Notizen aus Polen

Die Wiedergeburt der Zivilgesellschaft

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Großkundgebung am 19.12.2015 in Warschau
Großkundgebung am 19.12.2015 in Warschau

WARSCHAU. (hpd) Die erste Solidarność (1980–1981) war die größte Gewerkschaft in Europa, wenn nicht in der Welt, eine massenhafte bürgerliche Bewegung. Die streikenden Arbeiter kämpften um besseres alltäglichen Leben und nur einige ihre Führer und Berater bevorzugten damals politische Ziele. Eine ähnliche Situation scheint sich im heutigen Polen zu wiederholen.

Die rund 50.000 Teilnehmer einer vom "Komitee zur Verteidigung der Demokratie" (KOD) am 12. Dezember organisierten Demonstration in Warschau und weiteren Tausenden in einigen anderen Großstädten Polens riefen: "Verfassung", "Demokratie", "Rechtstaat" und "Hier ist Polen"…

Doch weshalb verteidigen so viele Menschen aller Altersgruppen und aus verschiedenen Gesellschaftsschichten, Intellektuelle und Arbeiter, Gläubige und Atheisten, Anhänger aller politischen Parteien (PiS inklusive) diese scheinbar so abstrakten und für ihren Alltag wenig brauchbare Werte, wie Verfassung und Verfassungstribunal?

Das "verdanken" wir Jarosław Kaczyński, dem tatsächlichen Oberbefehlshaber Polens, wie ihn seine Mitarbeiter – in Anknüpfung an Józef Piłsudski – nennen. Jeden Tag beleidigt er aufs Neue die politische Opposition im Parlament, die Organisatoren der Protestkundgebungen und die Verfassungsrichter.

Karte der Kundgebungen am 19. Dezember 2015
Karte der Kundgebungen am 19. Dezember 2015

In seiner Rede bei einer von der rechts-nationalen Partei PiS veranstalteten Gegendemonstration sagte Kaczyński über die Demonstranten der KOD-Großkundgebungen: "Ganz Polen lacht über euch, ihr seid Diebe und Kommunisten". Bei anderer Gelegenheit bezeichnete er sie als "Leute geringerer Sorte". Die Ex-Premierministerin verlangte deshalb im Parlament, dass Kaczyński sich bei den beleidigten Bürger entschuldigen solle. Diese Aufforderung ignorierte er und antwortete auf eine entsprechende Frage eines Journalisten: "sie machen Witze, diese Gestapo-Mitarbeiter sind doch nicht die AK Leute" (Armia Krajowa (AK) – eine im Untergrund kämpfende Heimatarmee im 2.Weltkrieg).

Kaczyński beleidigt nicht nur die protestierenden Menschen, viel schlimmer ist, dass seine Regierung systematisch und im Eiltempo die demokratischen Einrichtungen des Staates demontiert sowie die Entscheidungen der abgewählten Regierung rückgängig macht: So ist die Finanzierung der "in vitro Befruchtung" gestrichen worden; die Gymnasien sollen abgeschafft und das zweistufige Schulsystem wieder eingerichtet werden; höhere Beamten werden nicht im freien Wettbewerb ausgewählt, sondern von Vorgesetzten nominiert; die öffentlichen Radio- und TV Sender werden verstaatlicht, was eine Gelegenheit zum Austausch sämtlicher Managers und der meisten Journalisten ergibt.

Das in der Nacht von vergangenem Montag auf Dienstag von der regierenden PiS vorgelegte Projekt zur erneuten Änderung des "Gesetzes über Verfassungsgericht" beinhaltet Vorschriften, die das Tribunal gänzlich lähmen werden: Sämtliche Entscheidungen müssen in voller Besetzung (13 von 15 Richter) mit 2/3 Mehrheit getroffen werden; der Sitz des Gerichts wird nicht mehr in Warschau sein (es wurden zwei weit entfernte Kleinstädte als Vorschläge für den neuen Gerichtssitz genannt). Nachdem der Präsident sich geweigert hat, zwei korrekt gewählte Richter zu vereidigen und die fünf von der PiS nominierten Richter gesetzwidrig gewählt wurden, hat das Tribunal nur 12 Richter. Damit wäre schon jetzt, laut vorbereitetem Gesetz, die Entscheidungsfähigkeit des Verfassungsgerichts nicht mehr gegeben und der Weg frei dafür, der Regierung bei verfassungswidrigen Gesetzen keine Widerstand entgegensetzen zu können.

Die Antwort auf die vorgenommene Vernichtung des Gerichtes war für das "Komitee für Verteidigung der Demokratie" (KOD) der Aufruf zu einer Protestkundgebung vor dem Parlamentssitz am letzten Samstag. Dieses mal griffen keine Politiker zum Mikrofon: Die Redner waren die "alten" Oppositionellen der Solidarność, Schauspieler, Journalisten und KOD-Aktivisten. Die Parole des Tages war: "Ganz Polen freut sich, wir haben wieder Hoffnung" (auf Freiheit und Demokratie - AW). Die Kundgebung musste früher als geplant aufgelöst werden, nachdem die Polizei einen anonymen Anruf über einen angeblichen Bombenanschlag bekam.

In Warschau und in meisten größeren Städten Polens sowie auch vor vielen polnischen Botschaften und Konsulaten in der Welt, darunter in Berlin und Hamburg, versammelten sich am vergangenen Samstag schätzungsweise insgesamt über 100.000 Menschen.

Immer mehr prominente Oppositionellen melden sich zum Wort und warnen vor dem unverantwortlichen Verhalten von Kaczyńskis Crew. Sie unterstützen die von der KOD organisierten Proteste. Der Ex-Präsident und legendäre Anführer der Solidarność, Lech Wałęsa, kritisiert scharf die Regierenden und warnte vor einem Bürgerkrieg. Seine Worte wurden von der Weltpresse notiert und von KOD-Sympathisanten enthusiastisch als Ausdruck der Unterstützung begrüßt.

Andere "Legenden" der Opposition, wie zum Beispiel Professor Karol Modzelewski, der schon mit dem verstorbenen Jacek Kuroń zusammenarbeitete und bereits in den sechziger Jahren die regierende kommunistische Partei öffentlich scharf kritisierte und deshalb 8-einhalb Jahre in Gefängnissen verbrachte, sagte über die KOD-Kundgebungen: "Das ist ein Erfolg der spontanen bürgerlicher Initiativen, eine Manifestation der gesellschaftlichen Aktivität, die seit Jahren nicht stattfand. Ich meine nicht nur die Anzahl der Teilnehmer, sondern auch ihre Aussagen. Es sind nicht Politiker, sondern eben gewöhnliche Bürger, die die Passivität aufgegeben haben und als kollektives Subjekt hervortreten. So was habe ich seit Jahren nicht gesehen und das ist Grund für Optimismus."

KOD-Kundgebungen in Polen
KOD-Kundgebungen in Polen

Der EU Parlamentsvorsitzende Martin Schulz hat bestimmt meine Artikel nicht gelesen, aber er meint wie ich: nicht das polnische Volk ist zu kritisieren, sondern die polnische Regierung. Genau so ist es: weder die Regierung, noch der Präsident, auch die parlamentarische Mehrheit ist schon nicht mehr mit Polen identisch und deshalb ist jegliche Kritik von außen erlaubt und dringend nötig, um die wiedergeborene Zivilgesellschaft bei unseren Protesten zu unterstützen.

Die regierende Partei verliert im Eiltempo in Meinungsumfragen. Sie wurde schon von Nowoczesna.pl (Moderne.pl) überholt, eine kurz vor den herbstlichen Parlamentswahlen von Ryszard Petru gegründete neoliberale Partei. Der Präsident sammelt in den Umfragen schon 70 Prozent Negativstimmen.

Die Straßendemonstranten hoffen noch nicht, dass alleine Kundgebungen die demokratiezerstörerischen Machenschaften der PiS-Spitze bremsen. Sie hoffen vielmehr, dass die einfachen PiS-Parlamentarier und Parteimitglieder sich verweigern, diesen Weg weiter mitzumachen.

Die die samstägige Demonstration verlassenen Menschen sagten: wenn nötig, kommen wir hier wieder am Weihnachten und schlagen unsere Zelte hier auf.