Der Jahresanfang in Polen ist reich an politischen und bürgerlichen Ereignissen. So hat unter anderem die Hetzkampagne gegen den Senatspräsidenten, Professor Tomasz Grodzki, einen neuen Höhepunkt erreicht.
Die Stettiner Staatsanwaltschaft und das Zentrale Antikorruptionsbüro (CBA) forderten öffentlich die Patienten von Prof. Grodzki auf, zu bestätigen, das dieser von ihnen Bestechungsgeld verlangt habe. Wie immer gab es leider einige, die dazu bereit waren, aber die Stettiner Mediziner und zahlreiche von Doktor Grodzkis Patienten standen solidarisch für den Doktor ein. Hingegen hat das PiS-nahe Wochenmagazin "Gazeta Polska" eine symbolische 100-Dollar-Banknote gedruckt, die die Leser ausschneiden und an die Warschauer Adresse Grodzkis schicken sollen.
Tomasz Grodzki ist für PiS zum Erzfeind geworden, weil er den Gesundheitsminister in der PiS- Regierung ablehnte. Doch seine Zustimmung würde den Verlust der Oppositionsmehrheit im Senat bedeuten. Der Senat hatte unter seiner Führung das sogenannte "Maulkorb-Gesetz" abgelehnt, welches die Richter zur Nichtbefolgung des Urteils des Gerichtshofs der Europäischen Union vom 19. November 2019 unter Zwang stellen sollen und die richterliche Unabhängigkeit zunichte machte. Grodzki hat eine breiten Debatte gegen dieses Gesetzes organisiert, an der auch anerkannten Rechtsexperten – darunter auch der Vertreter der Venedig-Kommission des Europarates – teilnahmen. Die Experten vertraten die Auffassung, das Gesetzesvorhaben bringe Richter in eine "unmögliche Situation". Die PiS-Politiker erklärten, dass der Senatspräsident nicht berechtigt sei, eine solche Kommission einzuladen; ihre Vertreter wären also in Polen illegal und sagten nur ihre ganz private Meinungen.
Am 11. Januar haben in Warschau tausende Richter, Juristen und Bürger aus etwa 20 Staaten Europas in einem "Marsch der tausend Roben" gegen die Gesetze der "Disziplinierung" von Richtern protestiert. 30.000 Menschen marschierten vier Kilometer lang vom Obersten Gericht, vorbei am Präsidentenpalast, bis zum Sejm, dem polnischen Abgeordnetenhaus. Auf großen Transparenten stand "Unabhängigkeit der Gerichte", "Respekt" und "Verfassung". Viele europäische Richterorganisation erklärten ihre Unterstützung für Protest. Auch der Deutsche Richterbund (DRB) forderte das polnische Parlament auf, den umstrittenen Gesetzesentwurf zu stoppen.
Abschlusskonzert vom "Großen Orchester der Weihnachtshilfe"
Schon am nächsten Tag, am Samstag den 12. Januar, gab es das 28. Finale von Wielkiej Orkiestry Świątecznej Pomocy (WOŚP) (Das Große Orchester der Weihnachtshilfe). Das ist die bekannteste und größte zivilgesellschaftliche Wohltätigkeitsorganisation in Polen. Wie immer Anfang Januar, führte das Orchester "Das Große Finale" seiner Jahresarbeit auf.
Während der in ganz Polen und vielen Städten im Ausland (unter anderem in USA, Japan, Holland, Indonesien, Deutschland, Australien, Kanada) organisierten karitative Veranstaltungen wurden von über 120.000 Ehrenamtlichen Geld für die medizinische Versorgung von Kindern oder Senioren gesammelt. Alle Geldspender/innen bekommen zum Dank ein großes rotes Aufkleber-Herz. Im Jahr 2019 wurden auf diese Weise über 175 Millionen Zlotys (rund 43 Millionen Euro) eingenommen.
Das sind wirklich große Geldsummen. Aber alles zusammengerechnet, was die WOŚP in den vergangenen 28 Jahren an Spenden gesammelt hat, bleibt immer noch weniger, als das, was der Religionsunterricht in den polnischen Schulen jährlich kostet.
WOŚP wird von den Regierenden, staatlichen Institutionen, dem öffentlichen Fernsehen, von staatlichen Banken völlig ignoriert und von der Kirche offen bekämpft. Je stärker diese Feindseligkeiten sind, desto mehr spenden die Bürger und jedes Jahr werden Rekorde der gesammelten Beträge gebrochen. In den Zeiten der gespaltenen Gesellschaft bietet WOŚP den Bürgern die seltene Gelegenheit, zusammen zu sein und Gutes zu tun.
Das "Maulkorb-Gesetz"
Am 23. Januar verkündete das Oberste Gericht in einer erweiterten Sitzung ein mit Spannung erwartetes Urteil: Sämtliche Richter (fast 600 Personen), die seit Anfang 2018 von dem politisch kontrollierten Landesjustizrat (KRS) ernannt wurden, sind keine unabhängigen Richter gemäß EU-Recht und dürfen daher keine Urteile fällen. Das Oberste Gericht entschied auch, dass die neue Disziplinarkammer ebenso wie der Landesjustizrat nicht rechtskräftig sind.
Der Justizminister erklärte sofort: Das wäre eine illegale Sitzung des Obersten Gerichtshofes und das Urteil habe keine Rechtskraft. Die Rechtsexperten, die Rechtsprofessoren, die ehemaligen Präsidenten des Obersten Gerichts und das Verfassungstribunal waren empört, wie ein Staatsbeamter so frech und dumm sein kann, solch eine Bewertung öffentlich abzugeben.
Noch am gleichen Abend hat Sejm das vom Senat abgelehnte "Maulkorb-Gesetz" verabschiedet. Die vor dem Sejm-Gebäude protestierenden Bürger wurden wieder ignoriert.
Die EU-Kommission hat wegen strittiger polnischer Justizreformen bereits mehrere Vertragsverletzungsverfahren gegen die polnische Regierung eröffnet und Klagen beim Europäischen Gerichtshof (EuGH) eingereicht. Die Kommission hat den Europäischen Gerichtshof aufgefordert, eine einstweilige Verfügung gegen die polnische Regierung zu veranlassen. Die Arbeit der Disziplinarkammer am Obersten Gericht Polens soll dadurch ausgesetzt werden.
Auschwitz ist nicht vom Himmel gefallen
Am 27. Januar war der 75. Jahrestag der Befreiung des deutschen Vernichtungslagers Auschwitz-Birkenau. Wohl am tiefsten ins Herzen der Teilnehmern der Feierlichkeiten fielen die Worte von Marian Turski, des polnischen Journalisten jüdischer Abstammung: "Das möchte ich meinen Kindern und Enkeln sagen. Seid niemals gleichgültig. Seid niemals gleichgültig, wenn Minderheiten abgewertet werden. Seid niemals gleichgültig, wenn die historische Wahrheit zu gegenwärtigen politischen Zwecken missbraucht wird. Denn wenn ihr gleichgültig seid, dann ist all das wieder möglich." Und er schließt mit dem mahnenden Satz: "Auschwitz ist nicht vom Himmel gefallen."
Besuch in Warschau
Am 28. Januar war die Vizechefin der EU-Kommission, Vera Jourova, zu einem Blitzbesuch in Warschau. Sie hat dabei die wichtigsten Politiker getroffen: Die Präsidenten der beiden Parlamentskammern, die Präsidentinnen des Obersten Gerichtshofs und des Verfassungstribunals, den stellvertretenden Außenminister sowie den Justizminister. Ihre Mitarbeiter sprachen mit Vertretern der Straßenopposition. Nach Gespräch mit dem Ombudsmann, Adam Bodnar, hat Vera Jourowa der polnischen Regierung die "Schmutzkampagne" gegen Richter vorgeworfen. "Ich würde gern mehr tun, um die Richter gegen diese Kampagne zu schützen, denn das ist keine Atmosphäre, in der sie ihre Aufgaben erfüllen können."
Ist die Europäische Union in der Lage, die Rechtsstaatlichkeit in Polen zu retten? Bleibt die EU ein Verband der Staaten oder wird sie die Gemeinschaft der Bürger? Werden sich die EU-Institutionen wie bisher bemühen, die besten Bedingungen für die Betreibung der ökonomischen Geschäfte zu schaffen oder werden sie die Grundwerte mit aller Kraft und Mittel verteidigen? Es besteht gute Gelegenheit, das zu zeigen.
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Unechter Pole am Permanenter Link
"Die Rechtsexperten, die Rechtsprofessoren, die ehemaligen Präsidenten des Obersten Gerichts und das Verfassungstribunal waren empört..." müsste wahrscheinlich "...