Garniert wird das Debakel um die Stimmenauszählungen mit Vorwürfen der Opposition, es sei zur Wahlfälschung im großen Stil gekommen. Oppositionsführer und Hauptagitator von Recht und Gerechtigkeit Jaroslaw Kaczynski forderte auf einer Pressekonferenz Neuwahlen. Später sprach er in einem Interview mit dem erzkatholischen Sender Radio Maryja davon, dass die jüngsten Kommunalwahlen gefälscht seien. Diese Meinung wiederholte er in einer Rede vor dem polnischen Parlament (Sejm).
Ein starkes Argument, das Kaczynskis These stützt, sind die vielen ungültigen Stimmen (fast 18 %) bei den Wahlen der Landesparlamente. Indes war die Menge ungültiger Stimmen bei den Wahlen der lokalen Selbstverwaltungsorgane wie Bürgermeister oder Gemeindevorsteher wesentlich niedriger (2 %). Die Gazeta Wyborcza berichtete in dem Artikel “Tag der Schande” ferner über mutmaßlichen Stimmenkauf in Plock, einer Stadt nordöstlich von Warschau. Es sollen Wählerstimmen für 30–50 PLN (ca. 15 EUR) von Betrunkenen und Obdachlosen gekauft worden sein. Auch sollen kleine Gruppen von Aktivisten vor Wahllokalen für eine bestimmte Option geworben haben.
Kulminationspunkt mit Hausbesetzung
In der Woche nach den Wahlen wurde Polen daher von einer Protestwelle heimgesucht. In Warschau stürmten am Donnerstagabend nach den Wahlen Demonstranten aus dem rechten Lager das Gebäude der Landeswahlkommission und besetzten einen Konferenzraum. Die Demonstranten forderten Neuwahlen und den Rücktritt aller Mitglieder der Wahlkommission. Diese musste wegen des Vorfalls die Stimmenauszählung vorübergehend unterbrechen. In der Folge nahm die Polizei zwölf Personen fest. Anklage: Hausfriedensbruch.
Vor dem Gebäude der Kommission demonstrierten während dessen circa 1.000 rechte Demonstranten unter dem Motto: Stoppt die Wahlmanipulation. Die Partei Recht und Gerechtigkeit, die die Protestierenden eigentlich unterstützt, distanzierte sich von der Stürmung des Gebäudes und verurteilte diese.
Lichtblicke am Ende des Tunnels
Dabei ist nicht alles schlecht, was die Kommunalwahlen hervorgebracht haben. Lichtblicke zeigen sich in Anbetracht der zweiten Runde dieser Wahlen. Denn in Polen wird die Person in das Amt eines Bürgermeisters oder Präsidenten einer größeren Stadt gewählt, wenn diese mehr als 50 Prozent der abgegebenen Stimmen auf sich vereint. Posten, die somit Mitte November nicht vergeben wurden, mussten am Ende des Monats besetzt werden.
Bei zwei Wahlen ist es für das konservative Polen zu einer Überraschung sondergleichen gekommen. In Slupsk (Norden Polens) wurde der bekannte LGBT-Aktivist und bekennende Schwuler Robert Biedron zum neuen Oberbürgermeister gewählt. Biedron setzte auf einen bürgernahen Wahlkampf und versprach, er werde die alten Seilschaften der Stadt auflösen und diese modernisieren - auch in Hinblick auf Umweltaspekte. Seine sexuelle Orientierung und seine Ansichten über weltanschauliche Fragen machte Biedron nicht zum Wahlkampfthema. Dennoch musste er Beschimpfungen und Übergriffen über sich ergehen lassen. Umso überraschender ist seine Wahl auch, da der Aktivist, der auch noch Atheist ist, vormals in Warschau wohnte und keine Kontakte zu Plock hatte.
Die zweite Überraschung betrifft Wadowice, die Geburtsstadt von Papst Johannes Paul II., der in Polen als der “polnische Papst” hochverehrt wird. Dort wurde Mateusz Klinowski zum regierenden Bürgermeister gewählt. Kalinowski ist Atheist, Linker und Befürwortet der Legalisierung von Marihuana.
Wird Polen nun modern? Ganz sicher nicht! Zwei Schwalben machen noch keinen Frühling. Rechte Kräfte sind noch immer sehr stark und werden immer stärker mit der zunehmenden Ungleichheit im Lande. Doch das Potenzial für ein modernes aufgeschlossenes Polen ist hier und da vorhanden. Wird es sich entwickeln können?