Braucht Deutschland das Christentum?

Meissen-Ev.Akademie.jpg

Auditorium / Foto: Ev. Akademie Meißen

MEISSEN. (hpd) Am 19. und 20. Juni 2010 hat in der Evangelischen Akademie in Meißen die „24-Stunden-Akademie“ stattgefunden, in der der Fragestellung nachgegangen wurde: „Braucht Deutschland das Christentum? Religion als Funktion“. Philipp Möller war als Referent der Giordano Bruno Stiftung eingeladen.

Seinen Diskussionsbeitrag hatte Philipp Möller aufgezeichnet und mit dem podast 15/2010 des hpd als Tonmitschnitt veröffentlicht. Da den hpd zwischenzeitlich mehrere Anfragen erreichten, ob der Text auch in Schriftform zur Verfügung gestellt werden könne..., hier ist er. (Anmerkung: Der Tagungsleiter Kurzke hatte Fragen vorgegeben, auf die die Referenten gebeten waren, zu antworten.)

Braucht Deutschland das Christentum? Religion als Funktion

Philipp Möller

Sehr geehrte Damen und Herren, liebe Studierende,

ich bin Philipp Möller, Pressereferent der Giordano Bruno Stiftung, und möchte mich zuerst ganz herzlich für die Einladung zur 24 Stunden Akademie bedanken. Bevor ich mit meinem Vortrag beginne, sage ich Ihnen etwas über mich. Ich bin 29 Jahre alt, Berliner, Diplom Pädagoge für Erwachsenenbildung und arbeite zurzeit als Grundschullehrer im Berliner Kiez. In meiner Freizeit setze ich mich seit ca. 1,5 Jahren für Humanismus und Aufklärung ein. Begonnen habe ich meine humanistische Karriere als Pressesprecher der Buskampagne und seit ca. einem Jahr unterstütze und ergänze ich Michael Schmidt-Salomon bei seiner Arbeit als Vorstandssprecher der Giordano Bruno Stiftung. Die Stiftung, ganz kurz, versteht sich als Denkfabrik für Humanismus und Aufklärung, wird im Beirat von zahlreichen namhaften Wissenschaftlern, Philosophen und Künstlern unterstützt und dient der Förderung des evolutionären Humanismus.

Mit meinen heutigen Vortrag will ich auf die Fragestellung des Titels eingehen (…) und hangele mich dabei an den Detailfragen entlang, die mir Herr Kurzke im Vorfeld freundlicherweise geschickt hat. Mein Vortrag soll dazu beitragen, dass Sie sich die Titelfrage möglichst differenziert selbst beantworten zu können. Wie die Antwort aus säkularer, also „weltlicher“, Perspektive ausfällt, können Sie sich wahrscheinlich schon denken, vor allem weil sie hier als Ja-Nein-Frage formuliert ist.

Beginnen möchte ich mit den Definitionen der Begriffe Weltanschauung, Religion und Humanismus

Da ich heute nicht eingeladen wurde, um Ihnen Definitionen aus Lexika vorzulesen, definiere ich die Begriffe bewusst aus evolutionär-humanistischer Perspektive.

Der Begriff „Weltanschauung“ bezeichnet eine Perspektive auf die Welt, beschreibt, sortiert und interpretiert diese. Religionen, hier verstanden als solche Perspektiven, werden dabei vor allem charakterisiert durch die Inklusion übernatürlicher Elemente und Wunder (die Existenz eines oder mehrerer Götter, Ereignisse wie eine unbefleckte Empfängnis, Wiederauferstehungen, etc.) und durch den Glauben an einen Fortbestand des Lebens über den Tod hinaus, also den Jenseitsbezug. Darüber hinaus ist die Fixierung auf heilige Schriften, in denen dogmatische Wahrheiten verkündet werden, zentrales Element nahezu aller Religionen, die sich Menschen im Laufe ihrer Geschichte erdacht haben.

Auch politische Ideologien – das vielleicht am Rande – können religiöse Züge aufweisen, wenn sie beispielsweise Dogmen aufstellen, bestimmte Denk- und Handlungsvorschriften formulieren und eine allen Menschen übergeordnete Person beinhalten. (1)

Im Humanismus, hier speziell im evolutionären Humanismus, spielen dagegen die Konzepte Selbstbestimmung, soziale Gerechtigkeit, Vernunft und Freude zentrale Rollen. In einer solchen Weltanschauung, die frei von Göttern, Geistern, Auren oder jenseitigen Zuständen wie Himmel und Hölle ist, sind sich Menschen der Grenzen ihrer Erkenntnis bewusst. Durch das Formulieren von Hypothesen, also von Aussagen, die sich verifizieren oder falsifizieren lassen, und die Überprüfung dieser Hypothesen an der Realität erkämpfen sich Vertreter dieser Weltanschauung jeden Tag ein wenig mehr Erkenntnis über unsere Welt, die darauf lebenden Organismen und das uns umgebende Universum. Evolutionäre Humanistinnen und Humanisten erkennen an, dass das Leben eines Individuums nur ein winziger Augenblick in der überwältigenden Dauer und Weite des Universums ist und schöpfen aus der Einsicht in die Einmaligkeit ihres Daseins den Drang, ihr eigenes und das Leben aller anderen Tiere auf diesem Planeten so lebenswert und gerecht wie möglich zu gestalten. Für sie gilt die Formel: „Nicht-Wissen = Nicht-Wissen“, statt: „Nicht-Wissen = Gott“, und so verstehen sie ihren Atheismus nur als Randerscheinung ihrer naturalistischen Weltanschauung, nach der Existenzaussagen so lange als falsch gelten, wie sie nicht belegt sind. Oder könnten Sie mir beweisen, dass ich im Garten kein unsichtbares Einhorn habe, welches dieses Universum und alles darin erschaffen hat?

Zu den Definitionen möchte ich abschließend eine afrikanische Weisheit zitieren, die da lautet: „Wer immer in den Himmel schaut, wird nie etwas auf Erden entdecken!“ (2) Ich schlage also vor, Religion als Himmelsanschauung und Humanismus als Weltanschauung zu betrachten

Auch im juristischen Sprachgebrauch werden Religion und Weltanschauung sprachlich voneinander getrennt. (3)

Die nächste Frage in Ihrem Katalog, Herr Kurzke, lautet nun:
„Welche Funktion hat Glaube und Religion für eine Gesellschaft oder für eine einzelne Person?“

Ohne einen kompletten religionswissenschaftlichen Abriss leisten zu können, möchte ich auf die zentralen Funktionen eingehen:

Auf gesellschaftlicher Ebene spielt in diesem Zusammenhang der psychologische Begriff „Ingroup Outgroup Verhalten“ eine wichtige Rolle. Damit ist das unterschiedliche Verhalten eines Individuums gegenüber Mitgliedern der eigenen bzw. einer fremden Gruppe gemeint. Vor allem in kleineren Gruppen, in denen der Mensch die längste Zeit seines Daseins gelebt hat, hat Glaube (also die feste Überzeugung von einem Sachverhalt ohne jegliche Evidenz dafür) sicherlich die Funktion gehabt, Mitgliedern einer Gruppe eine gemeinsame Identität zu verleihen. „Nepotismus“, auch als Vetternwirtschaft bekannt, ist bis heute unter Glaubensbrüdern und -schwestern zu beobachten. Die Zugehörigkeit zum Christentum erhöht beispielsweise die Chance, in der deutschen Politik Karriere zu machen, und wie ich aus verlässlicher Quelle weiß, wird man bei einem Ingolstädter Automobilkonzern, dessen Namen ich nicht nennen möchte, nur als Christ ins Management aufsteigen.

Darüber hinaus war die Idee eines schöpfenden Gottes (oder mehrerer Götter) über viele Jahrhunderte die Antwort auf viele Fragen, die Menschen nicht beantworten konnten. Heute tendieren sie eher dazu, Wissenslücken als Ansporn zur Forschung zu betrachten statt Magie oder ein übernatürliches Wesen dahinter zu vermuten.

Als weitere Funktion von Glaube und Religion ist der Begriff „Machtinstrument“ zu nennen. Nur allzu oft lässt sich in der Geschichte der Menschheit bis zum heutigen Tage beobachten, dass einige wenige Menschen Macht und Kontrolle über viele andere ausübten, indem sie vorgaben, einen direkten Draht zum aktuellen Gott zu haben und einzig und allein in der Lage seien, sein vermeintliches Wort interpretieren zu können. (4)

Auf rein subjektiver Ebene berichten religiös gläubige Menschen häufig von Vertrauen und gefühlter Hilfe in schweren Lebenslagen (vor allem beim Tod nahestehender Personen) und von einem Gemeinsamkeitsgefühl, das sie über ihren Glauben erlangen. Auch die Angst vor dem eigenen Tod, kann durch den festen Glauben an ein ewiges Leben nach dem Tod gelindert werden. Wobei – und in diesem Punkt stimmen Sie mir evtl. sogar zu: ein Leben nach dem Tod? Das ist ein Widerspruch in sich!

Zur Funktion von Glaube und Religion habe ich ein sehr treffendes Zitat von Seneca, einem römischen Philosophen aus dem ersten Jahrhundert nach unserer Zeit, gefunden: "Religion gilt dem gemeinen Manne als wahr, dem Weisen als falsch und dem Herrschenden als nützlich." (5)

Damit kommen wir zur nächsten Frage von Ihnen, Herr Kurzke, der Frage nach gemeinsamkeitsstiftenden Aspekten von Religion und Weltanschauung.

Dazu stelle ich Ihnen nun einige Gegenfragen: Wie sollen sich zwei Denksysteme miteinander verbinden lassen, wenn eines der Systeme von unumstößlichen Wahrheiten ausgeht, ein übernatürliches Alphamännchen beinhaltet, ein undemokratisches Gesellschaftssystem skizziert und davon ausgeht, dass das Leben auf der Erde nur die Vorstufe zur ewigen Existenz in einem transzendenten Jenseits ist, während das andere Denksystem die Grenzen menschlicher Erkenntnisfähigkeit anerkennt, jeden Menschen als selbstbestimmtes und eigenverantwortliches Individuum versteht, die Macht über das Volk in die Hände des Volkes legt und den Tod als zwingendes Ende der eigenen Existenz betrachtet?

Wie soll eine Religion, hier am Beispiel des Christentums gefragt, gemeinsamkeitsstiftende Aspekte aufweisen, wenn sich jeweils 30 % der Deutschen (6), nämlich Protestanten und Katholiken, nicht einmal darauf einigen können, ob sie beim Abendmahl nun wirklich den Leib Christi zu sich nehmen, oder ob dies nur ein Symbol ist? Wie kann „das Christentum“ Menschen miteinander verbinden, wenn sich aus der Legende des Jesus Christus die verschiedensten Glaubensrichtungen geformt haben: von Katholiken und Protestanten über Zeugen Jehovas, Lorenzianer, Mormonen, Opus Dei, die neuapostolische Kirche, Presbyterianer, und, und, und…? Wie soll eine Ideologie gemeinsamkeitsstiftend sein, die ihre Dogmen entweder fundamentalistisch verteidigt oder sich aufgrund der Unbeweisbarkeit ihrer Grundlagen zwangsweise in Beliebigkeit verliert und zur esoterisch angehauchten Patchworkreligion wird? Wie soll ein gedankliches Konstrukt Basis einer Weltanschauung sein, das schon beim geringsten Zweifel wie ein Kartenhaus in sich zusammenfällt? Wie kann sich eine Institution als wertstiftend bezeichnen, die eine der blutigsten Kriminalgeschichten hinter sich hat und bis zum heutigen Tage – siehe Verschweigen der massiven Missbrauchsfälle – die Gesetze der Bundesrepublik Deutschland sträflich missachtet?

Ich kann diese Fragen nicht beantworten, sondern kann an dieser Stelle nur dazu ermutigen, sich nicht über ein religiöses Etikett zu identifizieren, das man in der Regel ungefragt und lange Zeit vor Erlangen der Religionsmündigkeit erhalten hat, sondern als Mensch zu verstehen, oder wie Albert Schweizer einst sagte als „Leben, das leben will, inmitten von Leben, das leben will“ (7).

Doch nun möchte ich Ihrer Bitte nachkommen, bei dieser Fragestellung konkret auf die deutsche Gesellschaft einzugehen.

In Bezug auf gemeinsamkeitsstiftende Aspekte einer Gesellschaft wäre es ja naheliegend, die Bürger einer Nation durch die Zugehörigkeit zu Ihrer Nation zu definieren, so wie es quasi weltweit üblich ist. Doch das ist in Deutschland immer noch ein schwieriges Thema. Einzig die WM oder EM lassen diesen Nationalstolz in einem zeitlichen und thematisch begrenzten Rahmen zu…

Aber schauen wir doch einmal, wie stark Menschen, die verschiedenen Weltanschauungsgruppen angehören, einer klassisch humanistischen Aussage zustimmen. Die Aussage lautet:
„Ich führe ein eigenständiges, selbstbestimmtes Leben frei von Religion und den Glauben an einen Gott, das auf ethischen und moralischen Grundüberzeugungen beruht.“

Fangen wir bei den Mitgliedern der EKD an: hier stimmen 21 % „überhaupt nicht“ und 25 % „eher nicht“ zu. Ganze 52 % wählen „überwiegend“ (38 %) oder „voll und ganz“ (14 %).
Bei Katholiken fällt die Zustimmung geringer aus, aber immerhin: 43 % stimmen „voll und ganz“ (13 %) oder „überwiegend“ (30 %) zu. 27 % antworten mit „eher nicht“ und 29 % mit „überhaupt nicht“.
Unter Konfessionsfreien ist das Bild – wie zu erwarten – deutlich homogener: 80 % stimmen den Prinzipien „voll und ganz“ bzw. „überwiegend“ zu (40/40), während nur 19 % mit „eher nicht“ oder „überhaupt nicht“ antworten.

Wenn es also um gemeinsamkeitsstiftende Aspekte von Religion und Weltanschauung geht, finden klassisch humanistische Aspekte nicht nur unter Konfessionsfreien hohe Zustimmung, sondern sogar unter ungefähr der Hälfte aller Mitglieder der beiden Großkirchen.
Die Umfrage wurde im Dezember 2007 von Forsa durchgeführt. Die genaue Quellenangabe finden Sie im Handout. (8)

Damit möchte ich zur nächsten Fragestellung übergehen: „Woher kommt die starke Identifikation unserer Gesellschaft mit einem Zusammenhang von Christentum und Staat?“

Um Ihre Frage kurz zu beantworten: wegen einer Legende! Denn die Bundesrepublik Deutschland definiert sich schließlich nicht als Theokratie, also als Gottesstaat, sondern als säkularer Staat, in dem Religion und Staat, Kirche und Staat mühsam voneinander getrennt wurden. Die Ansprüche, insbesondere die finanziellen, die von Vertretern kirchlicher Institutionen gegenüber dem Staat geltend gemacht werden, beruhen auf einer Legende! Die sogenannte Enteignung, die als Grund für die regelmäßigen Zahlungen angeführt werden, hat nie stattgefunden. Die Bistümer waren nämlich nie Eigentümer, sondern nur Besitzer – es handelte sich dabei hauptsächlich um sogenannte Reichslehen. Im Reichsdeputationshauptschluss von 1803 wird detailliert festgelegt, dass die amtierenden Bischöfe und deren Personal bis zu Ihrem Lebensende angemessen entschädigt werden – von weiteren Zahlungen kein Wort! (9) In der Weimarer Verfassung wird die Ablösung dieser Zahlungen sogar festgelegt – ein Auftrag, der bis heute nicht eingelöst ist. Die finanziellen Leistungen von Bund, Ländern und Kommunen belaufen sich im Jahr 2000 – außerhalb der Kirchensteuer! – auf 16,5 Milliarden Euro. (10)

Ebenso lassen sich die sogenannten „Werte des christlichen Abendlandes“ ohne Mühe als Legende, als Mythos enttarnen.(11) Bedenken Sie bitte, dass sämtliche Freiheiten, die Sie und ich heute wie selbstverständlich genießen, gegen Vertreter des Christentums erkämpft werden mussten: Demokratie, Meinungs- und Redefreiheit, Freiheit der Kunst und Wissenschaft, Gleichberechtigung von Mann und Frau und Religionsfreiheit – also auch das Grundrecht, frei von Religion zu sein! Bis heute – halten Sie sich das bitte immer wieder vor Augen! – hat der Vatikan die Menschenrechtskonvention nicht unterzeichnet… (12)

Und schauen wir, welche Rolle die EKD den zehn Geboten zuweist: „Die zehn Gebote sind eine der ältesten gesetzlichen Regelungen, die einerseits das Verhältnis von Gott zu den Menschen ansprechen, andererseits das Verhältnis der Menschen untereinander regelt. Die Werteordnung unserer westlichen Gesellschaft basiert auf diesen Geboten, gleichermaßen wie die französische oder amerikanische Verfassung oder die UN-Menschenrechtscharta. (…) Die zehn Gebote gehören zu den ‚Basics’ christlicher Verkündigung. Darüber hinaus sind sie sowohl das Urmaterial der Gesetzgebung in allen westlichen Zivilisationen als auch die unbestrittene Grundlage unserer Kultur: Emanzipation der Geschlechter, soziale Gerechtigkeit, Sozialgesetzgebung, Demokratie und Schulpflicht, das Recht des Kindes auf Kindheit sind ohne die zehn Gebote nicht denkbar.“ (13)

Ausräumen lassen sich diese Fehlaussagen jedoch leicht, wie mein Kollege Andreas Müller (14) zeigt:

  1. Es gibt viel ältere, sogar fortschrittlichere Texte, zum Beispiel den sumerischen Codex Ur-Namma.
  2. Das Verhältnis zwischen Gott und den Menschen muss nicht geregelt werden, da auch der jüdisch-christliche Gott offensichtlich nur ein Produkt der menschlichen Vorstellungskraft ist.
  3. Die französische und die amerikanische Verfassung gehen maßgeblich auf Arbeiten der Aufklärer Thomas Paine, Thomas Jefferson und John Locke zurück. Weder Gott noch die zehn Gebote werden in diesen Texten erwähnt.
  4. Die Emanzipation der Frau wurde nicht durch, sondern gegen das christliche Bild der Frau durchgesetzt, das sie als Besitz des Mannes definierte (letztes Gebot).
  5. Über soziale Gerechtigkeit steht nichts in den Texten. Adel und Klerus haben die Unterschicht lange gemeinsam ausgebeutet.
  6. Die Sozialgesetzgebung wurde von Bismarck etabliert.
  7. Demokratie wurde bereits im antiken Griechenland entwickelt und später von Locke, Montesquieu und Rousseau erarbeitet und in Revolutionskriegen gegen Monarchie und Kirche erkämpft.
  8. Von Schulpflicht steht nichts in den zehn Geboten.
  9. Das Recht des Kindes auf Kindheit, wurde vor allem in kirchlichen Heimen lange Zeit und systematisch mit Füßen getreten.

Fazit: die zehn Gebote sind das Werk einer primitiven Hirtenkultur und verbieten explizit die Religionsfreiheit. Sie sind völlig ungeeignet, um daraus ethische Richtlinien für unsere heutige Gesellschaft abzuleiten.

Wenn mir in Diskussionen entgegnet wird, dass der starke Zusammenhang zwischen Staat und Kirche in Deutschland eben „historisch entstanden“ sei, stimme ich der Aussage zu, ergänze aber stets, dass diese historische Entstehung nichts ist, dass zu einer Entwicklung zur demokratischen und liberalen Gesellschaft beigetragen hat, sondern diese Entwicklung massiv behindert hat. Erinnern wir uns, dass Demokratie bereits im antiken Griechenland entwickelt wurde. Auch astronomische Erkenntnisse zur dezentralen Position der Erde im Universum, sowie zahlreiche andere philosophische und naturwissenschaftliche Erkenntnisse wurden von Vertretern des aufstrebenden Christentums jedoch vernichtet. (15)

An dieser Stelle möchte ich auch eine eindeutige Antwort auf die Titelfrage formulieren: Nein, Deutschland braucht kein Christentum! Die Frage der Religiosität muss jeder Mensch für sich selbst klären, aber ein säkularer Staat, eine offene, freie Gesellschaft braucht keinen Mystizismus, mit dem als kulturelles Überbleibsel versucht wird, moralische Richtlinien zu formulieren und die Welt in Gut und Böse einzuteilen. Eine Gesellschaft wie unsere, die vor großen Herausforderungen steht, kann sich dabei nicht auf einen naiven Kinderglauben berufen. Medizinethische Fragen können nicht mit dem Rückgriff auf die nachweislich falsche Entstehungsgeschichte der Bibel beantwortet werden; Fragen der Einwanderungspolitik nicht mit der geschürten Angst vor „dem Islam“ (siehe „Ingroup-Outgroup-Verhalten“); Bildungspolitische Fragen (und davon haben wir mehr als genug, lassen sie sich das von jemandem gesagt sein, der Tag für Tag an der Basis arbeitet!) können nicht von bibeltreuen Ministerinnen wie Ursula von der Leyen beantwortet werden. Ein Mann wie Christian Wulff, der eine kreationistische Organisation wie Pro Christ unterstützt, kann kaum Präsident für eine Nation sein, in der fast 35 % der Bevölkerung keiner Religionsgemeinschaft angehören (16), in der sich mehr als 50 % Prozent laut Umfragen als „nicht religiös“ (17) verstehen, in der nur 25 % dem apostolischen Glaubensbekenntnis zustimmen (18) und in der nur 14 % der Katholiken (19) und 3 % der Protestanten den Gottesdienst besuchen(20) (Tendenz ebenfalls sinkend).

„Wer das Atom spalten kann und über Satelliten kommuniziert“, schreibt Michael Schmidt-Salomon, „muss die dazu erforderliche intellektuelle und emotionale Reife besitzen.“ (21)

Doch kommen wir zu Ihren letzten beiden Fragen, die da lauten:
„Gibt es eine „staatlich gesellschaftliche Funktion“ von Religion? Kann perspektivisch z. B. der Islam oder der evolutionäre Humanismus die 'Christentumsaufgaben' übernehmen?“

Lassen Sie mich mit der staatlich-gesellschaftlichen Funktion von Religion beginnen. In Deutschland hört man – auch von religionsfreien Menschen – häufig, dass die Kirche zwar eine düstere Vergangenheit habe und der Glaube an Gott ja immer noch ein Glaube sei, aber – und das wäre schließlich Fakt – die Kirche würde doch immerhin viele gesellschaftlich relevante Aufgaben übernehmen. Da gäbe es Caritas, Diakonie, konfessionell gebundene Krankenhäuser, Schulen, Kindergärten, Pflegeheime, usw… Soweit, so gut. Schauen wir aber hinter die finanziellen Kulissen, die sich in Deutschland am treffendsten mit dem Begriff „intransparent“ beschreiben lassen: Caritas und Diakonie werden gerade mal zu 1,8 % durch kirchliche Mittel und sonst aus öffentlichen Geldern finanziert – eine kostengünstige Werbung also. Bei Kindergärten, Schulen, Krankenhäusern und anderen Einrichtungen liegt der kirchliche Anteil deutlich unter 10 % (22). Wenn also Bischof Müller davor warnt, dass mit dem Kirchenaustritt das soziale Gefüge und hunderttausende von Jobs gefährdet seien (23), ist das schlicht gelogen.

Was also ist gemeint mit dem Begriff „Christentumsaufgaben“? Den Menschen Denkvorgaben zu machen? Ihnen ein Placebo für die Angst vor dem Tod zu verabreichen? Religiösen Hochmut zu versprühen, indem die eigene Religion als „Erfinder der Nächstenliebe“ dargestellt wird? Homosexuelle diskreditieren, obwohl diese sich genau so wenig bewusst zu ihrer Sexualität entschieden haben, wie sie oder ich? Ein völlig überholtes Bild des Menschen zwanghaft aufrecht erhalten?

Gesellschaftliche Aufgaben jedenfalls werden schon lange von der Öffentlichkeit getragen, auch wenn die Gelder im Nachhinein den Stempel „Christentum“ erhalten, um auf diesem Wege das Image der Nächstenliebe und Barmherzigkeit aufrecht zu erhalten (24). Die teilweise unmöglichen Arbeitsbedingungen in diesen Institutionen, die untertariflichen Löhne, das Streikverbot, die Missachtung des AGG werden dabei verschwiegen. Krankenschwestern, die ein zweites Mal heiraten können entlassen werden, konfessionsfreie Ärzte werden nicht einmal zu Bewerbungsgesprächen eingeladen – nur bei Putzfrauen wird ein Auge zugedrückt: Türkinnen arbeiten schließlich billiger und als Muslime glauben sie ja immerhin an irgendeinen Gott.

Und wie könnte bitte der Islam, der in seinem politischen Selbstverständnis, weder Laizismus noch die Gleichberechtigung von Mann und Frau kennt, humanitäre Aufgaben übernehmen? Wie kann eine absolutistische Ideologie, die im Gegensatz zum Christentum noch nicht durch das Zeitalter der Aufklärung geprügelt wurde, wertstiftend für eine pluralistische Gesellschaft sein? Wie kann man außerdem in Deutschland noch die richtige und wichtige Kritik am politischen Islam ausüben, wenn man dafür kulturrelativistisch als „islamophob“ bezeichnet wird? Ich möchte an dieser Stelle eindringlich davor warnen, im Namen der Toleranz auch Intoleranz zu tolerieren, denn eine liberale Gesellschaft ist gleichsam kostbar und zerbrechlich!

Doch wie soll man der großen Bevölkerungsgruppe muslimisch erzogener Menschen klarmachen, dass Religion Privatsache ist, wenn man Ihnen in der Kirchenrepublik Deutschland das genaue Gegenteil vorlebt? Wie soll man Ihnen vermitteln, dass es nicht zu den Pflichten einer Frau gehört, sich in Tücher zu hüllen und dem Mann Untertan zu sein, wenn man selbst eine katholische Parallelwelt finanziert (25), in der Frauen keineswegs die gleichen Rechte haben wie Männer? Wie soll man sie dazu ermutigen, hilflose Kinder vor religiöser Indoktrination zu schützen, wenn man selbst einen staatlichen Religionsunterricht finanziert, der den Kirchen zumindest die juristische Möglichkeit bietet, kreationistische Inhalte zu vermitteln?

Die Alternative zum Islam kann also nicht das Christentum sein, sondern eine Gesellschaft, die die Gemeinsamkeiten der Menschen im Menschsein sieht, die kulturelle Unterschiede zulässt und sogar fördert. Die Alternative zum Islam und zum Christentum ist eine Kultur, die durch Aufklärung, soziale Gerechtigkeit und Vernunft geprägt ist. Die Alternative ist eine Gesellschaft in der Religion zwar als kulturelle Schatzkammer anerkannt wird, aber keineswegs als geeignet, um politische Entscheidungen zu treffen!

Interessant ist auch, dass Sie die Denkrichtung des evolutionären Humanismus als „zivilreligiöse Bewegung“ bezeichnen. Das erinnert mich an Formulierungen wie „Dawkins, der Papst der Atheisten“, „Kreuzzug der neuen Atheisten“ (26) oder „missionarischer Atheismus“. Das zeigt, dass religiös gläubige Menschen ihren religiösen Denkmustern häufig nicht entkommen können. Lassen Sie mich der falschen Auffassung, Humanismus sei auch nur eine Religion, mit einem kurzen Vergleich begegnen. Stellen Sie sich eine Fußball-WM der Religionen vor. Die verschiedenen Teams treten hier gegeneinander an: Katholiken gegen Protestanten, Schiiten gegen Sunniten, Zeugen Jehovas gegen Scientology, usw… Die verschiedenen Fans jubeln auf den Tribünen, feuern Ihre Teams an und zeigen sich – mindestens! – argwöhnisch gegen die Fans anderer Teams. … Der Humanismus ist kein weiteres Team in dieser WM, sondern stellt die große Gruppe von Menschen dar, die außerhalb des Stadions stehen und rufen: „Leute, hört auf zu spielen! Niemand wird gewinnen, denn es gibt gar keinen Ball!“

Auch fragen Sie ob der Evolutionäre Humanismus gesellschaftliche Aufgaben übernehmen kann. Nein, kann er als solcher nicht. Er kann aber unter dem Motto „Wer Wissenschaft, Philosophie und Kunst besitzt braucht keine Religion“, die intellektuellen und emotionalen Voraussetzungen dafür schaffen, dass humanitäre Aufgaben weiterhin öffentlich finanziert werden. Auch kann er durch das bessere Verstehen menschlicher Bedürfnisse und sozialer Herausforderungen dazu beitragen, dass Vorschläge wie das aktuelle Sparpaket unserer christlich orientierten Regierung dort landen wo sie hingehören – nämlich in den Papierkorb! Eine evolutionär-humanistische geprägte Finanzpolitik würde es verbieten, dass Gewinne in den Taschen der Manager landen während Verluste zu Lasten der Bevölkerung ausgehen, denn: aus wissenschaftlichen Untersuchungen geht deutlich hervor, dass das empfundene Glück der Individuen einer Gesellschaft steigt, wenn die Kluft zwischen arm und reich nicht allzu groß ist – das gilt übrigens auch für die privilegierten Mitglieder! (27) Eine evolutionär-humanistische Bildungspolitik würde sich der Ergebnisse der empirischen Bildungsforschung bedienen. Dabei könnten Schulen entstehen, die den individuellen Lernbedürfnissen der Kinder entgegenkommt und das frühe Einordnen in „arm und reich“ oder „dumm und klug“ verhindern würden. Denn inzwischen ist relativ klar, dass es in kaum einem anderen europäischen Land so schwer ist wie in Deutschland, sich vom Milieu seiner Eltern zu entfernen (28). Auch juristische Entscheidungen, die die widerlegte Vorstellung des freien Willens eines Menschen abgelegt haben, würden dafür sorgen, dass Gesetzesverstöße zwar angemessen bestraft, die Täter aber nicht darüber hinaus moralisch verurteilt werden.

Kurz: im Gegensatz zu einer religiös geprägten Kultur ist eine Kultur der Aufklärung und des Humanismus in der Lage, die Spielregeln einer Gesellschaft den jeweiligen Bedingungen anzupassen. Absolute Definitionen wie „richtig und falsch“ würden zu „angemessen und unangemessen“, „gut und böse“ zu „fair und unfair“. Schuld, Sühne und Sünde, die die menschliche Psyche schon viel zu lange belasten, könnten aus unserem Bewusstsein verschwinden und einer Kultur der Vernunft, der Gerechtigkeit und der Eigenverantwortung weichen.

Steigen wir also von unserem hohen Ross der göttlichen Schöpfung ab, erkennen uns als Trockennasenaffen, die auf einem Staubkorn in einem sinnlosen Universum ein kurzes Leben führen und versuchen wir – und damit schließe ich meinen Vortrag – den Sinn und die Freude des Lebens im Leben selbst zu finden!

Vielen Dank!

 

__________________________

 

Literaturhinweise:

(1) S. dazu auch Maier, H. 2003: Totalitarismus und Politische Religionen. Paderborn: Ferdinand Schöningh Verlag
(2) Frei zitiert
(3) s. beispielsweise Art. 4, Abs. 1, GG
(4) S. dazu auch http://www.deschner.info/de/werk/kirche.htm
(5) http://de.wikiquote.org/wiki/Seneca_d.J.
(6) http://fowid.de/fileadmin/datenarchiv/Religionszugehoerigkeit_Bevoelkeru...
(7) http://de.wikipedia.org/wiki/Albert_Schweitzer
(8) http://fowid.de/fileadmin/datenarchiv/Homogenitaet_von_Lebensauffassunge...
(9) http://hpd.de/node/9359
(10) Frerk, C. 2002: Finanzen und Vermögen der Kirchen in Deutschland. Aschaffenburg: Alibri Verlag
(11) http://fowid.de/fileadmin/textarchiv/Christliche_oder_universelle_Werte_...
(12) http://de.wikipedia.org/wiki/Europ%C3%A4ische_Menschenrechtskonvention
(13) http://www.unsere-zehn-gebote.de/entstehung_gebote.php
(14) http://feuerbringer.com/2010/02/02/zehn-gebote-furn-arsch/#more-3243
(15) http://hpd.de/node/7373
(16) http://fowid.de/fileadmin/datenarchiv/Religionszugehoerigkeit_Bevoelkeru...
(17) http://fowid.de/fileadmin/datenarchiv/Religiositaet_nach_Religionszugeho...
(18) http://fowid.de/fileadmin/datenarchiv/Glaubensbekenntnis__Katholiken__Ev...
(19) http://fowid.de/fileadmin/datenarchiv/Gottesdienstbesucher_pro_Katholike...
(20) http://fowid.de/fileadmin/datenarchiv/Gottesdienstbesuch_EKD%2C%202002.pdf
(21)Schmidt-Salomon, M. 2006: Manifest des evolutionären Humanismus. Aschaffenburg: Alibri Verlag
(22) Frerk, C. 2002: Finanzen und Vermögen der Kirchen in Deutschland. Aschaffenburg: Alibri Verlag
(23) http://hpd.de/node/7993
(24) http://jungle-world.com/artikel/2009/48/39839.html
(25) http://www.spiegel.de/video/video-1069449.html
(26) Der Spiegel, Heft 22/07
(27) http://www.heise.de/tp/r4/artikel/23/23003/1.html
(28) http://www.mpib-berlin.mpg.de/pisa/