MOOSSEEDORF/CH. (hpd) Weil er nicht an Gott glaubt, wurde Kacem El Ghazzali in seiner Heimat Marokko mehrfach attackiert und mit dem Tod bedroht. Vor vier Jahren ist der 24-Jährige in die Schweiz geflüchtet und hat sein altes Leben hinter sich gelassen. Seine Überzeugung bleibt ungebrochen, auch wenn er damit weiterhin sein Leben riskiert.
hpd: In Ländern wie Marokko wird der Glaube von vielen gar nicht erst in Frage gestellt. Was hat dich dazu gebracht, deine Religion zu hinterfragen?
Kacem El Ghazzali: Menschen scheinen am liebsten den einfachen Weg zu gehen. Deshalb ziehen sie es vor, all den Sätzen auszuweichen, die mit großen Fragezeichen enden. Etwas in Frage zu stellen bedeutet, dass man sich auf eine endlose Reise der Suche, der Zerstörung und des Neuaufbaus begibt. Man konfrontiert sich selbst mit seiner Vergangenheit, mit seinen eigenen Wahrheiten und all denjenigen Menschen, die ein Teil davon waren. Diese Gefühle verstärken sich, wenn die Dinge, die man in Frage stellt, als heilig gelten oder von politischen und religiösen Autoritäten geschützt werden, wie beispielsweise der Islam in der islamischen Welt.
Ich habe mich nicht dafür entschieden, ein Atheist zu werden. Ich wurde dazu gezwungen von der Kraft der Logik. Warum ich meine Religion hinterfragt habe? Ich fand sie unlogisch. Und sie verursacht mehr Schaden als Gutes.
Hast du es je bereut, Atheist zu werden?
Ich habe lange versucht, gläubig zu sein, da es einfacher ist. Schlussendlich war ich immer voller kritischer Fragen. Es gibt viele andere in der islamischen Welt wie mich. Das Tabu der Ungläubigkeit wird langsam gebrochen, doch die Situation ist immer noch schwierig und gefährlich für alle, die sich dafür entscheiden, in der islamischen Welt zu ihrem Unglauben zu stehen.
Wieso ist diese Problematik im Islam weit ausgeprägter als im Christentum?
Der christliche Glaube durchlief bereits einen Prozess der Reformation. Auf der anderen Seite haben wir den Islam und seine Gesetze, die noch keinerlei Anzeichen einer Reformation zeigen. Der politische Islam erhält Glaubwürdigkeit und Unterstützung, weil die Menschen denken, dass er auf den Gesetzen Gottes beruht. Es ist nicht ein reines Glaubensproblem. Ich habe kein Problem damit, wenn sich jemand dazu entscheidet, seinen Glauben blind zu akzeptieren, solange der Glaube persönlich bleibt und keine politische Ordnung rechtfertigen soll.
Wie haben deine Familie und Freunde darauf reagiert, als du dich zum Atheismus bekennt hast?
Es war für alle ein Schock. Die meisten von ihnen hörten es nicht von mir persönlich. Sie erfuhren es durch die Nachrichten in den Medien und Hasskampagnen in den sozialen Netzwerken. Alle meine Freunde, bis auf zwei, von denen einer Muslim ist, haben sämtlichen Kontakt zu mir abgebrochen und mich fortan wie ein Außenseiter behandelt.
Wie bist du mit den Todesdrohungen umgegangen, die du erhalten hast?
Die Todesdrohungen zeigen lediglich, dass meine Argumente korrekt sind. Die Muslime sagen, dass ihre Religion eine Religion des Friedens sei; das müsse man akzeptieren oder sterben. Aus diesen Gründen ignoriere ich die Drohungen und Hassmails einfach. Zur selben Zeit erhalte ich viele Dankeskarten und E-Mails mit netten Worten. Nicht nur von jungen Menschen, sondern auch von älteren, die mir dafür danken das zu sagen, was sie vor einigen Jahren nicht sagen konnten. Wir haben noch einen langen Weg vor uns, bis wir eine Gesellschaft der Pluralität aufbauen können.
Hast du je darüber nachgedacht, deinen Kampf gegen den Islam aus Angst abzubrechen?
Es ist wichtig zu betonen, dass ich nicht gegen den Islam per se kämpfe, da es auch viele friedvolle Muslime gibt, deren Religionsfreiheit ich verteidige. Meine kritischen Worte gelten all denjenigen, die den Islam blind befolgen und keine Diskussion oder moderne Auslegungen zulassen.
Diese Menschen arbeiten hart daran, ein gemeinsames Zusammenleben zu verhindern. Sie versuchen die Gesellschaft in Gut und Böse zu unterteilen – Gläubige und Ungläubige. Ich werde meine Arbeit nicht wegen Todesdrohungen beenden. Das war mir schon in Marokko klar.
Du lebst mittlerweile seit gut vier Jahren in der Schweiz. Wie erlebst du das Land?
Die Schweiz ist wegen seinem politischen System ein einzigartiges Land mit einer stabilen Ökonomie. Die Schweiz ist bekannt für seine Neutralität, die ihr große Bewunderung und zur selben Zeit massive Kritik beschert. Es ist schwierig, über solche Dinge zu reden, ohne das staatliche System zu kennen. Es gibt trotz der Offenheit auch konservative Kantone wie Wallis und Schwyz – im Wallis wurde ein Lehrer namens Valentin Abgottspon entlassen, weil er ein Kruzifix von der Wand seines Klassenzimmers entfernte. Solche Dinge würden in Zürich und Genf nie passieren. Die Abstimmungsergebnisse bei politischen Initiativen beweisen das.
Was können die westlichen Länder zu dem Wandel beisteuern, den du forderst?
Der Westen muss sich erst seiner eigenen Situation bewusst werden. Einst schien es so, als würden wir uns in die richtige Richtung entwickeln. Heutzutage scheint man sich wieder rückwärts zu bewegen. Die westlichen Regierungen verbünden sich aus rein ökonomischen Gründen mit islamischen und theokratischen Staaten. Wir müssen uns überlegen, ob das moralisch und ethisch vertretbar ist.
Stimmt dich die offene Schweiz optimistisch oder wird durch den krassen Kontrast zu Marokko nur noch deutlicher, dass der Wandel noch lange ausbleiben wird?
Die Welt war schon immer so. Kriege und menschliche Katastrophen sind ein Teil unserer Existenz. Wir Menschen haben mehr Schaden angerichtet als Gutes getan, nicht nur an uns selbst sondern auch an unserer Erde. Ich habe immer noch Hoffnung auf eine bessere Zukunft, aber diese ist noch weit entfernt. Darum glaube ich, dass wir öfters an die Zukunft denken sollten. Nicht nur an die, in der wir leben werden, sondern auch die der kommenden Generationen.
Das Interview führte Sandro Bucher für den hpd.