Gedenken an die Opfer des Nationalsozialismus

KZ-Überlebende Ruth Klüger: "Wir schaffen das"

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Prof. Dr. Ruth Klüger zur Gedenkstunde für die Opfer des Nationalsozialismus vor dem Bundestag (27.1.2016)
Prof. Dr. Ruth Klüger

BERLIN. (hpd) In einer bewegenden Rede vor dem Deutschen Bundestag hat am 27. Januar die Holocaust-Überlebende Ruth Klüger in eindrucksvoller Weise ihr Martyrium in den Jahren 1942 bis 1945 geschildert.

Die 1931 geborene Tochter jüdischer Eltern führte ihr Leidensweg durch die Konzentrationslager Theresienstadt, Auschwitz-Birkenau und Groß-Rosen. Im Groß-Rosener “Außenlager” Christianstadt war sie als Zwangsarbeiterin eingesetzt. Durch Zufall und aufgrund Hilfe einzelner Menschen, die zur richtigen Zeit an der richtigen Stelle Mitgefühl, Mut und Initiative zeigten, konnte Ruth Klüger überleben. Sie erinnerte in ihrer zutiefst berührenden Rede vor allem an das Schicksal der Zwangsarbeiterinnen und Zwangsarbeiter, deren unmenschlichen Lebensbedingungen in den Lagern, erläuterte aber auch an Beispielen, wie der Verdrängungsprozess nach 1945 funktionierte.

Es war eine sehr persönliche Rede, für jeden “Nachgeborenen” eine Pflichtstunde in Sachen Geschichte – es ging nicht um Zahlen und abstrakte Größenordnungen, sondern um (einen) Menschen und menschliche Gefühle, um Angst und Hoffnung unter ausweglosen Bedingungen. Ein jeder von uns könnte – unter entsprechenden politischen Bedingungen – in einer solchen Lage, könnte ein solcher Mensch sein. Manche Menschen auf diesem Planeten sind zumindest in einer Vorstufe solcher Bedingungen.

Ruth Klüger, die nach 1945 in die USA emigrierte und dort als Germanistin und Literaturwissenschaftlerin tätig war, kam auf das Bild Deutschlands früher und heute zu sprechen, und auf das, was sie veranlasste, die Einladung zur Rede vor dem Deutschen Bundestag zu sprechen. Sie sprach von einem gewandelten Bild, heute stehe Deutschland weltweit positiv dar – wegen seiner Flüchtlingspolitik, wegen seiner Großherzigkeit. Ruth Klüger am Schluss ihrer Rede wörtlich: “Meine Herren und Damen, ich habe jetzt eine ganze Weile über moderne Versklavung als Zwangsarbeit in Nazi-Europa gesprochen und Beispiele aus dem Verdrängungsprozess zitiert, wie er im Nachkriegsdeutschland stattfand. Aber eine neue Generation, nein, zwei oder sogar drei Generationen sind seither hier aufgewachsen, und dieses Land, das vor achtzig Jahren für die schlimmsten Verbrechen des Jahrhunderts verantwortlich war, hat heute den Beifall der Welt gewonnen, dank seiner geöffneten Grenzen und der Grossherzigkeit, mit der Sie die Flut von syrischen und anderen Flüchtlingen aufgenommen haben und noch aufnehmen. Ich bin eine von den vielen Aussenstehenden, die von Verwunderung zu Bewunderung übergegangen sind. Das war der Hauptgrund, warum ich mit grosser Freude Ihre Einladung angenommen und die Gelegenheit wahrgenommen habe, in diesem Rahmen, in Ihrer Hauptstadt, über die früheren Untaten sprechen zu dürfen, hier, wo ein gegensätzliches Vorbild entstanden ist und entsteht, mit dem bescheiden anmutendem und dabei heroischem Wahlwort: Wir schaffen das.”

“Wir schaffen das” – das ist die Erfahrung und das Credo eines bewegten zeitweilig aussichtslos erscheinenden Lebens, orientiert auf das Große, Wichtige.

Welch ein Unterschied zu all der Kleinmütigkeit, Bedenkenträgerei, politischen Engstirnigkeit der “Wohlstandsbürger”, die wir derzeit in Deutschland erleben! Vielleicht sieht man manches klarer, wenn man durch die Hölle gegangen ist. Und vielleicht ist auch manchmal ein wenig Heroismus angesagt. Der hpd veröffentlicht die Rede von Ruth Klüger vor dem Deutschen Bundestag (in der Protokollversion des Deutschen Bundestags) in ihrer vollen Länge und dazu eine auf der Bundestagswebsite veröffentlichte Zusammenfassung ihres Lebens.

Ein kleiner Nachtrag zum nationalen Gedenktag:

Seit 1996 ist der 27. Januar ein nationaler Gedenktag Deutschlands. Die Initiative hierzu kam vom damaligen Bundespräsidenten Roman Herzog. Aus Anlass der Befreiung des Vernichtungslagers Auschwitz durch Einheiten der Roten Armee am 27. Januar 1945 wird seitdem an diesem Tag der Opfer des Nationalsozialismus gedacht.

Darüber hinaus hat 2005 die UNO diesen Tag zum “Tag des weltweiten Gedenkens an den Holocaust” gemacht. Ein Tag, an dem seit den 90iger Jahren im Bundestag eine Gedenkveranstaltung stattfindet, in der Überlebende des Holocaust über ihre leidvollen Erfahrungen in der Vernichtungsmaschinerie, mit den funktionierenden empathielosen Vollstreckern einer Rassenideologie berichten und über ihre Folgerungen daraus.


Rede von Ruth Klüger: Zwangsarbeiterinnen

Der Winter von 1944/45 war der kälteste Winter meines Lebens und blieb sicher unvergesslich für alle, die ihn damals in Europa erlebten. Ich bin jetzt 84 Jahre alt und hatte zwar noch nicht viele Winter hinter mir, ich war gerade erst 13 Jahre alt geworden, aber auch die vielen anderen, die noch folgen sollten, waren für mich nie wieder so kalt wie dieser letzte Kriegswinter. Kälte, der man hilflos ausgesetzt ist, bleibt für mich auf immer verbunden mit Zwangsarbeit im Frauenlager Christianstadt, ein Auβenlager des KZs Groβrosen in Niederschlesien, wie es damals hieβ. Heute liegt der Ort in Polen.

Bei Zwangsarbeitern denkt man an erwachsene Männer, nicht an unterernährte kleine Mädchen. Aber ich war keineswegs bemitleidenswert, im Gegenteil, ich hatte groβes Glück gehabt und war stolz darauf. Denn es war mir gelungen, mich im Vernichtungslager Auschwitz-Birkenau im Sommer 1944 – das war eine Saison, in der die Gaskammern und Kamine im Lager auf Hochbetrieb liefen–, mich in eine Selektion einzuschmuggeln, die arbeitsfähige Frauen im Alter von 15 bis 45 Jahren zum Kriegsdienst auswählte. Da hatte ich mich in eine Warteschlange gestellt, und auf die Frage des amtierenden SS-Manns mein Alter, damals noch zwölf Jahre, als fünfzehn angegeben, eine sehr unwahrscheinliche Lüge, denn ich war nach fast zwei Jahren Theresienstadt unterernährt und unentwickelt. Die Lüge war mir von einer freundlichen Schreiberin, ein Häftling wie ich, zwei Minuten früher eingeflüstert worden und ich hatte sie tapfer wiederholt. Der SS-Mann betrachtete mich und meinte, ich sei aber sehr klein. Die Schreiberin behauptete kühn, ich hätte starke Beine, “Sehen Sie doch nur, die kann arbeiten”; er zuckte die Achseln und lieβ es gelten. Einem Zufall von wenigen Minuten und einer gütigen jungen Frau, die ich nur einmal im Leben gesehen habe, verdankte und verdanke ich mein Weiterleben, denn der Rest des Transports von Theresienstadt, mit dem ich gekommen war, wurde in den nächsten Tagen vergast. Wir Ausgewählten wurden in Waggone verfrachtet und ins Arbeitslager verschickt.

Die ersten Tage in Christianstadt waren für mich der Inbegriff von Erleichterung, um nicht zu sagen Glück. Es war warm, es gab Gras und Bäume im Wald, die Luft war klar, eine Wohltat nach dem kadaverartigen Dunst, der in Auschwitz, von den Kaminen ausgehend, über dem Lager hing. Vor allem war die erdrückende Todesangst vorbei.

Die positiven Gefühle dauerten nicht lange. Es wurde nass, dann sehr kalt. Wir wurden morgens durch eine Sirene oder Pfeife geweckt und standen im Dunkel Appell. Stehen, enfach stehen, ist mir noch heute so widerlich, dass ich manchmal aus einer Schlange ausscheide und weggehe, wenn ich schon fast dran bin, einfach weil ich keinen Augenblick länger in einer Reihe bleiben möchte. Wir bekamen eine schwarze, kaffeeartige Brühe zu trinken, eine Portion Brot zum Mitnehmen und marschierten in Dreierreihen zur Arbeit. Neben uns lief eine Aufseherin, die uns mit ihrer Pfeife im Gleichschritt halten wollte. Alles Pfeifen nützte nichts, den Gleichschritt haben wir trotz des Ärgers der Aufseherinnen nicht gelernt. Es freute mich in meinem kindlichen vorfeministischen Widerstandstrotz, dass man jüdische Hausfrauen nicht veranlassen konnte, im Schritt zu gehen. Wir waren nicht aufs Marschieren gedrillt worden. Männer konnte man leichter dazu trainieren.

Die Arbeit war Männerarbeit, wir haben den Wald gerodet, die Stümpfe schon gefällter Bäume ausgegraben und weggebracht; auch Holz gehackt und Schienen getragen. Da sollte wohl etwas gebaut werden, was es war, wurde uns natürlich nicht gesagt und hat mich auch nicht interessiert. Es liegt im Wesen der Zwangsarbeit, dass die Arbeiter den Sinn ihrer Arbeit entweder nicht kennen oder ihn verabscheuen. Marx hätte seine Freude, und hoffentlich auch sein Entsetzen, an dieser Probe aufs Exempel gehabt Einer körperlichen Arbeit, die etwas Auferlegtes, Nichtgewähltes ist, stellt sich die Lethargie als Defensivmechanismus entgegen. Ich habe damals soviel Sabotage wie möglich getrieben, indem ich mir auswendig gelernte Gedichte aufsagte, aus Schwäche, aus Langweile, aber auch aus Überzeugung. Was immer in Christianstadt entstehen sollte, es kam nicht rechtzeitig zustande. Manchmal hat man einige von uns an die Zivilbevölkerung ausgeliehen, dann saβen wir auf Dachböden und haben zum Beispiel Zwiebel zum Aufhängen auf Schnüre gereiht. Das war besser als im Freien arbeiten, nicht so anstrengend und vor allem weniger kalt. Die Dorfbewohner haben uns angestarrt, als seien wir Wilde. Wenn ihnen damals ein Licht aufging, was es mit den zerlumpten Häftlingen im benachbarten Arbeitslager auf sich hatte, so haben sie’s nach Kriegsende verdrängt, denn da wollte niemand gewusst haben, was in den Lagern vor sich ging, noch weniger, dass man im Dorf gelegentlich davon profitiert hatte.