Das äußere Gefängnis wird zum inneren
Aus der Einrichtung kann man entfliehen. Das haben einige auch getan, aber sie sind nicht sehr weit gekommen. Diese Frage kam auf: Wenn die Möglichkeit besteht, aus dem Gefängnis zu entkommen: Warum tritt man dann nicht die Flucht an? „Weil sich das äußere Gefängnis bei vielen schon in ein inneres Gefängnis verwandelt hat. Das heißt, sie haben die Repressionsmechanismen, denen sie von Kleinkind an tagtäglich ausgesetzt waren, für sich selber so übernommen, dass sie keine andere Welt, keine andere Reaktionsweise mehr gesehen haben. Leider führt das dazu, dass sich diese Geschlossenheit zweimal darstellt: einmal als Gesamteinrichtung in Form des Erziehungsheims und einmal als kleinere Ausgabe in Form von Gruppen, die sich genau so organisieren, wie das im Heim auch der Fall ist. Es gibt einen Führer, harte Strafen gehören zum Alltag, Unterdrückungen bis hin zur Vergewaltigung gehören einfach zum Bestrafungs- und Unterdrückungsinstrumentarium, das im Heim wie auch in den Gruppen einzelne dazu bringt, dass sie keinen Ausweg mehr sehen. Außer sich das Leben zu nehmen. Heimsuizide sind keine Seltenheit. Damit blieb für viele nur noch die totale Unterordnung, die Einordnung in die sehr repressiven Gruppen.“
„Jöri (Molnár) hatte Glück, dass es in dieser Einrichtung mehrere rivalisierende Gruppen gab und er in einer Gruppe sowie in einer echten Freundschaftsbeziehung zu einer einzelnen Person landete, in der er andere Formen des Lebens, der Anerkennung und Alltags- wie Konfliktbewältigung kennen lernte, als es im Heim und in diesen Hardliner-Gruppen üblich war. Daher hat er einen ganz anderen Horizont ausgebildet, wie man sich verhalten kann. Er hat also diese geschlossene Welt für sich so nicht übernommen.“
Bewahranstalten mit arischem Menschenbild
„So sah die Fürsorgeerziehung in dieser Zeit aus: Es waren Bewahranstalten und der therapeutische Anspruch ging gegen Null. Das leitete sich aus der Armenfürsorge des 18. Jahrhunderts ab und die Einrichtungen wurden eben so konzipiert, dass Menschen zu besseren Menschen erzogen werden sollten, aber mit sehr, sehr drastischen Mitteln. Die körperliche Züchtigung war eine erlaubte, eine erwartete Form der Bestrafung. Man hätte sich als Mitarbeiter als ‚Weichei’ dargestellt, wenn man sich den Zöglingen gegenüber partnerschaftlich verhalten hätte. In der Bambule ist das ja wunderschön aufgedeckt. Und dann kommt hier der zweite Aspekt ins Spiel: Nicht nur das Kasernenhafte der Einrichtung, das dieses Autoritätsgefälle und die Hörigkeit produziert, sondern dann kommt noch dazu, dass das Personal sich rekrutiert aus der NS-Zeit mit einem bestimmten Menschenbild. In Deutschland wahrscheinlich ähnlich wie in Österreich – und das ist kein Spezifikum der Fürsorgeerziehung, sondern auch in anderen Einrichtungen wie Justiz oder Hochschule war es genauso: Man musste auf das Personal zurückgreifen, das da war. Und das waren die wenigen Überlebenden, von denen ein Gutteil sehr braun eingefärbt war. Einige dieser Personen haben ihre Identität auch verleugnet. Die Einrichtungen wurden am Anfang von Menschen geführt, die dieses arische Menschenbild in sich hatten. Und dazu gehört, dass ein Bastard vielleicht nicht unwert, aber nur eine Randexistenz war. Das haben sie diese jeden Tag spüren lassen: Dass sie die Polen im eigenen Lande sind oder dass sie die Juden im eigenen Lande sind.“
„Das kommt also noch hinzu: Die Denkhaltung und die Prägung durch die NS-Zeit hat die Art von Fürsorge, wie sie hier betrieben wurde, entscheidend mitbestimmt. Das änderte sich erst mit der Heimrevolte Ende der sechziger Jahre. So lange entsprach es in europäischen und auch außereuropäischen Ländern dem Zeitgeist, dass Erziehung über Strafen erfolgt. Eine Fürsorgeerziehung war immer eine, wo die ‚normale’ Erziehung gescheitert war. Dort mussten also besondere Maßstäbe angelegt werden, mit besonderen Repressionen, mit denen die Zöglinge wieder auf den Pfad der Tugend zurückgeführt werden sollten. Ab Ende der Sechziger änderte sich etwas. Wer also zwischen Mitte der Vierziger bis Mitte oder Ende der Sechziger in einer Fürsorgeeinrichtung war – die haben alle eine vergleichbare Erfahrung gemacht. Wenn sie auch im Nachhinein von sehr unterschiedlichen Erfahrungen berichten. Und das hängt damit zusammen, inwieweit sie dieses Heim schon verinnerlicht hatten, das Äußere zum Inneren gemacht hatten. Denn dann empfindet man das nicht mehr als so dramatisch, weil ‚dann bin ich ja Teil des Gesamten’.“
Nischen des Widerstands
Diejenigen, die Widerstand leisteten, hatten wie Jöri das Glück, Personen kennen zu lernen, die „ihnen ein anderes Leben, eine andere Beziehungsform gezeigt haben, wo es um Partnerschaft ging, wo es um Freundschaft, um emotionale Zuneigung, um emotionale Verletzlichkeit ging. In Jöris Grüppchen konnte man Anerkennung beziehen, ohne dann man sich der Mechanismen der Einrichtung oder der ‚harten’ Jugendgruppen bedient hat. Wo es nicht um Unterwerfung ging, sondern darum, dass man ein bestimmtes Talent hatte, das man zeigen konnte. Dort wurden zum Beispiel Jugendstreiche organisiert. Aus der Munition, aus Kriegsresten, die man dort gefunden hat, haben die Pfiffigen schon mal kleine Feuerwerke veranstaltet. Auch vor dem heranfahrenden Zug, um den Lokführer zu erschrecken. Das fällt im weitesten Sinne unter Streiche, da wurde niemand verletzt, und es wurde so organisiert, wie das auch Jugendliche heute machen: nach ihren eigenen Regeln. Und das hat ihnen eine Selbstständigkeit gegeben, einen anderen Erfahrungsraum, der dafür gesorgt hat, dass Jöri im Unterschied zu anderen nach dem Heimaufenthalt auch unter erschwerten Bedingungen – er war staatenlos – ein Überleben möglich war. Außerdem hat er die Würde vor sich selber nicht verloren. Die Repressionserfahrungen setzen sich nach dem Heimaufenthalt ja noch über zwanzig Jahre fort, bis er den ersten Pass bekommen hat. Ich glaube, dieserart, innerhalb des Heimes Bereiche gefunden zu haben, in denen ein normales Leben möglich war, das war eigentlich die Brücke zur Freiheit und einer einigermaßen normalen Existenz. Man könnte auch sagen, das Heim hat ihm unfreiwillig auch geholfen, nachher eine normale Existenz zu führen.“
„Diese Nischen sind sehr spannend – man weiß. die gibt es in jeder totalen Institution. Es gibt Menschen, es gibt Gruppen, die sich diese Nischen schaffen. Und wenn es gar nicht anders geht, dann schaffe ich mir die im Kopf. Das hat Jöri ja auch gemacht. Das Lesen, die Phantasieleistung ist ja immer etwas, das mich in dem Augenblick von dem, was ich gerade körperlich mache, völlig entlasten kann: Ich lebe dann in zwei Welten. Einmal in der konkreten Alltagswelt mit ihren alltäglichen Repressionen und Unterdrückungen und bin gleichzeitig in einer anderen Phantasiewelt, in der ich mir etwas Anderes zurechtmale. Bruno Bettelheim hat das in ‚Erziehung zum Überleben’ aus der Sicht seiner NS-Erfahrungen genau so beschrieben. Er sagte, die Depersonalisierung kann dort bis zur absoluten Identitätszerstörung führen, weil äußerlich kein Identitätsmerkmal mehr verfügbar ist. Alle sind glatt geschoren, alle haben die gleiche Anstaltskleidung, das Persönliche des Namens wird durch eine Nummer ersetzt und dann bleibt für die starken Charaktere nur der Rückzug in die Phantasie. Für die Schwachen bleibt der Selbstmord: Ein Gutteil findet sich am Zaun wieder, weil das für viele der einzige Ausweg war. Bettelheim schildert sehr anschaulich, dass der Rückzug in eine Phantasiewelt für ihn die Energie erzeugt hat, das Durchhaltevermögen, um den nächsten Tag wieder anzugehen. Ich denke, bei Jöri war das ähnlich. Die positiven Erfahrungen durch Freundschaft, durch Liebesbeziehungen in seiner Gruppe, haben dazu geführt, dass das andere leichter auszuhalten war.“
Wie entstehen die Nischen?
„Keine Einrichtung ist so hundertprozentig kontrolliert, wie man sich das vorstellt und wie das die Aufseher, die sich das panoptische Prinzip überlegt haben, vielleicht wünschen. Sondern jede Einrichtung hat ungewollt immer auch Nischen. Ob das die Schlafsäle sind, ob das die Duschräume oder Bereiche außerhalb der Einrichtung wie eine Parkanlage oder große Gartenanlage sind: Es gab Rückzugsmöglichkeiten. Und diese Rückzugsmöglichkeiten können dazu genutzt werden, andere Erfahrungen zu machen. Das Heim hatte wie jede kasernenhafte Einrichtung immer kleine Bereiche des Rückzugs. Die finden nicht alle, manchmal muss man dafür auch etwas riskieren und Jöri hat riskiert. Das ist vielleicht vom Naturell abhängig. Jöri war eher ein Draufgängertyp: ‚Ich lass mich so ohne weiteres nicht unterkriegen!’ Das ist charakterabhängig. Das allein reicht aber nur für die ganz Starken. Die Beziehungsebene muss noch dazukommen, dass man Personen findet, mit denen man dieses andere Miteinander auch ausleben kann.“
„Davon profitiert Jöri noch heute. Im Gegensatz zu vielen Anderen hat er den Schritt gewagt, sich der Vergangenheit auch emotional zu stellen. Denn jeder Traumatherapeut sagt das Gleiche: Jede Erinnerung sorgt für eine Retraumatisierung, indem der Leidensdruck so groß wird wie zu der Zeit, als man den unmittelbar erfahren hat. Deshalb sollte man diese Erinnerungsarbeit immer therapeutisch begleiten. Jöri hat das nicht gemacht. Vielleicht hat ihm sein Umfeld von fünf, sechs Personen geholfen, die ihm immer Mut gemacht haben. Er war oft verzweifelt, es ist keineswegs so, dass unsere Treffen immer Friede, Freude, Eierkuchen waren. Wir haben manchmal gemerkt, es geht ihm persönlich so nahe, dass wir uns gefragt haben: Können wir die Verantwortung für das übernehmen, was in ihm passiert? Dann haben wir aber gemerkt, dass er sich immer wieder fängt und dass wir mit jeder neuen Lesung das Gefühl hatten, er findet neue Unterstützer, die Distanz wächst zu den Erfahrungen, die er gemacht hat, er kann freier darüber reden, so dass wir davon ausgehen können, das ist der richtige Weg. Er fällt nicht zurück in die Regression, in eine Abhängigkeit, aus der man nicht mehr rauskommt – dieser Sog war da -, sondern er hat sich davon irgendwie befreien können und dazu hat die Suche nach Öffentlichkeit ganz wesentlich beigetragen. Er hat den Wiederholungscharakter mit positiven Erfahrungen verbunden. Dadurch ist eine neue Ich-Stärke entstanden: ‚Ich stehe das durch’. Er hat gemerkt, dass Andere das eben nicht schaffen und es war klar, dass er nicht nur für sich kämpft, sondern dass Andere Hoffnungen in ihn setzen, dass er für sie den Kampf mit führt. Auf ihn kamen damit gleich zwei Belastungen zu: Sich der eigenen Erinnerung und den Erwartungen der Anderen zu stellen.“