Filmkritik: "Anomalisa"

Liebe ist eine Anomalie

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BERLIN. (hpd) Charlie Kaufmans Stop-Motion Trickfilm "Anomalisa", der in den deutschen Kinos anläuft, ist für den Oscar als bester Animationsfilm nominiert. Der Film ist ein einfühlsames Meisterwerk über Einsamkeit und die Möglichkeit von Liebe – ein existentialistisches Puppentheater für Erwachsene.

Es ist immer auch ein Wagnis, in die fantastisch wahnhafte Welt des Charlie Kaufman einzutauchen. Seine Geschichten schaffen es, zu verzücken und zugleich zu verstören. Sie können rührend und gleichzeitig schmerzhaft sein. Charlie Kaufman ist einer der begnadetsten und originellsten Autoren Hollywoods. Die Writers Guild of America zählt drei seiner Werke zu den 101 besten Drehbüchern, die je geschrieben wurden. Nach "Being John Malkovich" und "Adaption – der Orchideen-Dieb" erreichte er 2004 mit dem philosophischen Liebesdrama "Vergiss mein nicht!" ein breiteres Publikum und gewann einen Oscar für das beste Originaldrehbuch.

Kaufmans Filme handeln, mal humoristisch, mal nachdenklich, von Identitätsfragen, von Entfremdung, Sinnkrisen und vom Ver- und Entlieben. Und sie verraten dabei immer etwas darüber, was es bedeutet, Mensch zu sein. Auch Kaufmans neustes Werk (diesmal hat er das Skript geschrieben und selbst Regie geführt) hat wieder viel über das Menschsein zu erzählen – kommt dabei aber komplett ohne menschliche Darsteller aus. Anomalisa ist ein aufwendig gedrehter Stop-Motion Trickfilm, ein existentialistisches Puppentheater.

Der deprimierte, Midlife-kriselnde Michael Stone schreibt erfolgreich Ratgeberbücher für Angestellte im Kundendienst. Er reist nach Cincinnati in Ohio, um sein neustes Buch vor einem Kundenservice-Kongress vorzustellen. Bald wird klar: Michael hat nicht nur die Lust am Leben verloren, er hat auch verlernt, mit anderen Menschen in Kontakt zu treten. Alle Menschen, denen Michael begegnet, egal ob Frauen, Männer, Kinder oder Erwachsene, haben identische Gesichter. Es sind die austauschbaren und ausdruckslosen Gesichter von Crashtest-Dummys. Irritierender noch: Alle Menschen um ihn herum sprechen mit der selben monotonen Männerstimme.

Bis eine weibliche Stimme seinen Schleier der Leere durchbricht. Im Hotel lernt Michael die schüchterne Lisa kennen, die ihr Haar im Gesicht trägt, um eine Narbe an ihrer Wange zu verdecken. Lisa ist die Anomalie in Michaels solipsistischen Alptraum. Denn sie ist der einzige Mensch in Michaels desolatem Universum mit individuellen Gesichtszügen und eigener Stimme. Sie ist "Anomalisa". Michael verliebt sich heftig und ist bereit alles aufzugeben, um zusammen mit ihr seiner Einsamkeit zu entkommen.

Um den Film außerhalb der großen Hollywood Studios zu produzieren, wurde der Film über die Crowdfunding-Plattform Kickstarter finanziert. Kaufmans Fans glaubten an das Projekt. Statt der angestrebten 200.000 wurden über 400.000 Euro gesammelt und aus dem geplanten Kurzfilm wurde ein Kinofilm in Volllänge. Drei Jahre lang war Anomalisa in Arbeit. Für den Film wurde eine hyperrealistische Miniaturwelt nachgebaut. Die Silikonpuppen bewegen sich durch entzückend liebevoll gestaltete Hotellobbys oder Flughäfen. Die Einrichtung der Welt ist so realistisch und detailreich, dass man leicht vergessen kann, einen animierten Puppenfilm zu sehen. Allein für eine höchst ungewöhnliche und gleichzeitig selten schöne Puppen-Sexszene (aufgrund der Darstellung von nackten Puppen beim Geschlechtsverkehr ist der Film in den USA als nicht jugendfrei eingestuft worden) lohnt sich dieser Film. Auch wenn sein Ausblick unversöhnlich bleibt: In Kaufmans Welt ist Einsamkeit der Normalzustand, Glück flüchtig und Liebe eine Anomalie.


"Anomalisa"

USA 2015

Regie: Charlie Kaufman, Duke Johnson

Drehbuch: Charlie Kaufman nach seinem gleichnamigen Theaterstück

Mit den Stimmen von: David Thewlis, Tom Noon, Jennifer Jason Leigh

Produktion: Paramount Animation, Starburns Industries

Verleih: Paramount

Länge: 90 Minuten

FSK: ab 12 Jahre

Start: 21. Januar 2016