"Christliche Moral" gibt es nicht

aufgeschl_bibeln.jpg

Aufgeschlagene Bibeln

BERLIN. (hpd/rdf) "Die meisten Religionen wurden zur modernen Aufgeklärtheit gezwungen und krallten sich dabei an der Vergangenheit fest" schreibt Michael Shermer in seinem Buch "The Moral Arc". Die Richard-Dawkins-Foundation hat Auszügen aus dem Buch jetzt ins Deutsche übersetzt.

Die meisten Leute glauben, dass der moralische Fortschritt vor allem dem leuchtenden Vorbild religiöser Lehren zu verdanken sei, den Aktivitäten spiritueller Führer und der Kraft glaubensbasierter Initiativen. In "The Moral Arc" behaupte ich, dass dies nicht der Fall ist, und dass der größte Teil des moralischen Fortschritts das Ergebnis von Wissenschaft, Vernunft und säkularen Werten ist, die während der Aufklärung entwickelt wurden. Wenn auf einem bestimmten Gebiet moralischer Fortschritt erst einmal in Gang gekommen ist, springen die meisten Religionen mit auf den Zug – wie bei der Abschaffung der Sklaverei, den Rechten der Frau und den Rechten der Homosexuellen im 20. Jahrhundert – aber das geschieht meist nach einer beschämend langen Verzögerung. Weshalb?

Die Regeln, die von zahlreichen Religionen durch die Jahrtausende erträumt und erfunden wurden, haben die Ausdehnung der moralischen Sphäre, eingeschlossen anderer empfindungsfähiger Wesen, nicht zum Ziel. Moses kam nicht vom Berg mit einer detaillierten Liste von Wegen, auf denen die Israeliten das Leben von Moabitern, Edomitern, Midainitern oder eines anderen Stammes, der nicht zu ihnen gehörte, verbessern konnten. Eine Begründung für diese beschränkte Sphäre kann in der Anordnung aus dem alten Testament “Liebe deinen Nächsten” gefunden werden, die zu jener Zeit die unmittelbar nächste Verwandtschaft und Mitmenschen waren, was allerdings eine der Zeit angemessene evolutionäre Strategie war.

Es wäre selbstmörderisch gewesen, deinen Nächsten wie dich selbst zu lieben, wenn dieser nichts lieber getan hätte, als dich zu vernichten, was für die bronzezeitlichen Menschen des alten Testaments häufig galt. Was hätte für die Israeliten beispielsweise Gutes dabei heraus kommen können, die Midianiter wie sich selbst zu lieben? Das Ergebnis wäre katastrophal gewesen, bedenkt man, dass die Midianiter mit den Moabitern in ihrem Wunsch, die Israeliten vom Angesicht der Erde zu tilgen, verbündet waren.

Heute glauben natürlich die meisten Juden, Christen und Moslems, dass die moralischen Prinzipien universell sind und auf jeden angewendet werden sollen, aber das liegt daran, dass sie das Bestreben der modernen Aufklärung, die Parameter der moralischen Vorstellung auszuweiten und neu zu definieren, in ihr moralisches Denken übernommen haben. Aber ihrer Natur nach sind die Weltreligionen stammesbezogen und xenophob. Sie dienen dazu, moralische Regeln innerhalb der Gemeinschaft zu regulieren, nicht aber dazu, außerhalb ihres Kreises Menschlichkeit anzustreben. Religion erzeugt ihrer Definition nach eine scharf umrissene Identität von "uns" und "nicht wie wir", diesen Heiden, diesen Ungläubigen. Die meisten Religionen wurden zur modernen Aufgeklärtheit gezwungen und krallten sich dabei an der Vergangenheit fest. Wenn sie überhaupt erfolgen, sind Veränderungen in religiösem Glauben und religiösen Praktiken langsam und schwerfällig und praktisch immer eine Reaktion der Kirche auf politische oder kulturelle Kräfte von außen.

Michael Shermer, Foto: Jeremy Danger
Foto: Jeremy Danger

Die Geschichte der Mormonen ist ein typisches Beispiel. In den 1830er Jahren erhielt der Gründer der Kirche, Joseph Smith, eine Offenbarung durch Gott, das was er euphemistisch "himmlische Ehe" nannte, exakter "Mehrehe" genannt – der Rest der Welt nennt es Polygamie – einzuführen, gerade zu dem Zeitpunkt, als er sich neu verliebt hatte, obwohl er mit einer anderen Frau verheiratet war.

Als Smith erst einmal das Salomonische Fieber hatte (König Salomon hatte 700 Frauen), konnte er sich selbst, oder seine Brüder, nicht davon abhalten, ihren Samen durch diese Praktik zu verbreiten, die 1852 in das Mormonische Gesetz durch seine heiligen “Doktrinen und Pakte” aufgenommen wurde. Bis 1890, als den Leute von Utah – begierig darauf dass ihr Staat der Union angeschlossen wurde – mitgeteilt wurde, dass Polygamie nicht toleriert werden würde. Günstiger Weise sandte Gott den Führern der Mormonen eine neue Offenbarung, in denen er ihnen befahl, das mehrere Frauen keine himmlische Segnung mehr wären, und statt dessen Monogamie jetzt der eine richtige Weg wäre.

Ebenso verbot die Politik der Mormonen Afroamerikanern, Priester in ihrer Kirche zu sein. Der Grund, weshalb Joseph Smith dies verordnete war, dass sie in Wahrheit nicht aus Afrika kämen, sondern von den bösen Lamanitern abstammen würden, die Gott verflucht hat, indem er ihre Haut schwarz färbte, nachdem sie den Krieg gegen die guten Nephiter verloren hatten, beides Stämme, die Nachfahren der verloren Stämme von Israel waren. Natürlich wurde die Ehe zwischen Rassen ebenfalls verboten, nachdem den Lamanitern Sex mit den guten Nephitern verboten wurde. Dieser rassistische Unsinn blieb eineinhalb Jahrhunderte bestehen, bis er mit dem "Civil Rights Movement" der 60er Jahre kollidierte. Letztlich verkündete der Führer der Kirche Spencer W. Kimball 1978, dass er eine Offenbarung von Gott erhalten hatte, die ihn anwies, die radikalen Restriktionen fallen zu lassen und ein inkluierenderes Gebaren anzunehmen.