Uri Avnery:

Über die Bedrohung durch den Islamischen Staat

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Uri Avnery
Uri Avnery

BERLIN. (hpd) In seinem am 12. September 2015 veröffentlichtem Essay "Die wirkliche Bedrohung" bekennt Uri Avnery: "Ich habe Angst", Angst vor der "Islamischen Staat-Bewegung".

Der Friedensaktivist, Journalist, Buchautor und vielfacher Preisträger schrieb diese Worte noch vor den schrecklichen Terroranschlägen am 13. November 2015 in Paris. Er predigt seit über 60 Jahren seinen Landsleuten Moral, Ethik und Wahrhaftigkeit und ist unbeirrbar für eine Politik der Versöhnung mit den Arabern eingetreten. Seine leidenschaftlichen, klaren und vor allem auch sehr mutigen Kritiken haben ihn zu einem Leuchtturm der israelischen Friedensbewegung gemacht. Mit seinen schmerzlichen Wahrheiten hat er auch viel Hass auf sich gezogen.

Angst ist ein natürliches und ein lebensnotwendiges Gefühl. Sie alarmiert uns, wenn wir in Gefahr sind und uns schützen müssen. Angst darf aber unsere Gefühlswelt nicht dauerhaft belasten, unseren Alltag beherrschen und unsere Handlungsfähigkeit lähmen. Denn dann ist Angst kein Warnsignal mehr für eine Gefahr, sondern dann wird sie selbst zur Bedrohung und verwandelt unser Leben in ein Gefängnis. Deshalb kann man einem mutigen Friedensaktivisten wie Uri Avnery auch nur dann gerecht werden, wenn man sein Essay als Aufruf versteht sich einzumischen und nicht, sich der Angst zu ergeben.

Uri Avnery führt in seinem Essay die Ursachen der IS-Bewegung auf die Demütigung und Unterdrückung der arabischen Welt in den vergangenen Jahrhunderten zurück: "Die Demütigung hat noch mehr als die Unterdrückung die Seele jedes arabischen Jungen und Mädchens versengt. (…) Kein junger Araber kann darauf verzichten, den Glanz, des vergangenen Kalifats mit dem Elend der augenblicklichen arabischen Realität zu vergleichen; mit der Armut, der Rückständigkeit, der politischen Impotenz."

Er zieht eine Parallele zum Nationalsozialismus, dem es gelungen sei, "die Demütigung einer großen Nation in eine Waffe, die effektiver war als Schlachtschiffe und Kampfflugzeuge" zu verwandeln. IS idealisiert die Vergangenheit und gibt vor, sie neu beleben zu können. Avnery's düstere Prognose: "Jetzt beginnt der IS seinen Marsch zum Sieg. Da scheint es keinen zu geben, der ihn anhält."

Und er fährt fort: IS "benützt (…) barbarische Methoden aus längst vergangenen Zeiten, um sehr moderne Ziele zu erreichen. Sie verursacht Terror (…) um lähmende Furcht  in die Herzen seiner beabsichtigten Feinde zu treiben. Die IS-Bewegung kümmert sich nicht wirklich um Europa, die US und Israel. Nicht jetzt. Sie benützt sie als Propaganda-Treibstoff, um  ihr wirkliches Ziel zu erreichen: die ganze islamische Welt zu gewinnen. Wenn ihr dies gelingt, dann kann man sich den nächsten Schritt vorstellen". Soweit zur Analyse von Uri Avnery.

In ihrem Kampf sehen sich die Täter als Freiheitskämpfer, für die Opfer sind sie Terroristen. Terrorismus scheint das Böse schlechthin zu verkörpern, weshalb er – häufig mit einer unglaublichen Doppelmoral – auch immer für die Taten der anderen benutzt wird und nie für die eigenen. Die terroristische Tat nimmt unschuldige Opfer nicht nur in Kauf, sie benutzt den Tod Unschuldiger als Mittel. Sie darf nicht am Täter, seiner Religion oder Ethnie, sondern muss an der Tat selbst gemessen werden. Terrorismus ist auch keine militärische, sondern primär eine Kommunikationsstrategie. Er möchte das Denken besetzen und dadurch Veränderungsprozesse erzwingen.

Wenn Terrorismus primär keine militärische Strategie ist, dann brauchen wir auch und vor allem nicht-militärische Antworten, um ihn zu bekämpfen: Die Herausforderung besteht jetzt vor allem darin, bei uns für die Verteidigung der westlichen Werte zu kämpfen und in der muslimischen Welt all diejenige zu unterstützen, die sich für "eine offene Gesellschaft mit einem pluralistischen Regierungssystem und einer demokratischen Verfassung mit festgeschriebenen Grundrechten und Freiheiten" (Rachid al-Ghannouchi, tunesischer Politiker) einsetzen. Dieser Kampf ist ein Kampf für Freiheit und Würde, aber vor allem ein Kampf um die nächste Generation, um die Köpfe und Herzen der jungen Menschen. Diesem Kampf müssen wir uns in Europa stellen. Auch hier droht das Abgleiten junger Menschen in Richtung Extremismus und Fanatismus.

Für die Jugendlichen muss erfahrbar sein, dass Demokratie und Freiheit die Basis für Toleranz, Teilhabe und eine bessere Zukunft sind. Soziale Ungleichheit, Diskriminierung und Arbeitslosigkeit verbreiten ein Gefühl der Ausgrenzung. Dieses Gefühl nutzt der IS um Jugendliche mit falschen Versprechen und einer apokalyptischen Vision zu gewinnen.

Aber Toleranz muss auch klare Grenzen ziehen. Das Toleranzprinzip gründet auf drei Pfeilern: erstens dem Zurückdrängen religiöser Autoritäten in weltlichen Fragen; zweitens auf den Prinzipien der Freiheit und der Autonomie, d.h. alle Individuen sollten vor staatlicher und kirchlicher Willkür geschützt sein: und drittens auf der Überzeugung, dass keine Form der Kritik durch Repressalien zum Schweigen gebracht werden darf (Carlo Strenger).

Die Terrorismusbekämpfung darf aber nicht als Vorwand dienen, demokratische Rechte ab- und die Mittel der Repression auszubauen. Jeglicher Rückgang der Freiheiten wäre der Veränderungsprozess, den sie herbei zu bomben versuchen, und wäre ein großer Sieg des Terrorismus.