbol ist? Wie kann „das Christentum“ Menschen miteinander verbinden, wenn sich aus der Legende des Jesus Christus die verschiedensten Glaubensrichtungen geformt haben: von Katholiken und Protestanten über Zeugen Jehovas, Lorenzianer, Mormonen, Opus Dei, die neuapostolische Kirche, Presbyterianer, und, und, und…? Wie soll eine Ideologie gemeinsamkeitsstiftend sein, die ihre Dogmen entweder fundamentalistisch verteidigt oder sich aufgrund der Unbeweisbarkeit ihrer Grundlagen zwangsweise in Beliebigkeit verliert und zur esoterisch angehauchten Patchworkreligion wird? Wie soll ein gedankliches Konstrukt Basis einer Weltanschauung sein, das schon beim geringsten Zweifel wie ein Kartenhaus in sich zusammenfällt? Wie kann sich eine Institution als wertstiftend bezeichnen, die eine der blutigsten Kriminalgeschichten hinter sich hat und bis zum heutigen Tage – siehe Verschweigen der massiven Missbrauchsfälle – die Gesetze der Bundesrepublik Deutschland sträflich missachtet?
Ich kann diese Fragen nicht beantworten, sondern kann an dieser Stelle nur dazu ermutigen, sich nicht über ein religiöses Etikett zu identifizieren, das man in der Regel ungefragt und lange Zeit vor Erlangen der Religionsmündigkeit erhalten hat, sondern als Mensch zu verstehen, oder wie Albert Schweizer einst sagte als „Leben, das leben will, inmitten von Leben, das leben will“ (7).
Doch nun möchte ich Ihrer Bitte nachkommen, bei dieser Fragestellung konkret auf die deutsche Gesellschaft einzugehen.
In Bezug auf gemeinsamkeitsstiftende Aspekte einer Gesellschaft wäre es ja naheliegend, die Bürger einer Nation durch die Zugehörigkeit zu Ihrer Nation zu definieren, so wie es quasi weltweit üblich ist. Doch das ist in Deutschland immer noch ein schwieriges Thema. Einzig die WM oder EM lassen diesen Nationalstolz in einem zeitlichen und thematisch begrenzten Rahmen zu…
Aber schauen wir doch einmal, wie stark Menschen, die verschiedenen Weltanschauungsgruppen angehören, einer klassisch humanistischen Aussage zustimmen. Die Aussage lautet:
„Ich führe ein eigenständiges, selbstbestimmtes Leben frei von Religion und den Glauben an einen Gott, das auf ethischen und moralischen Grundüberzeugungen beruht.“
Fangen wir bei den Mitgliedern der EKD an: hier stimmen 21 % „überhaupt nicht“ und 25 % „eher nicht“ zu. Ganze 52 % wählen „überwiegend“ (38 %) oder „voll und ganz“ (14 %).
Bei Katholiken fällt die Zustimmung geringer aus, aber immerhin: 43 % stimmen „voll und ganz“ (13 %) oder „überwiegend“ (30 %) zu. 27 % antworten mit „eher nicht“ und 29 % mit „überhaupt nicht“.
Unter Konfessionsfreien ist das Bild – wie zu erwarten – deutlich homogener: 80 % stimmen den Prinzipien „voll und ganz“ bzw. „überwiegend“ zu (40/40), während nur 19 % mit „eher nicht“ oder „überhaupt nicht“ antworten.
Wenn es also um gemeinsamkeitsstiftende Aspekte von Religion und Weltanschauung geht, finden klassisch humanistische Aspekte nicht nur unter Konfessionsfreien hohe Zustimmung, sondern sogar unter ungefähr der Hälfte aller Mitglieder der beiden Großkirchen.
Die Umfrage wurde im Dezember 2007 von Forsa durchgeführt. Die genaue Quellenangabe finden Sie im Handout. (8)
Damit möchte ich zur nächsten Fragestellung übergehen: „Woher kommt die starke Identifikation unserer Gesellschaft mit einem Zusammenhang von Christentum und Staat?“
Um Ihre Frage kurz zu beantworten: wegen einer Legende! Denn die Bundesrepublik Deutschland definiert sich schließlich nicht als Theokratie, also als Gottesstaat, sondern als säkularer Staat, in dem Religion und Staat, Kirche und Staat mühsam voneinander getrennt wurden. Die Ansprüche, insbesondere die finanziellen, die von Vertretern kirchlicher Institutionen gegenüber dem Staat geltend gemacht werden, beruhen auf einer Legende! Die sogenannte Enteignung, die als Grund für die regelmäßigen Zahlungen angeführt werden, hat nie stattgefunden. Die Bistümer waren nämlich nie Eigentümer, sondern nur Besitzer – es handelte sich dabei hauptsächlich um sogenannte Reichslehen. Im Reichsdeputationshauptschluss von 1803 wird detailliert festgelegt, dass die amtierenden Bischöfe und deren Personal bis zu Ihrem Lebensende angemessen entschädigt werden – von weiteren Zahlungen kein Wort! (9) In der Weimarer Verfassung wird die Ablösung dieser Zahlungen sogar festgelegt – ein Auftrag, der bis heute nicht eingelöst ist. Die finanziellen Leistungen von Bund, Ländern und Kommunen belaufen sich im Jahr 2000 – außerhalb der Kirchensteuer! – auf 16,5 Milliarden Euro. (10)
Ebenso lassen sich die sogenannten „Werte des christlichen Abendlandes“ ohne Mühe als Legende, als Mythos enttarnen.(11) Bedenken Sie bitte, dass sämtliche Freiheiten, die Sie und ich heute wie selbstverständlich genießen, gegen Vertreter des Christentums erkämpft werden mussten: Demokratie, Meinungs- und Redefreiheit, Freiheit der Kunst und Wissenschaft, Gleichberechtigung von Mann und Frau und Religionsfreiheit – also auch das Grundrecht, frei von Religion zu sein! Bis heute – halten Sie sich das bitte immer wieder vor Augen! – hat der Vatikan die Menschenrechtskonvention nicht unterzeichnet… (12)
Und schauen wir, welche Rolle die EKD den zehn Geboten zuweist: „Die zehn Gebote sind eine der ältesten gesetzlichen Regelungen, die einerseits das Verhältnis von Gott zu den Menschen ansprechen, andererseits das Verhältnis der Menschen untereinander regelt. Die Werteordnung unserer westlichen Gesellschaft basiert auf diesen Geboten, gleichermaßen wie die französische oder amerikanische Verfassung oder die UN-Menschenrechtscharta. (…) Die zehn Gebote gehören zu den ‚Basics’ christlicher Verkündigung. Darüber hinaus sind sie sowohl das Urmaterial der Gesetzgebung in allen westlichen Zivilisationen als auch die unbestrittene Grundlage unserer Kultur: Emanzipation der Geschlechter, soziale Gerechtigkeit, Sozialgesetzgebung, Demokratie und Schulpflicht, das Recht des Kindes auf Kindheit sind ohne die zehn Gebote nicht denkbar.“ (13)
Ausräumen lassen sich diese Fehlaussagen jedoch leicht, wie mein Kollege Andreas Müller (14) zeigt:
- Es gibt viel ältere, sogar fortschrittlichere Texte, zum Beispiel den sumerischen Codex Ur-Namma.
- Das Verhältnis zwischen Gott und den Menschen muss nicht geregelt werden, da auch der jüdisch-christliche Gott offensichtlich nur ein Produkt der menschlichen Vorstellungskraft ist.
- Die französische und die amerikanische Verfassung gehen maßgeblich auf Arbeiten der Aufklärer Thomas Paine, Thomas Jefferson und John Locke zurück. Weder Gott noch die zehn Gebote werden in diesen Texten erwähnt.
- Die Emanzipation der Frau wurde nicht durch, sondern gegen das christliche Bild der Frau durchgesetzt, das sie als Besitz des Mannes definierte (letztes Gebot).
- Über soziale Gerechtigkeit steht nichts in den Texten. Adel und Klerus haben die Unterschicht lange gemeinsam ausgebeutet.
- Die Sozialgesetzgebung wurde von Bismarck etabliert.
- Demokratie wurde bereits im antiken Griechenland entwickelt und später von Locke, Montesquieu und Rousseau erarbeitet und in Revolutionskriegen gegen Monarchie und Kirche erkämpft.
- Von Schulpflicht steht nichts in den zehn Geboten.
- Das Recht des Kindes auf Kindheit, wurde vor allem in kirchlichen Heimen lange Zeit und systematisch mit Füßen getreten.
Fazit: die zehn Gebote sind das Werk einer primitiven Hirtenkultur und verbieten explizit die Religionsfreiheit. Sie sind völlig ungeeignet, um daraus ethische Richtlinien für unsere heutige Gesellschaft abzuleiten.
Wenn mir in Diskussionen entgegnet wird, dass der starke Zusammenhang zwischen Staat und Kirche in Deutschland eben „historisch entstanden“ sei, stimme ich der Aussage zu, ergänze aber stets, dass diese historische Entstehung nichts ist, dass zu einer Entwicklung zur demokratischen und liberalen Gesellschaft beigetragen hat, sondern diese Entwicklung massiv behindert hat. Erinnern wir uns, dass Demokratie bereits im antiken Griechenland entwickelt wurde. Auch astronomische Erkenntnisse zur dezentralen Position der Erde im Universum, sowie zahlreiche andere philosophische und naturwissenschaftliche Erkenntnisse wurden von Vertretern des aufstrebenden Christentums jedoch vernichtet. (15)
An dieser Stelle möchte ich auch eine eindeutige Antwort auf die Titelfrage formulieren: Nein, Deutschland braucht kein Christentum! Die Frage der Religiosität muss jeder Mensch für sich selbst klären, aber ein säkularer Staat, eine offene, freie Gesellschaft braucht keinen Mystizismus, mit dem als kulturelles Überbleibsel versucht wird, moralische Richtlinien zu formulieren und die Welt in Gut und Böse einzuteilen. Eine Gesellschaft wie unsere, die vor großen Herausforderungen steht, kann sich dabei nicht auf einen naiven Kinderglauben berufen. Medizinethische Fragen können nicht mit dem Rückgriff auf die nachweislich falsche Entstehungsgeschichte der Bibel beantwortet werden; Fragen der Einwanderungspolitik nicht mit der geschürten Angst vor „dem Islam“ (siehe „Ingroup-Outgroup-Verhalten“); Bildungspolitische Fragen (und davon haben wir mehr als genug, lassen sie sich das von jemandem gesagt sein, der Tag für Tag an der Basis arbeitet!) können nicht von bibeltreuen Ministerinnen wie Ursula von der Leyen beantwortet werden. Ein Mann wie Christian Wulff, der eine kreationistische Organisation wie Pro Christ unterstützt, kann kaum Präsident für eine Nation sein, in der fast 35 % der Bevölkerung keiner Religionsgemeinschaft angehören (16), in der sich mehr als 50 % Prozent laut Umfragen als „nicht religiös“ (17) verstehen, in der nur 25 % dem apostolischen Glaubensbekenntnis zustimmen (18) und in der nur 14 % der Katholiken (19) und 3 % der Protestanten den Gottesdienst besuchen(20) (Tendenz ebenfalls sinkend).
„Wer das Atom spalten kann und über Satelliten kommuniziert“, schreibt Michael Schmidt-Salomon, „muss die dazu erforderliche intellektuelle und emotionale Reife besitzen.“ (21)