Die Hölle mit Seitennischen

Pionier für Österreich

Molnár wurde dann zur Anlaufstelle für andere österreichische Heimkinder, die ihm ganz offen ihre eigenen Erfahrungen schilderten. Es wurde klar, „dass er hier eine Pionierleistung vollbringt, die er aber auch aushalten musste". Der Sog entstand dann also von der anderen Seite, und zwar von den Heimkindern. Er hat gemerkt, die Schwachen schaffen es nicht. Sie schrieben ihm auch: ‚Jöri, ich würde nie so wie du in eine Talkshow gehen. Aber ich find’s toll, dass du’s für uns machst! Mach weiter!’ Solche Unterstützerbriefe von ehemaligen Heimkindern, die in einer ähnlichen Situation waren wie er, haben ihn noch mal stark gemacht. Damit erfuhr er nicht nur Unterstützung von Experten wie John, Schreiber und Parlamentariern, sondern auch von anderen Heimkindern. Die Öffentlichkeit, die er erfährt, ist eine Form von Aufmerksamkeit, mit der er nie gerechnet hätte. Er ist plötzlich eine Mittelpunktsperson, und das als jemand, der Inhaber eines Copyshops ist, eigentlich ein ganz normales Dasein führt. Im Nachhinein kann man sagen, es war die richtige Entscheidung, das Buch zu schreiben, an die Öffentlichkeit zu gehen, in Österreich dafür zu sorgen, dass diese Vergangenheit nicht in der Schublade bleibt, sondern sie einmal - und zwar gründlich - aufzuarbeiten und damit zu einem Teil der österreichischen Nachkriegsgeschichte zu machen. Aber auch so sichtbar, dass dann jeder sagen kann: Das war eine historische Situation, in die wir hoffentlich nie mehr kommen. Es ist nicht verschleiert, es ist nicht tabuisiert worden, sondern man stellt sich dieser Zeit offensiv. Dazu hat Jöri sein Scherflein beigetragen.“

Veränderte gesellschaftliche Verhältnisse

Daran merkt man aber auch, dass sich die gesellschaftlichen Verhältnisse grundlegend geändert haben. „So ist es. Aber es braucht einen Anstoß, es passiert nicht von selber. Diese Anstöße kommen meist von den Betroffenen oder von Experten. Wobei John ja bereits vor Jahren mit seiner Ausstellung den Anstoß gab, aber damals war die Zeit noch nicht reif. Man muss natürlich sagen, er profitiert momentan von einer weltweiten Debatte über Missbrauch und von einer weltweiten Debatte über Heimunterdrückung unter der Fürsorgeerziehung. Ob das die Magdalene Laundries sind oder die Situation der Kinder, die von England nach Australien deportiert wurden – das alles lief ja ungefähr zeitgleich. Jöri war damit zur rechten Zeit am rechten Ort der rechte Mann. Das waren auch Zufälle. Vor zwanzig Jahren wäre das nicht möglich gewesen. Erst mit Jöri wird Wegscheid von John zu einer Ausstellung, die in Österreich auch gezeigt wird.“

Entschuldigungen und Entschädigungen

Hierzulande haben sich Staat und Kirche noch nicht entschuldigt. In Großbritannien und Australien ist das passiert, die Premierminister Gordon Brown und Kevin Rudd haben sich bei den ehemaligen Heimkindern entschuldigt. „In Deutschland gibt es auch eine Entschuldigung, sowohl von katholischer wie von evangelischer Seite. Meines Wissens hat sich in Österreich die katholische Kirche für diese ‚Erziehungsmethoden’, für diesen Missbrauch entschuldigt. Vielleicht ist das ein Unterschied zwischen Österreich und Deutschland: Dass die katholische Kirche in Österreich signalisiert hat, dass die Entschuldigung der erste Schritt ist. Der zweite Schritt wird sein, dass man sagt, mit der Entschuldigung ist auch eine öffentliche Sichtbarmachung dieses Unrechts verbunden gewesen, denn eine Entschuldigung ist eine Anerkenntnis von Schuld. Daran lassen sie keinen Zweifel: dass es ein Schuldeingeständnis ist. Die Verantwortung endet aber nicht mit dem Schuldeingeständnis, sondern sie zieht als notwendigen Schritt auch Hilfen nach sich und diese werden auf mehreren Ebenen diskutiert. Kurzfristig werden therapeutische Hilfen angeboten und es wird finanzielle Entschädigungen geben.“

„Was mir in Österreich besonders gefällt – und das ist kein Verdienst von Molnár allein, sondern eine Entwicklung, die dort eingesetzt hat – ist, dass man sagt: Wir werden diese Hilfe unbürokratisch organisieren. Wir werden das nicht so machen wie bei Vergewaltigungsopfern, dass sie noch einmal an die Öffentlichkeit gezerrt werden und minutiös ihr Leid schildern müssen, sondern es genügt der einfache Nachweis, dass die Heimerfahrung vorlag, damit ist der Rechtsanspruch auf eine Entschädigung gegeben. Wie hoch die auch immer ausfallen wird. Die österreichische Kirche hat schon signalisiert, dass man das nicht aus Steuermitteln zahlen will, sondern aus dem Kirchenvermögen. Auch das ist ein starkes Symbol, wenn sie an ihre eigene Substanz gehen, um zu zeigen, wie ernst ihre Verantwortung gemeint ist.“

Vorreiter Österreich

„Das hätte man von den Österreichern nicht erwartet: Dass sie jetzt die bürokratischen Deutschen überholen, was die Entschädigung der Opfer betrifft. Die Kirche wird für ihre Einrichtungen die Entschädigungszahlungen vornehmen und der Staat natürlich für seine. Wobei die Situation in Österreich anders war, denn dort war die überwiegende Anzahl der Heime in staatlicher und nicht in kirchlicher Trägerschaft. Deshalb ist jetzt ganz wichtig, wenn ein Bundesland wie Tirol mit einer Regelung vorprescht, hat das eine Signalwirkung für alle anderen Bundesländer. Österreich hat also mit der Aufarbeitung sehr viel später begonnen, ist aber sehr viel früher an einem Punkt angelangt, an dem man sagen kann: Wir haben das Ziel ‚Öffentlichkeit’ hergestellt, eine Entschuldigung, und zwar mit Verantwortung, sichtbar werden lassen in Form von therapeutischer Begleitung, von öffentlichen Bekenntnissen und auch von Entschädigungen. Davon kann der Runde Tisch eigentlich nur lernen.“

„Aber in Deutschland ist es einfach anders gelaufen, das kann man nicht vergleichen. Deutschland ist auch größer, hier geht es um 800.000 Leute, in Österreich kennt man die Zahl gar nicht so genau, es sind, wenn überhaupt, vielleicht zehn Prozent davon. Und von diesen zehn Prozent wird vielleicht auch nur ein Prozent, vielleicht sogar nur ein Promille, den Antrag stellen, weil die meisten nicht den Mut haben, sich der Vergangenheit zu stellen. Oft wissen es auch die Partner überhaupt nicht – das ist ein Stück Biografie, das man für alle Zeiten von der Öffentlichkeit weggeschlossen hat. So ein Auslöser, der von außen kommt, kann Anlass sein, sich mit der eigenen Geschichte auseinanderzusetzen oder aber zu sagen: Oh nein, jetzt schotte ich mich erst recht ab! Die Angst, die dann entsteht: Halte ich die Erschütterungen durch die Erinnerungen an die Vergangenheit noch mal aus.“

Mit Waldemar Vogelgesang sprach Fiona Lorenz

 

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Geschichte einer geraubten Kindheit (2. Juni 2010)