Sterbehilfedebatte

Chronik eines angekündigten Todes

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Screenshot: "Goodbye world' Terminally ill cancer sufferer Brittany Maynard ends her life"
Screenshot: "Goodbye world' Terminally ill cancer sufferer Brittany Maynard ends her life"

GIESSEN. (hpd) Das öffentliche Sterben von Brittany Maynard hat in den USA eine noch nie dagewesene Debatte zur Sterbehilfe entfacht. Allein in diesem Jahr wird es in über zwanzig Bundesstaaten der USA Volksabstimmungen über die Legalisierung des ärztlich-assistierten Suizids geben.

Ihr Fall sorgte weltweit für Schlagzeilen. Als die 29-jährige Brittany Maynard letztes Jahr erfahren musste, dass sie unter einem bösartigen Hirntumor leide und nur noch sechs Monate zu leben habe, kündigte sie an, sich am 1. November 2014 das Leben zu nehmen. Dank der tödlichen Dosis eines Schlafmittels, das die behandelnden Ärzte ihr ausgehändigt hatten, fand sie die nötige Ruhe und Kraft, das Beste aus der ihr verbleibenden Lebenszeit zu machen. Sie verbrachte kostbare Zeit mit ihren Eltern, reiste mit ihrem Ehemann zum Grand Canyon und gründete eine Stiftung zur Förderung des selbstbestimmten Sterbens. Wie geplant, trank sie am 1. November 2014 das in Wasser aufgelöste Barbiturat und entschlief friedlich im Kreise ihrer Lieben.

Dass sie die Umstände ihres Todes so genau planen konnte, verdankte Brittany Maynard dem Umstand, in Oregon zu leben, einem relativ kleinen Bundesstaat im Nordwesten der USA, der am 28. Oktober 1997 den so genannten Death With Dignity Act in Kraft gesetzt hat. Dieses "Gesetz zu einem Tod in Würde" erlaubt es unheilbar erkrankten Patienten, sich von ihrem Arzt eine tödliche Dosis eines Medikamentes verschreiben zu lassen, mit dem sie sich für den Fall, dass ihr Leiden unerträglich werden sollte, selbst das Leben nehmen können.

Seit der Legalisierung des ärztlich-assistierten Suizids in Oregon sind nunmehr siebzehn Jahre verstrichen – siebzehn Jahre, in denen sich zeigte, dass eine Praxis der medizinischen Hilfe bei der Selbsttötung ohne jede Form von Missbrauch funktionieren kann. Von dem Gesetz profitieren nicht nur die relativ wenigen Patienten, die tatsächlich von ihm Gebrauch machen, sondern buchstäblich alle unheilbar erkrankten Menschen in Oregon. Denn sie alle wissen, dass es "für den Fall der Fälle" jederzeit ärztliche Hilfe gibt.

Wie in Deutschland, so gab es auch in Oregon politische, religiöse und medizinische Bedenkenträger, die vor etwaigen Missbräuchen warnten. Trotz aller Unwägbarkeiten ist man jedoch das Wagnis eingegangen, sich dem Willen der Mehrheit der Bevölkerung zu beugen und eine mit großer Skepsis betrachtete Sterbehilfepraxis einzuführen. Alles, was man hatte, war die Hoffnung, dass die vielen in das Gesetz eingebauten Sicherheitsvorkehrungen hinreichen werden, um vor den Gefahren eines möglichen Missbrauchs zu schützen.

Damit ein Patient vom ärztlich-assistierten Suizid Gebrauch machen kann, muss er mehrere Bedingungen erfüllen. Er muss volljährig sein, seinen ständigen Wohnsitz in Oregon haben und an einer unbehandelbaren Erkrankung leiden, die in weniger als sechs Monaten zum Tode führt. Zwei unabhängige Ärzte müssen hinsichtlich der Diagnose und der Prognose übereinstimmen. Falls einer der beiden Ärzte den Verdacht hat, dass der Patient nicht urteilsfähig ist, muss ein psychiatrisches Gutachten eingeholt werden. Wenn all diese Bedingungen erfüllt sind, hat der Patient einen schriftlichen und zwei mündliche Anträge auf das Medikament zu stellen, wobei zwischen dem ersten und dem zweiten Antrag mindestens 15 Tage Bedenkzeit liegen müssen. Der Arzt, der das Rezept ausstellt, ist verpflichtet, den Patienten über alle verfügbaren Alternativen, wie etwa eine palliativmedizinische Behandlung oder eine Betreuung im Hospiz, zu informieren. Kein Arzt ist verpflichtet, einem Patienten eine tödliche Dosis eines Barbiturats zu verschreiben.

Zwischen 1997 und 2014 haben alles in allem 859 Menschen – 453 Männer und 406 Frauen – vom ärztlich-assistierten Suizid Gebrauch gemacht. Das Durchschnittsalter betrug 71 Jahre. Rund 80 Prozent der Patienten litten an Krebs im Endstadium, andere an degenerativen Erkrankungen, wie etwa der Amyotrophen Lateralsklerose oder kurz "ALS" genannt. Bemerkenswerterweise entfallen damit nur etwa drei von 1.000 Todesfällen in Oregon auf den Death With Dignity Act.

Noch weit interessanter ist vielleicht, dass rund ein Drittel der Patienten, die sich ein Rezept hatten ausstellen lassen, das Medikament letztlich gar nicht verwendet haben. Obgleich 1.327 Menschen eine tödliche Dosis eines Barbiturats verschrieben bekamen, haben es nur 859 Menschen wirklich eingenommen. Offenbar haben sie es sich einfach "unter das Kopfkissen" gelegt und sich mit dem Wissen begnügt, dass sie einem als unwürdig empfundenen Tod jederzeit entfliehen können. Mit anderen Worten: Alles, wonach sie sich sehnten, war, Kontrolle über ihr Sterben zu haben.

Vor dem Inkrafttreten des Death With Dignity Acts gab es viele Spekulationen über die möglichen sozialen Auswirkungen der neuen Gesetzgebung. Gegner des ärztlich-assistierten Suizids hatten beispielsweise prophezeit, dass es wohl in erster Linie eher ungebildete, unversicherte und einkommensschwache Patienten sein werden, die von dem neu geschaffenen Gesetz Gebrauch machen würden. Nach siebzehn Jahren ausgezeichnet dokumentierter Praxis lassen sich die meisten der damals gemachten Vorhersagen heute gut überprüfen.

So lässt sich heute etwa zeigen, dass es keineswegs die sozial Schwachen sind, die die Möglichkeit des ärztlich-assistierten Suizids nutzen. Ganz im Gegenteil, die überwiegende Mehrheit der Patienten, die vom Death With Dignity Act Gebrauch machen, sind nachweislich gut verdienende, gut ausgebildete und gut versicherte Patienten. Von den 859 Menschen, die sich zwischen 1997 und 2014 mit ärztlicher Hilfe selbst getötet haben, hatten 38 Prozent eine gesetzliche und 62 Prozent eine private Krankenversicherung. Ähnlich verhält es sich mit dem Bildungsstand. Von den 859 Patienten hatten 22 Prozent ein Abitur, 26 Prozent hatten einen College besucht und 46 Prozent hatten sogar einen Magister- oder Doktortitel. Lediglich 6 Prozent hatten kein Reifezeugnis. Das bedeutet, dass die Wahrscheinlichkeit, vom ärztlich-assistierten Suizid Gebrauch zu machen, unter Patienten mit einem Hochschulabschluss rund achtmal so groß ist wie unter Patienten ohne Hochschulabschluss.

Hat der Death With Dignity Act dazu geführt, dass sich sterbende Menschen zunehmend als "sozialen Ballast" empfinden? Nein! Die meist-genannten Gründe dafür, dass Patienten vom ärztlich-assistierten Suizid Gebrauch gemacht haben, sind der "Verlust der Selbständigkeit" (91 Prozent), der "Verlust der Würde" (79 Prozent) und der "Verlust der Fähigkeit, Dinge zu tun, die das Leben lebenswert machen" (89 Prozent). Die Sorge, eine Last für andere zu sein – insbesondere für Familie und Freunde –, rangiert mit 40 Prozent relativ niedrig. Und bei dieser Zahl von 40 Prozent gilt es noch zu bedenken, dass Patienten, die sich ein Rezept ausstellen lassen, für gewöhnlich mehrere Gründe für ihren Todeswunsch angeben und die Angst, anderen zur Last zu fallen, kaum jemals der einzige oder gar ausschlaggebende Grund ist.

Palliativmediziner sagen gerne: "Wer keine Schmerzen hat, will auch nicht sterben." Wie die Erfahrungen aus Oregon zeigen, könnte nichts weiter von der Wahrheit entfernt sein. Mit 25 Prozent bildet die "Angst vor unerträglichen und nicht kontrollierbaren Schmerzen" gewissermaßen das Schlusslicht der Liste mit den meistgenannten Gründen für eine Bitte um Hilfe bei der Selbsttötung. Weit stärker als die Angst vor nicht zu lindernden Schmerzen ist offenbar der Wunsch, nach seinen eigenen Vorstellungen sterben zu dürfen. Sie wollen vor allem Kontrolle über ihr Sterben haben und die Zeit, den Ort und die Art ihres Todes selbst bestimmen. Vermutlich dürfte ihnen der kürzlich verstorbene New Yorker Rechtsphilosoph Ronald Dworkin aus dem Herzen gesprochen haben, als er geschrieben hatte: "Nichts ist demütigender, als von anderen vorgeschrieben zu bekommen, wie man zu sterben habe."

Zweifellos haben sich die Palliativmedizin und das Hospiz große Verdienste erworben. Sie machen das Verlangen nach einem ärztlich-assitierten Suizid aber keineswegs überflüssig. Dies zeigt vor allem die Tatsache, dass 747 der 859 Patienten, die in Oregon vom Death With Dignity Act Gebrauch gemacht haben, zuvor in einem Hospiz waren! Letztlich entschieden sie sich aber dafür, lieber zu Hause im Kreise ihrer Familie zu sterben.

Angesichts der guten Erfahrungen, die man in Oregon machen konnte, haben der Bundesstaat Washington im Jahre 2009 und der Bundesstaat Vermont im Jahre 2013 ebenfalls den ärztlich-assistierten Suizid legalisiert.

Wie Peg Sandeen, die Leiterin des Death With Dignity National Centers in Portland, versichert, sei es aber vor allem der Aufsehen erregende Fall von Brittany Maynard gewesen, der dafür gesorgt hat, dass es jetzt bundesweit ein Umdenken gibt. Allein in diesem Jahr wird es in über 20 US-Bundesstaaten Volksabstimmungen über die Einführung eines an Oregon angelehnten Death With Dignity Acts geben. Zu diesen Bundesstaaten zählen zum Beispiel Kalifornien, Colorado, Nevada, New York und Washington, D.C.

Auch in Deutschland wünscht man sich eine Liberalisierung der Sterbehilfe. Nach einer kürzlich vom Tagesspiegel in Auftrag gegebenen Umfrage spricht sich eine überwältigende Mehrheit der Bundesbürger für eine Praxis des ärztlich-assistierten Suizids aus: "81 Prozent der Befragten finden, dass schwerstkranken Menschen, die sterben wollen, ein Mittel zur Verfügung gestellt werden soll, mit dem sie ihren Tod selbst herbeiführen können. 14 Prozent sind dagegen, 5 trauen sich hier kein Urteil zu."

Die deutsche Politik zeigt sich jedoch taub für die Bitten ihrer Bürger und blind für die Erfahrungen aus dem Ausland. Obgleich gerade die Daten aus Oregon alle selbst ernannten Bedenkenträger Lügen strafen, heißt es hierzulande kategorisch: "Die Selbsttötungshilfe darf keine Behandlungsvariante sein!"

Statt einer Liberalisierung redet man hierzulande sogar einer Kriminalisierung das Wort. So will Bundesgesundheitsminister Hermann Gröhe etwa die einzige in Deutschland existierende Sterbehilfeorganisation strafrechtlich verbieten lassen; und Bundesärztekammerpräsident Frank Ulrich Montgomery fordert ein standesrechtliches Verbot jeglicher ärztlichen Hilfe bei der Selbsttötung.

Beide Verbote – sowohl das von Gröhe als auch das von Montgomery geplante Verbot – dürften sich als verfassungswidrig erweisen. Falls sie dennoch mit ihren Verbotsforderungen im Parlament durchkommen, werden die Menschen in Deutschland wohl wieder mit ihren Füßen abstimmen: Wie zuletzt der Literaturkritiker Fritz J. Raddatz werden sie in die Schweiz gehen, um dort die Freiheit in Anspruch zu nehmen, die man ihnen in ihrem Heimatland verwehrt.