Eine kurze Geschichte des Freitods

"Stirb zur rechten Zeit!"

Ein oft übersehener, aber doch sehr bedeutsamer Unterschied zwischen dem Epikureismus und dem Stoizismus war der, dass es bei ersterem nur ein "Recht zu sterben", bei letzterem aber geradezu eine "Pflicht zu sterben" gab. Dadurch dass die Stoiker neben der Vernunft auch der Freiheit und der Würde einen so außerordentlich hohen Wert beimaßen, sahen sie eine Vielzahl von Umständen, die es den Menschen regelrecht gebieten konnten, aus dem Leben zu scheiden. Schon ein Leben in Armut oder ein Leben in Unfreiheit waren nach Ansicht des Stoizismus nicht mehr lebenswert.

Die Geschichte der Antike ist denn auch voll von Beispielen, in denen Menschen in stoischer Manier ihr Leben ein Ende setzten. Lief eine griechische Polis in kriegerischen Auseinandersetzungen Gefahr, von einem übermächtigen Gegner erobert zu werden, stürzten sich die Männer und Frauen lieber in den Tod als ihrer Freiheit und Würde verlustig zu gehen und ein Leben in Schimpf und Schande zu leben. Denn nach dem Stoizismus war selbst "der schmutzigste Tod der saubersten Knechtschaft vorzuziehen."

Zum stoischen Ethos gehörte aber nicht nur die Pflicht zu sterben, sondern auch die Pflicht, auf die würdevollste Art zu sterben. Vor einem Freitod durch Gift hatte man beispielsweise weit weniger Respekt als vor einem Freitod durch den Venenschnitt. Für den Tod durch Erhängen hatte man nur Verachtung übrig. Wirkliche Bewunderung fand dagegen der Tod durch freiwilliges Verhungern.

Anders als Nietzsche in seiner zu Beginn dieses Kapitels zitierten Bemerkung suggeriert, herrschte in der Antike aber nie wirkliche Einigkeit über die Ethik der Selbsttötung. Denn neben dem Epikureismus und dem Stoizismus gab es zeit-gleich noch den Platonismus und den Aristotelismus, die den Menschen das Recht auf einen selbstbestimmten Tod in geradezu rigoroser Weise absprachen. Wie nicht weiter verwunderlich, fanden die Argumente von Platon und Aristoteles in dem unter Kaiser Konstantin erstarkten Christentum große Resonanz.

Kaum zur Macht gekommen, berief die katholische Kirche ein Konzil nach dem anderen ein, um den nun als "Selbstmörder" gebrandmarkten Suizidenten in Acht und Bann zu tun. Das Konzil von Arles erklärte im Jahre 452, dass Menschen, die ihrem Leben ein Ende setzen, vom Teufel besessen seien. Auf dem Konzil von Braga im Jahre 563 wurde beschlossen, dass Selbstmördern das kirchliche Begräbnis zu verweigern sei. In Toledo wurden 693 die Fürbittgebete für Selbstmörder im Gottesdienst verboten. Und Menschen, die sich eines Selbstmordversuchs schuldig gemacht hatten, wurden fortan für zwei Monate aus der Gemeinschaft der Gläubigen ausgeschlossen und das Sakrament der Kommunion verwehrt.

Nach und nach übernahmen auch die weltlichen Gesetzgeber die kanonischen Strafen der katholischen Kirche. So wurden im Mittelalter Selbstmörder sogar nachträglich "hingerichtet". In vielen Ortschaften Europas wurde der Leichnam an einem Baum aufgehängt oder vor die Tore der Stadt geschleift, um ihn den Hunden und Vögeln zum Fraß zu überlassen. In München wurde der Körper eines Selbstmörders in einem Fass in die Isar geworfen. In Paris zerrte man den Leichnam mit dem Gesicht nach unten über das Kopfsteinpflaster und hängte ihn am Richtplatz an den Füßen auf. Am weitesten verbreitet war jedoch das Begraben an einer Weggabelung, wobei man dem Leichnam einen Holzpfahl in die Brust schlug, um sicher zu stellen, dass der Tote die Lebenden nicht als Geist heimsucht.

In seiner "Constitutio Criminalis Carolina" oder "Peinlichen Halsgerichtsordnung" von 1532 verfügte Kaiser Karl V. in Paragraph 135 die Konfiskation aller Güter eines Selbstmörders. Nur für den Fall, dass der "Täter" nachweislich unzurechnungsfähig gewesen war, konnte der Besitz in die Hände der rechtmäßigen Erben fallen.

Mit der Renaissance erlebte auch die Philosophie der Antike eine Wiedergeburt. Obgleich man nicht davon sprechen kann, dass auch die Lehren des Epikureismus und des Stoizismus sogleich eine Wiederauferstehung erlangten, machte sich nun doch zumindest wieder ein gewisses Verständnis für die Menschen breit, die unter dem "taedium vitae", also dem Lebensüberdruss, litten. So schrieb etwa der Humanist Erasmus von Rotterdam in seinem 1509 geschriebenem "Lob der Torheit": "Schmerzvoll und schmutzig ist der Sterblichen Geburt, nur mit vieler Mühe werden sie großgezogen, Unbilden haben sie in der Kindheit zu überstehen, die Jugend bringt ihnen große Mühen, das Alter ist eine stete Quelle von Beschwerden – und eine Härte ist der Tod. Und während des ganzen Lebens, welche Fülle von Krankheiten, welche Unzahl von Zufälligkeiten und Unannehmlichkeiten! Keine Freude, die nicht durch Kummer und Sorge geprägt wäre! Wer aber waren vornehmlich diejenigen, die sich aus Lebensüberdruß selbst den Tod gaben? Waren es nicht die Freunde der Weisheit?"

Der Humanist Thomus Morus ging sogar noch einen entscheidenden Schritt weiter, als er in seinem 1516 erschienenen Buch "Utopia" das Bild einer gerechten und auf den Leitsätzen der Vernunft beruhenden Republik beschrieb, die sich auch der Sterbenden annahm: "Indessen wenn die Krankheit nicht nur unheilbar ist, sondern auch noch den Kranken beständig quält und martert, dann reden die Priester ihm zu, er möge bedenken, daß er allen Berufspflichten seines Lebens nicht mehr gewachsen, anderen zur Last fallen und sich selber schwer erträglich sei und somit seinen eigenen Tod bereits überlebe; deshalb möge er nicht darauf bestehen, die Seuche und Ansteckung noch weiter zu nähren und nicht zaudern, in den Tod zu gehen, da ihm das Leben doch nur eine Qual sei; somit möge er getrost und guter Hoffnung sich selbst aus diesem schmerzensreichen Leben wie aus einem Kerker oder einer Folter befreien oder willig gestatten, daß andere ihn der Qual entrissen. Daran werde er weise handeln, da er durch den Tod ja nicht die Freuden, sondern nur die Marter des Lebens abkürze; zugleich aber werde es eine rechtschaffene und fromme Tat sein, da er damit nur dem Rat der Priester gehorche, die Gottes Willen auslegen. Wen sie mit diesen Gründen überzeugen, der endet sein Leben freiwillig durch Fasten oder findet in der Betäubung ohne eine Todesempfindung seine Erlösung. Gegen seinen Willen aber schaffen sie niemanden beiseite, vernachlässigen auch um der Weigerung willen in keiner Weise die Pflege des Kranken."