BERLIN. (hpd) Quer über den Alexanderplatz in Berlins Mitte hasten Menschen auf dem Weg zu ihren Arbeitsstellen. Kaum einer hat einen Blick für den Mühlstein, der in der Mitte des Platzes liegt. Das war am Montag noch anders.
"Wer aber einem von diesen Kleinen, die an mich glauben, Ärgernis gibt, dem wäre es besser, wenn ihm ein Mühlstein an den Hals gehängt und er in die Tiefe des Meeres versenkt würde." So steht es im Vers 18 des Matthäus-Evangeliums und eingemeißelt auf dem Mühlstein.
Die Initiative gegen Gewalt und sexuellen Missbrauch an Kindern und Jugendlichen will damit ein Zeichen setzen und an die (mühlsteinschwere) Verantwortung erinnern, die Erwachsene gegenüber Kindern haben. "Wenn ich mein Enkelkind sehe frage ich mich immer wieder: wie kann man solch kleinen Menschen Unheil antun?" fragte Johannes Heibel am Montag bei der Auftaktveranstaltung.
Die Würde und Unversehrtheit von Kindern und Jugendlichen darf niemals verletzt werden - darauf wurde von mehreren der Rednern am Montagnachmittag hingewiesen. Vor allem die kurze Ansprache des Direktors des Instituts für Rechtsmedizin der Berliner Charité, Prof. Dr. med. Michael Tsokos. Der Autor des Buches "Deutschland misshandelt seine Kinder" stach hervor. Er wies darauf hin, dass noch heute in jeder Woche statistisch drei Kinder wegen familiärer Gewalt versterben. Er vermutet, dass die Dunkelziffer sogar noch viel höher sei.
Der Mühlstein symbolisiert für die Initiatoren der seit 2008 durch Deutschland reisenden Ausstellung auch die große Last der Opfer. Diese fühlten sich - trotz aller Aufklärung der Missbrauchsfälle in den vergangenen Jahren - noch immer nicht in ihrer Not genügend wahrgenommen. Dabei - so Matthias Katsch vom Betroffenenrat bei dem Unabhängigen Beauftragten für Fragen des sexuellen Kindesmissbrauchs - stehen sowohl Kirchen als auch Politiker in der Pflicht, aus der Vergangenheit Lehren zu ziehen. Doch bislang wird zwar viel über die Betroffenen gesprochen, hieß es, aber noch zu wenig und zu selten mit ihnen.
Der Mühlstein, an dem die Passanten achtlos vorüber hasten, wird noch bis zum 27. April auf dem Alexanderplatz mahnen. Anschließend wird er (bis zum 4. August) auf dem Dorothea-Schlegel-Platz am S-Bahnhof Friedrichstraße aufgestellt sein.
Nachtrag am 22. April 2015
Tatsächlich ist die Symbolik des Mühlsteins missverständlich. Er soll nach Aussage der Initiatoren weder die Todesstrafe relativieren noch für die Täter fordern.
Und auch die Frage ist berechtigt, ob mit dem Stein, auf dem ein Bibelzitat eingraviert ist, auch "ungläubige" Opfer erfasst werden sollen. Davon kann ebenfalls ausgegangen werden.
An der Seite des Steines ist diese kleine Tafel eingelassen:
8 Kommentare
Kommentare
René am Permanenter Link
... und das Bestreben, die Rechte der Schwächsten unter uns zu verteidigen, ist ein sinnvoller Grund für dafür, der Gesellschaft Bibelsprüche in der Öffentlichkeit aufzunötigen?
Robert Marxreiter am Permanenter Link
Bestürzend. Nicht nur wird hier Blutrache befürwortet sondern darüber hinaus wird scheinbar impliziert, dass Kleine, die nicht an Gott glauben, vogelfrei sind.
Michael Paschko am Permanenter Link
Das Anliegen der Initiatoren in allen Ehren, aber man kommt hier leider nicht umhin festzustellen, dass sie sich in der Wahl der Mittel - Mühlstein und Matthäus-Vers - auf das Heftigste vergriffen haben.
Warum ist diese Aktion völlig daneben, das Symbol so völlig neben dem Gemeinten?
Zwei Gründe springen einem geradezu ins Auge:
1) "Der Mühlstein symbolisiert für die Initiatoren ... auch die große Last der Opfer" lesen wir. Aber schauen wir uns den Vers genauer an, so finden wir das dort gerade nicht. Der Mühlstein symbolisiert hier nicht die Schwere des "Ärgernisses" sondern steht für die Maßlosigkeit der Strafforderung für die Täter. Er dient im Vers als Tötungsinstrument, mit dem die Täter ertränkt werden sollen. Damit passt das Symbol Mühlstein viel besser zu den bekannten Forderungen nach Todesstrafe für Kinderschänder als zu einer Verdeutlichung des Leids missbrauchter Kinder.
2) Als zweite fällt auf, dass es bei der Beschreibung der Opfer im Vers eine unmissverständliche Einschränkung gibt: "die an mich glauben". Das heißt doch: Nur christliche Opfer sollen hier geschützt werden. Und das ist sicherlich nicht das, was die Initiatoren beabsichtigen.
Für den schwerwiegendsten Einwand muss man etwas tiefer graben:
3) Wer ist eigentlich mit den "Kleinen, die an mich glauben", und was ist mit "Ärgernis geben" gemeint? Hat dieser Vers überhaupt irgendetwas (und wenn auch nur im weitesten und eingeschränktesten Sinn) mit Kinderschutz zu tun? Die Antwort ist: Nein.
Der Abschnitt, zu dem der zitierte Verst gehört, reicht von Matthäus 18, Vers 6 bis Vers 9. Er ist in der revedierten Lutherübersetzung von 1984 mit "Warnung vor Verführung zum Abfall" überschrieben und lautet dort vollständig:
"6 Wer aber einen dieser Kleinen, die an mich glauben, zum Abfall verführt, für den wäre es besser, dass ein Mühlstein an seinen Hals gehängt und er ersäuft würde im Meer, wo es am tiefsten ist.
7 Weh der Welt der Verführungen wegen! Es müssen ja Verführungen kommen; doch weh dem Menschen, der zum Abfall verführt!
8 Wenn aber deine Hand oder dein Fuß dich zum Abfall verführt, so hau sie ab und wirf sie von dir. Es ist besser für dich, dass du lahm oder verkrüppelt zum Leben eingehst, als dass du zwei Hände oder zwei Füße hast und wirst in das ewige Feuer geworfen.
9 Und wenn dich dein Auge zum Abfall verführt, reiß es aus und wirf's von dir. Es ist besser für dich, dass du einäugig zum Leben eingehst, als dass du zwei Augen hast und wirst in das höllische Feuer geworfen."
Und so übersetzen denn auch moderne Bibelübersetzung, die auf eine gute Verständlich in heutiger Sprache Wert legen, unmissverständlich so:
"Wer in einem Menschen den Glauben, wie ihn ein Kind hat, zerstört, für den wäre es noch das Beste, mit einem Mühlstein um den Hals ins tiefe Meer geworfen zu werden." (Gute Nachricht Bibel)
Hier geht es also weder um Kinder, noch um deren Missbrauch, sondern um den Abfall von Glauben. Der Vers drückt den Wunsch aus, dass diejenigen, die Menschen mit einem naiven, unreflektierten Glauben dazu veranlassen, ihren Glauben in Frage zu stellen - z. B. die Redakteure des Humanistischen Pressedienstes - auf grausame Weise umgebracht werden.
Bernd Kammermeier am Permanenter Link
Ich wollte auch schon kommentieren, doch ist Ihrer Darstellung nichts hinzuzufügen. Sehr gut und fundiert!
Hier wurde offenbar bei der Planung der Aktion (die an sich mehr als begrüßenswert ist) zu sehr darauf gehofft, dass Bibelsprüche aufgrund ihrer "Zeitlosigkeit" immer gut für Gedenksteine sind. Da die Bibel aber im Grunde gar nichts ethisch Wertvolles enthält, muss ein solches Unterfangen scheitern - wie der vorliegende Fall (leider) beweist. Dieser Schuss wird nach hinten losgehen - und im schlimmsten Fall Befürworter der Todesstrafe bei Vergehen gegen Kinder in ihrer Meinung bestärken. Das wäre fatal!
Hans Trutnau am Permanenter Link
Wäre in der Tat fatal, Bernd; bin bestürzt. Daran ändert bei mir auch nichts der Nachtrag im Artikel.
Bernd Kammermeier am Permanenter Link
"Tatsächlich ist die Symbolik des Mühlsteins missverständlich. Er soll nach Aussage der Initiatoren weder die Todesstrafe relativieren noch für die Täter fordern."
Ich bin sehr wohl bereit das "gut gemeint" zu erkennen. Doch die Initiatoren stehen nicht Tag und Nacht neben dem Mühlstein und erklären Passanten dessen EIGENTLICHE Bedeutung.
"Und auch die Frage ist berechtigt, ob mit dem Stein, auf dem ein Bibelzitat eingraviert ist, auch "ungläubige" Opfer erfasst werden sollen. Davon kann ebenfalls ausgegangen werden."
Da hier die Bibel zitiert wird, ist deren "Geist" maßgeblich. Und dann muss natürlich davon ausgegangen werden, dass Aufklärer atheistischer, humanistischer, jüdischer, muslimischer oder sonstiger weltanschaulicher Prägung oder Überzeugung, die sich mit ihrer Aufklärung oder Missionierung erfolgreich an Kinder wenden, eines grauenvollen Todes durch Ertrinken sterben sollen. Wer sich bereits gegen Waterboarding wendet, darf dies niemals gutheißen.
Ich bin - je mehr ich darüber nachdenke - der Meinung, dass diese Aktion abgeblasen werden sollte. Geistlichen, die sich ohne Konsequenzen zu erleiden, an Kindern vergangen haben (physisch und psychisch) kann man mit diesem Spruch einen symbolischen Mühlstein um den Hals hängen, weil sie sich an ihrer eigenen "heiligen" Schrift messen lassen müssen. Doch dies betrifft dann ausschließlich den innerreligiösen Umgang mit eigenen Untaten.
Doch in der Öffentlichkeit - jenseits des kirchlich-religiösen Kontextes - wird die Aktion durch diesen Spruch und das Symbol des Mühlsteins zu einer makabren Aufforderung zur Lynchjustiz.
Die ach so "christliche" (als Synonym für Barmherzigkeit und Nächstenliebe) Bibel - zu der laut Jesus auch das AT gehört - beweist uns bei den Geschichten um z.B. Mose, Lot, Abraham oder Jiftach, wie achtlos die monotheistische Religion mit dem Kindeswohl umgeht (umbringen, opfern, beschneiden, freigeben zur Massenvergewaltigung im Namen des Herrn). Töten, vergewaltigen und körperlich verstümmeln darf man monotheistisch gesehen schon. Nur darf man Kinder nicht vom Glauben abbringen. Das ist bei Todesstrafe verboten.
Wollen wir das wirklich als Botschaft in die Welt gesetzt sehen?
Stephan May am Permanenter Link
ich war am Alexanderplatz dabei,
Danke an Johannes Heibel und seine Helfer
Es gibt leider in der Praxis und bei einigen Gesetzen viel zu tun.
Aber auch das Opfer- Entschädigungsgesetz sind deutlich zu verbessern.
Ebenso Hilfsangebote für Betroffene sind sehr schwer zu bekommen.
Der Stein, regt hoffentlich unsere Politiker an, mehr zu tun!
Stephan M.
Bernd Kammermeier am Permanenter Link
Wie schaffen Sie es, das äußerst wichtige und unterstützendeswerte Anliegen des Steins und seine völlig missglückte Aussage unter einen Hut zu bekommen? Oder ist Ihnen das noch nicht aufgefallen?