Eine kurze Geschichte des Freitods

"Stirb zur rechten Zeit!"

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Haltende Hände
Haltende Hände, Maik Meid, Flikr CC BY-ND 2.0

GIESSEN. (hpd) Unser Autor Edgar Dahl hat für den hpd die Geschichte des Freitodes nachgezeichnet. Er zeigt auf, dass sich die Wertung des Suizids im Laufe der Geschichte sehr veränderte: in der griechischen Kultur war es völlig selbstverständlich, dass Menschen über ihr Lebensende selbst bestimmen können. Eine Verurteilung dieses Rechts auf Selbstbestimmung entstand erst mit dem Erstarken des Christentums.

In seinem Buch "Menschliches, Allzumenschliches" schrieb der deutsche Philosoph Friedrich Nietzsche: "Warum sollte es für einen alt gewordenen Mann, welcher die Abnahme seiner Kräfte spürt, rühmlicher sein, seine langsame Erschöpfung und Auflösung abzuwarten, als sich mit vollem Bewusstsein ein Ziel zu setzen? Die Selbsttödtung ist in diesem Falle eine ganz natürliche naheliegende Handlung, welche als ein Sieg der Vernunft billigerweise Ehrfurcht erwecken sollte: und auch erweckt hat, in jenen Zeiten als die Häupter der griechischen Philosophie und die wackersten römischen Patrioten durch Selbsttödtung zu sterben pflegten."

Wie weithin bekannt, haben die Griechen und Römer den Suizid tatsächlich mit ganz anderen Augen betrachtet als wir. Heute ist es kaum noch vorstellbar, doch im antiken Athen konnte ein Mann, der auf Grund unerträglicher Leiden seinem Leben ein Ende setzen wollte, geradewegs zum "Rat der 600" gehen und sich dort den berühmten "Schierlingsbecher" aushändigen lassen. Der Staat hielt jederzeit einen genügend großen Vorrat an Gift bereit, mit dessen Hilfe sich seine Bürger einem als unerträglich oder auch nur als unwürdig empfundenen Leben entziehen konnten.

In der Antike waren es vor allem zwei philosophische Schulen, die sich für ein Recht auf den selbstbestimmten Tod einsetzten: der Epikureismus und der Stoizismus. Zu den Epikureern zählten neben seinem Namensgeber Epikur vor allem Horaz und Lukrez. Zu den Stoikern zählten dagegen Zenon, Seneca und Marc Aurel.

Beide Schulen sind nicht nur zur selben Zeit und am selben Ort entstanden, nämlich im Athen des 3. vorchristlichen Jahrhunderts, sondern hatten auch ein und dasselbe Ziel: Sie wollten den Menschen die "Eudaimonia", das irdische Lebensglück, lehren. Ohne die Menschen auf ein zweifelhaftes Jenseits zu vertrösten, versuchten sie, ihnen ein Rezept dafür zu geben, wie man auch im Diesseits ein sinnvolles und erfülltes Leben führen kann. Das Rezept der Epikureer lautete "Ataraxia", das der Stoiker "Logos".

Mit der Ataraxia ist die Seelenruhe gemeint. Nach den Epikureern sollen die Menschen ein möglichst bescheidenes und zurückgezogenes Leben führen, indem sie sich dem Lärm der Welt entziehen, ihre Gelüste nach Ehre, Ruhm und Reichtum bezähmen und sich mit einfachen Genüssen wie intellektuell anregenden Gesprächen mit guten Freunden begnügen. Wenn jedoch, wie es insbesondere durch körperliches Leid und seelische Pein geschehen kann, die Seelenruhe unwiderruflich gestört wird und die Ataraxia für immer unerreichbar bleibt, darf der Mensch durchaus Hand an sich legen. Neben dem "Carpe diem" oder "Genieße den Tag" des Horaz gehört daher das Diktum "Es gibt keinen Zwang zu leben!" wohl zu den berühmtesten Sentenzen der Epikureer.

Mit dem Logos ist die Vernunft gemeint. Nach den Stoikern sollen die Menschen ein von Vernunft, Freiheit und Würde geprägtes Leben führen. Ein solches Leben setzt etwas Ähnliches wie die Ataraxia, nämlich die Apatheia, voraus, die man am besten mit der sprichwörtlich gewordenen "stoischen Ruhe" oder der "stoischen Gelassenheit" übersetzen kann.

Anders als die Epikureer, die der Selbstgenügsamkeit das Wort redeten und der Devise "Lebe im Verborgenen!" folgten, setzten die Stoiker ihre Kraft oft in den Dienst des Staates. Mark Aurel, der in den Jahren von 161 bis 180 Kaiser des Römischen Reiches war und sich selbst als den "ersten Diener des Staates" bezeichnete, beteuerte wieder und wieder: "Die Menschen sind füreinander da."

Doch wie die Epikureer, so waren auch die Stoiker der Ansicht, dass sich das Leben nur lohnt, solange man in der Lage ist, seiner Bestimmung zu folgen. Wenn ein Mensch unter so großen körperlichen Schmerzen oder so starken seelischen Qualen leidet, dass er kein vernunftgemäßes Leben mehr zu führen vermag, durfte er seine Existenz jederzeit beenden. So schrieb etwa Seneca: "Wenn der Körper den Dienst versagt, was sollte dann den Leidenden davon abhalten, der Seele ihre Freiheit zu geben? Unter Umständen müßte man sich noch eher dazu entschließen als es sein muß, um nicht, wenn es sein muß, unfähig dazu zu sein. Ich werde auf das Greisenalter nicht verzichten, wenn es mich mir ganz bewahrt. Aber wenn es Miene macht, an meinem Geiste zu rütteln, wenn es mir nicht das Leben, sondern nur das leibliche Dasein übrig läßt, dann werde ich den Sprung nicht scheuen, um herauszukommen aus dieser morschen und zusammensinkenden Behausung."

Wie im alten deutschen Sprichwort "Wer sich ertränken will, findet überall Wasser", weist auch Seneca auf die Vielzahl der Wege hin, um einem nur noch zur Last gewordenen Dasein jederzeit entfliehen zu können: "Der Ausgang aus dem Leben ist dir leichter gemacht als der Eingang. Sieh dich nur um, überall kannst du dein Elend endigen. Siehst du jene steile Stelle? Dort hinab geht’s in die Freiheit! Siehst du jenes Meer, jenen Fluß, jenen Brunnen? Auf ihrem Grund wohnt die Freiheit! Dein Hals, deine Kehle, dein Herz: lauter Wege, der Sklaverei zu entrinnen. Sind dir diese Auswege zu qualvoll, fordern sie zuviel Mut und Kraft, fragst du nach dem leichtesten Weg zur Freiheit: Jede Ader deines Körpers ist ein solcher Weg!"