Braucht Deutschland das Christentum?

Doch kommen wir zu Ihren letzten beiden Fragen, die da lauten:
„Gibt es eine „staatlich gesellschaftliche Funktion“ von Religion? Kann perspektivisch z. B. der Islam oder der evolutionäre Humanismus die 'Christentumsaufgaben' übernehmen?“

Lassen Sie mich mit der staatlich-gesellschaftlichen Funktion von Religion beginnen. In Deutschland hört man – auch von religionsfreien Menschen – häufig, dass die Kirche zwar eine düstere Vergangenheit habe und der Glaube an Gott ja immer noch ein Glaube sei, aber – und das wäre schließlich Fakt – die Kirche würde doch immerhin viele gesellschaftlich relevante Aufgaben übernehmen. Da gäbe es Caritas, Diakonie, konfessionell gebundene Krankenhäuser, Schulen, Kindergärten, Pflegeheime, usw… Soweit, so gut. Schauen wir aber hinter die finanziellen Kulissen, die sich in Deutschland am treffendsten mit dem Begriff „intransparent“ beschreiben lassen: Caritas und Diakonie werden gerade mal zu 1,8 % durch kirchliche Mittel und sonst aus öffentlichen Geldern finanziert – eine kostengünstige Werbung also. Bei Kindergärten, Schulen, Krankenhäusern und anderen Einrichtungen liegt der kirchliche Anteil deutlich unter 10 % (22). Wenn also Bischof Müller davor warnt, dass mit dem Kirchenaustritt das soziale Gefüge und hunderttausende von Jobs gefährdet seien (23), ist das schlicht gelogen.

Was also ist gemeint mit dem Begriff „Christentumsaufgaben“? Den Menschen Denkvorgaben zu machen? Ihnen ein Placebo für die Angst vor dem Tod zu verabreichen? Religiösen Hochmut zu versprühen, indem die eigene Religion als „Erfinder der Nächstenliebe“ dargestellt wird? Homosexuelle diskreditieren, obwohl diese sich genau so wenig bewusst zu ihrer Sexualität entschieden haben, wie sie oder ich? Ein völlig überholtes Bild des Menschen zwanghaft aufrecht erhalten?

Gesellschaftliche Aufgaben jedenfalls werden schon lange von der Öffentlichkeit getragen, auch wenn die Gelder im Nachhinein den Stempel „Christentum“ erhalten, um auf diesem Wege das Image der Nächstenliebe und Barmherzigkeit aufrecht zu erhalten (24). Die teilweise unmöglichen Arbeitsbedingungen in diesen Institutionen, die untertariflichen Löhne, das Streikverbot, die Missachtung des AGG werden dabei verschwiegen. Krankenschwestern, die ein zweites Mal heiraten können entlassen werden, konfessionsfreie Ärzte werden nicht einmal zu Bewerbungsgesprächen eingeladen – nur bei Putzfrauen wird ein Auge zugedrückt: Türkinnen arbeiten schließlich billiger und als Muslime glauben sie ja immerhin an irgendeinen Gott.

Und wie könnte bitte der Islam, der in seinem politischen Selbstverständnis, weder Laizismus noch die Gleichberechtigung von Mann und Frau kennt, humanitäre Aufgaben übernehmen? Wie kann eine absolutistische Ideologie, die im Gegensatz zum Christentum noch nicht durch das Zeitalter der Aufklärung geprügelt wurde, wertstiftend für eine pluralistische Gesellschaft sein? Wie kann man außerdem in Deutschland noch die richtige und wichtige Kritik am politischen Islam ausüben, wenn man dafür kulturrelativistisch als „islamophob“ bezeichnet wird? Ich möchte an dieser Stelle eindringlich davor warnen, im Namen der Toleranz auch Intoleranz zu tolerieren, denn eine liberale Gesellschaft ist gleichsam kostbar und zerbrechlich!

Doch wie soll man der großen Bevölkerungsgruppe muslimisch erzogener Menschen klarmachen, dass Religion Privatsache ist, wenn man Ihnen in der Kirchenrepublik Deutschland das genaue Gegenteil vorlebt? Wie soll man Ihnen vermitteln, dass es nicht zu den Pflichten einer Frau gehört, sich in Tücher zu hüllen und dem Mann Untertan zu sein, wenn man selbst eine katholische Parallelwelt finanziert (25), in der Frauen keineswegs die gleichen Rechte haben wie Männer? Wie soll man sie dazu ermutigen, hilflose Kinder vor religiöser Indoktrination zu schützen, wenn man selbst einen staatlichen Religionsunterricht finanziert, der den Kirchen zumindest die juristische Möglichkeit bietet, kreationistische Inhalte zu vermitteln?

Die Alternative zum Islam kann also nicht das Christentum sein, sondern eine Gesellschaft, die die Gemeinsamkeiten der Menschen im Menschsein sieht, die kulturelle Unterschiede zulässt und sogar fördert. Die Alternative zum Islam und zum Christentum ist eine Kultur, die durch Aufklärung, soziale Gerechtigkeit und Vernunft geprägt ist. Die Alternative ist eine Gesellschaft in der Religion zwar als kulturelle Schatzkammer anerkannt wird, aber keineswegs als geeignet, um politische Entscheidungen zu treffen!

Interessant ist auch, dass Sie die Denkrichtung des evolutionären Humanismus als „zivilreligiöse Bewegung“ bezeichnen. Das erinnert mich an Formulierungen wie „Dawkins, der Papst der Atheisten“, „Kreuzzug der neuen Atheisten“ (26) oder „missionarischer Atheismus“. Das zeigt, dass religiös gläubige Menschen ihren religiösen Denkmustern häufig nicht entkommen können. Lassen Sie mich der falschen Auffassung, Humanismus sei auch nur eine Religion, mit einem kurzen Vergleich begegnen. Stellen Sie sich eine Fußball-WM der Religionen vor. Die verschiedenen Teams treten hier gegeneinander an: Katholiken gegen Protestanten, Schiiten gegen Sunniten, Zeugen Jehovas gegen Scientology, usw… Die verschiedenen Fans jubeln auf den Tribünen, feuern Ihre Teams an und zeigen sich – mindestens! – argwöhnisch gegen die Fans anderer Teams. … Der Humanismus ist kein weiteres Team in dieser WM, sondern stellt die große Gruppe von Menschen dar, die außerhalb des Stadions stehen und rufen: „Leute, hört auf zu spielen! Niemand wird gewinnen, denn es gibt gar keinen Ball!“

Auch fragen Sie ob der Evolutionäre Humanismus gesellschaftliche Aufgaben übernehmen kann. Nein, kann er als solcher nicht. Er kann aber unter dem Motto „Wer Wissenschaft, Philosophie und Kunst besitzt braucht keine Religion“, die intellektuellen und emotionalen Voraussetzungen dafür schaffen, dass humanitäre Aufgaben weiterhin öffentlich finanziert werden. Auch kann er durch das bessere Verstehen menschlicher Bedürfnisse und sozialer Herausforderungen dazu beitragen, dass Vorschläge wie das aktuelle Sparpaket unserer christlich orientierten Regierung dort landen wo sie hingehören – nämlich in den Papierkorb! Eine evolutionär-humanistische geprägte Finanzpolitik würde es verbieten, dass Gewinne in den Taschen der Manager landen während Verluste zu Lasten der Bevölkerung ausgehen, denn: aus wissenschaftlichen Untersuchungen geht deutlich hervor, dass das empfundene Glück der Individuen einer Gesellschaft steigt, wenn die Kluft zwischen arm und reich nicht allzu groß ist – das gilt übrigens auch für die privilegierten Mitglieder! (27) Eine evolutionär-humanistische Bildungspolitik würde sich der Ergebnisse der empirischen Bildungsforschung bedienen. Dabei könnten Schulen entstehen, die den individuellen Lernbedürfnissen der Kinder entgegenkommt und das frühe Einordnen in „arm und reich“ oder „dumm und klug“ verhindern würden. Denn inzwischen ist relativ klar, dass es in kaum einem anderen europäischen Land so schwer ist wie in Deutschland, sich vom Milieu seiner Eltern zu entfernen (28). Auch juristische Entscheidungen, die die widerlegte Vorstellung des freien Willens eines Menschen abgelegt haben, würden dafür sorgen, dass Gesetzesverstöße zwar angemessen bestraft, die Täter aber nicht darüber hinaus moralisch verurteilt werden.

Kurz: im Gegensatz zu einer religiös geprägten Kultur ist eine Kultur der Aufklärung und des Humanismus in der Lage, die Spielregeln einer Gesellschaft den jeweiligen Bedingungen anzupassen. Absolute Definitionen wie „richtig und falsch“ würden zu „angemessen und unangemessen“, „gut und böse“ zu „fair und unfair“. Schuld, Sühne und Sünde, die die menschliche Psyche schon viel zu lange belasten, könnten aus unserem Bewusstsein verschwinden und einer Kultur der Vernunft, der Gerechtigkeit und der Eigenverantwortung weichen.

Steigen wir also von unserem hohen Ross der göttlichen Schöpfung ab, erkennen uns als Trockennasenaffen, die auf einem Staubkorn in einem sinnlosen Universum ein kurzes Leben führen und versuchen wir – und damit schließe ich meinen Vortrag – den Sinn und die Freude des Lebens im Leben selbst zu finden!

Vielen Dank!

 

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Literaturhinweise:

(1) S. dazu auch Maier, H. 2003: Totalitarismus und Politische Religionen. Paderborn: Ferdinand Schöningh Verlag
(2) Frei zitiert
(3) s. beispielsweise Art. 4, Abs. 1, GG
(4) S. dazu auch http://www.deschner.info/de/werk/kirche.htm
(5) http://de.wikiquote.org/wiki/Seneca_d.J.
(6) http://fowid.de/fileadmin/datenarchiv/Religionszugehoerigkeit_Bevoelkeru...
(7) http://de.wikipedia.org/wiki/Albert_Schweitzer
(8) http://fowid.de/fileadmin/datenarchiv/Homogenitaet_von_Lebensauffassunge...
(9) http://hpd.de/node/9359
(10) Frerk, C. 2002: Finanzen und Vermögen der Kirchen in Deutschland. Aschaffenburg: Alibri Verlag
(11) http://fowid.de/fileadmin/textarchiv/Christliche_oder_universelle_Werte_...
(12) http://de.wikipedia.org/wiki/Europ%C3%A4ische_Menschenrechtskonvention
(13) http://www.unsere-zehn-gebote.de/entstehung_gebote.php
(14) http://feuerbringer.com/2010/02/02/zehn-gebote-furn-arsch/#more-3243
(15) http://hpd.de/node/7373
(16) http://fowid.de/fileadmin/datenarchiv/Religionszugehoerigkeit_Bevoelkeru...
(17) http://fowid.de/fileadmin/datenarchiv/Religiositaet_nach_Religionszugeho...
(18) http://fowid.de/fileadmin/datenarchiv/Glaubensbekenntnis__Katholiken__Ev...
(19) http://fowid.de/fileadmin/datenarchiv/Gottesdienstbesucher_pro_Katholike...
(20) http://fowid.de/fileadmin/datenarchiv/Gottesdienstbesuch_EKD%2C%202002.pdf
(21)Schmidt-Salomon, M. 2006: Manifest des evolutionären Humanismus. Aschaffenburg: Alibri Verlag
(22) Frerk, C. 2002: Finanzen und Vermögen der Kirchen in Deutschland. Aschaffenburg: Alibri Verlag
(23) http://hpd.de/node/7993
(24) http://jungle-world.com/artikel/2009/48/39839.html
(25) http://www.spiegel.de/video/video-1069449.html
(26) Der Spiegel, Heft 22/07
(27) http://www.heise.de/tp/r4/artikel/23/23003/1.html
(28) http://www.mpib-berlin.mpg.de/pisa/