Putins Krieg und die Russisch-Orthodoxe Kirche

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Wladimir Putin und Kyrill I., Vorsteher der Russisch-Orthodoxen Kirche.

Der Krieg, den Russland gegen die Ukraine führt, kam nicht aus dem Nichts. Seit Jahrzehnten befördern verschiedene ideologische Strömungen russischen Größenwahn und anti-westliche Ressentiments. Auch die Russisch-Orthodoxe Kirche spielt hierbei eine wichtige Rolle. 

Im Westen sind viele erschrocken, als sie hörten, dass die Russisch-Orthodoxe Kirche (ROK) Putins Krieg gegen die Ukraine voll unterstützt. Denn der Patriarch Kyrill sagt, die Ukraine sei von den Idealen der Orthodoxen Kirche und von der russischen Identität abgefallen. Das Land müsse militärisch bestraft werden, weil die Ukrainisch-Orthodoxe Kirche (UOK) die Mitglieder der ROK unterdrücke. Denn im Jahr 2019 hatte sich die UOK von der ROK getrennt und sich dem Patriarchen von Konstantinopel unterstellt.

Heute besteht ein tiefer Riss zwischen der ROK und den westlichen Kirchen (Katholiken und Protestanten), der immer mehr zu einem politischen Graben wird. Denn die westlichen Kirchen haben sich in den letzten 79 Jahren für die Demokratie, den Rechtsstaat und die allgemeinen Menschenrechte geöffnet, was aber in der ROK nicht möglich war. Heute gibt diese Kirche mehrheitlich die Lehren und Normen der antiken Kirchenväter (Basilios, Gregorios, Athanasios) weiter, aber auch den Glauben des Mittelalters (Gregorios Palamas). In dieser Kirche war nie eine rationale Aufklärung möglich geworden, auch nicht unter Zar Peter I. und der Zarin Katharina II. im 18. Jahrhundert. In der Zeit der "Heiligen Allianz" war die ROK neben dem Militär die tragende Säule des Zarenreichs. In der Sowjet-Union waren keine Lernprozesse dieser Kirche möglich und seit 1991 wurden sie von der Kirchenleitung unterdrückt und verweigert.1

Damit ist die ROK bis heute eine Kirche geblieben, die sich der rationalen Aufklärung, der Demokratie und den allgemeinen Menschenrechten massiv widersetzt. Das zeigten auch die meisten Theologen im 20. Jahrhundert (Pavel Florenskij, Sergej Bulgakow, Niklas Afanasief). Diese Theologen folgen seit der griechischen Antike dem Modell der christlichen Staatsreligion, die im Sinne des Platonischen Staates verwirklicht wurde. Denn Platon war, wie Karl Popper gezeigt hat, der Vordenker des autoritären Staates, der geschlossenen Gesellschaft und der totalen Kontrolle. Das Gegenmodell ist die "offene Gesellschaft" der rationalen Aufklärung (Stoiker), dem die westlichen Kirchen gefolgt sind.2

Nur einige Theologen der ROK, die in den USA leben (wie Georges Florensky), neigen der rationalen Aufklärung und der Demokratie zu, aber ihr Denken hat wenig Einfluss auf die Theologen in Russland. Die Kirchenleitung der ROK bedauert den Zerfall der Sowjetunion, obwohl sie seit 1991 vom Staat alle Kirchen und Klöster zurückbekommen hat. In der Ukraine trennte sich die UOK (24 Prozent aller Ukrainer) von der ROK (13 Prozent aller Ukrainer), sie forderte ihre Kirchen und Klöster zurück. Das deutet die ROK in Moskau als Unterdrückung. In der Ukraine gehören 9 Prozent zur Römisch-Unierten Kirche, ungefähr 20 Prozent bezeichnen sich als religionslos und weitere 20 Prozent als säkulare Kulturchristen. Die ROK hat in der Ukraine 53 Diözesen und Metropoliten.3

In der Russischen Föderation mit ungefähr 144 Millionen Einwohnern hat die ROK 230 Diözesen und Metropoliten; aber nur 9 Prozent der Bevölkerung gehen regelmäßig in Kirchen. Dennoch sehen 70 Prozent aller Russen ihre Identität in der "orthodoxen Kultur", gleichgültig ob sie religiös oder Atheisten sind. Ungefähr 22 Prozent bekennen sich als Atheisten, 9 Prozent sind Muslime. Auch viele Nichtreligiöse unterstützen mit starker Überzeugung die ROK und die orthodoxe Kultur. Sie wenden große Summen auf, um Kirchen und Klöster zu restaurieren und deren Kuppeln zu vergolden. Damit ist aus einer mittelalterlichen Kirche eine restaurative Staatsdoktrin geworden, die vor allem von der "Russischen Vaterlandspartei" getragen wird. Wir haben es mit einer politischen Ideologie zu tun, die von einer säkularisierten Religion genährt wird.4

Die "Slawophilen" und die "Eurasier"

Nun wird diese Ideologie auch von zwei großen Schulen der Philosophie mitgetragen, von den "Slawophilen" und den "Eurasiern". Die Slawophilen bildeten sich im 19. Jahrhundert, sie wollten alle slawischen Völker in Europa zu einer politischen Einheit verbinden. Auch sie standen bereits gegen die Ideen und Ziele der rationalen Aufklärung, die aus England und Frankreich kam und die slawischen Länder verschonen sollte. Der Kampf richtete sich auch bei diesen Denkern gegen die Demokratie und die allgemeinen Menschenrechte. Das Programm der "Eurasier" im 20. Jahrhundert war und ist, dass Russland die politische Herrschaft über ganz Europa und Nordasien übernehmen sollte (von Wladiwostok bis Lissabon); denn es habe die größte Bevölkerung, die weiteste Ausdehnung, die meisten Bodenschätze und seit 1951 die meisten Atomwaffen. Diese Ideologie wurde von Ivan Iljin verbreitet, der 1954 im Exil in der Schweiz starb. Im Jahr 2005 wurden seine Gebeine nach Moskau überführt.5

Die Philosophen der "Eurasier" bauen ihre politische Ideologie stark auf dem Modell der orthodoxen Identität und Kultur auf. Sie nehmen den politischen Maßstab am Platonischen Staat und an der Struktur der ROK, von daher lehnen sie die "dekadente Staatsform" der Demokratie entschieden ab; denn in der Demokratie würden nicht die Eliten, sondern die Mittelmäßigen zur Herrschaft kommen. Auch seien allgemeine Wahlen und die gleichen Menschenrechte für alle sinnlos, denn sie schwächen den Staat und die Politik. Der starke Staat brauche wie die ROK starke Führer mit großen Visionen, auch der Krieg sei weiterhin ein Mittel der Politik. Meinungsfreiheit für alle dürfe es nicht geben, die "schwächlichen" Demokratien würden daran bald zugrunde gehen. In einigen Ländern (wie den USA) müssten dann Gerichte entscheiden, wer im Land Staatspräsident wird.6

Ein Vordenker dieser politischen Ideologie ist Alexander Dugin (geboren 1962), dessen Schriften heute in ganz Russland an den Gymnasien, Universitäten, Hochschulen und Militärakademien verbreitet werden. Er hat viele Ideen und Denkmodelle von Friedrich Nietzsche, Ernst Jünger, Carl Schmitt und Alain de Benoist übernommen. Er geht davon aus, dass von der Natur her (ek physei) die Stärkeren das Recht hätten, über die Schwächeren zu bestimmen (Theognis von Megara, Kritias von Athen). Daher habe eine starke Russische Vaterlandspartei das Recht, ihre politischen Ansprüche auf ganz Europa auszudehnen. Russland habe seit dem Zweiten Weltkrieg (mit 28 Millionen Toten) noch eine Rechnung offen mit den faschistischen Ländern in Europa. Seit 2014 (als die Maidan-Revolution stattfand) seien diese "Faschisten" in die Ukraine eingefallen, Putin führe jetzt einen notwendigen Abwehrkampf. Dass aber alle Demokratien in Europa heute "Antifaschisten" sind, interessiert diese Philosophen und Ideologen nicht.7

Die Ideologen der Russischen Vaterlandspartei bauen seit 30 Jahren einen tiefen Graben zur westlichen Kultur auf, dabei berufen sie sich auf die Traditionen der RUK. Die nach dem Westen orientierten Philosophen ("Westler") hatten in den letzten Jahren wenig Chancen, ihre Ideen und Ziele zu verbreiten. Sie wollten und wollen weiterhin die russische Kultur in kleinen Schritten an die rationale Aufklärung, die Demokratie und den Rechtsstaat heranführen, sie wollten allgemeine Menschenrechte, mehr Sozialhilfe für die Armen, freie politische Diskussion und freie Wahlen im ganzen Land erreichen. Doch sie wurden von den Ideologen der Slawophilen und der Eurasier zu "Feinden" des russischen Volkes erklärt. Erstaunlich ist nun, dass auch in den westlichen Ländern die Vordenker der "Neuen Rechten" den Vorgaben der Russischen Vaterlandspartei folgen.8

Anklang im Westen

Viele Vordenker und Nachdenker der "Identitären", der "Querdenker", der "Reichsbürger", der Pegida, der Lega, des Rassemblement National, des Vlaams Block und vieler anderer nationalistischer Bewegungen suchen genauso das Modell des starken und des autoritären Staates; auch sie wollen die "schwächliche" Demokratie überwinden und durch starke Führerstaaten ersetzen, in denen nur kleine Eliten alle politischen Entscheidungen treffen. Gewiss zwingen sie damit alle Demokratien zu politischen Lernprozessen und zu ideellen Korrekturen. Viele Verteidiger der Demokratie denken heute wieder an das Modell der "wehrhaften Demokratie", die sich vor ihren Gegnern und Feinden zu schützen weiß. Denn eine totale Toleranz aller Lehren und Ideologien hebt sich selbst auf und zerstört sich selbst in kurzer Zeit (John Locke, Karl Popper).9

Putins Krieg und die rapide Verbreitung totalitärer Ideologien der Herrschaft zwingen kritische Philosophen und die Verteidiger der Demokratie zu dringlichen Lernprozessen, viele Demokratien in Europa sind im wirtschaftlichen Wohlstand und im dauerhaften Frieden schwerfällig, bürokratisch und unkritisch geworden. Heute merken viele Zeitgenossen, dass demokratische Prozesse und die allgemeinen Menschenrechte nicht selbstverständlich sind. Sie sehen, dass angesichts der großen Problemfelder der Zeit viele nebensächliche Probleme diskutiert werden. Sie erkennen, dass der übersteigerte Aufdeckungs-Journalismus an den großen Aufgaben der Gesellschaften vorbeiredet. Die Nachbeter der "Neuen Rechten" müssen sich erklären, ob sie sich der großrussischen Ideologie unterwerfen wollen oder ob sie dagegen kämpfen werden. Auf alle Fälle ringen heute die Anhänger des Kritischen Rationalismus und der Pragmatischen Philosophie um die aufrechte Vernunft (orthos logos) in Zeiten massiver geistiger Aufrüstungen. Denn der Fortbestand der liberalen Demokratien steht auf dem Prüfstand.10


1 Thomas Bremer: Kreuz und Kreml. Geschichte der orthodoxen Kirche in Russland. Freuburg 2017,  S. 160-171.

2 Karl Popper: Die offene Gesellschaft und ihre Feinde. Frankfurt 1949, S. 112-124.

3 Thomas Bremer: Kreuz und Kreml. Geschichte der orthodoxen Kirche in Russland. Freuburg 2017, S. 156-170.

4 Ulrich Schmid: Russische Religionsphilosophie des 20. Jahrhunderts. Freiburg 2003, S. 78-92.

5 Klaus-Dieter Eichler, Ulrich Johannes Schneider: Russische Philosophie im 20. Jahrhundert. Leipzig 1996, S. 145-166.

6 Alexander Dugin. In: Wikipedia, aufgerufen im Mai 2022.

7 Alexander Dugin. In: Wikipedia, aufgerufen im Mai 2022.

8 Bruno Heidelberger: Fluchten ins Autoritäre im Lichte aktueller Entwicklungen. In: Aufklärung und Kritik 4/2020, S. 234-240.

9 Anton Grabner-Haider (Hg.): Denken im Widerstand: Gegen Fake News und neue Ideologien. Perchtoldsdorf 2022, S. 55-67.

10 Anton Grabner-Haider (Hg.): Denken im Widerstand: Gegen Fake News und neue Ideologien. Perchtoldsdorf 2022, S. 45-56.

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