Neu im Kino: "Madame Marguerite oder die Kunst der schiefen Töne"

Dada in der Oper

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MAINZ. (hpd) Sie traf keinen Ton und doch füllte sie große Konzertsäle: Florence Foster Jenkins. Xavier Giannoli orientierte sich für seine Tragikomödie "Madame Marguerite" lose an ihrem Leben und Wirken. Dabei ruft er anrührend in Erinnerung, wie wichtig die Freiheit der Kunst ist und dass auch Dilettanten Kunst schaffen dürfen.

Florence Foster Jenkins war keine begnadete Sängerin. Die 1868 in Pennsylvania geborene Sopranistin traf selten die richtigen Töne, konnte sie nicht lange halten und hatte kein gutes Rhythmusgefühl. Dennoch war es ihr innigster Wunsch, vor Publikum auf einer Bühne zu stehen. Nachdem sie sich als Klavierlehrerin durchgeschlagen hatte, konnte sie sich Dank einer Erbschaft um 1910 ihren lange gehegten Traum erfüllen und sich gänzlich ihrer Gesangskarriere widmen. Doch trotz Unterricht wurde sie nicht besser. Aufgrund der schlechten Qualität ihrer Auftritte entwickelte sie sich zum belächelten Geheimtipp und brachte es schließlich zu landesweiter Berühmtheit. Kritik tat die selbstbewusste Interpretin stets ab und stellte sich in eine Reihe mit erfolgreichen Kolleginnen jener Zeit. Sie starb im Jahr 1944, kurz nachdem sie es geschafft hatte, ein ausverkauftes Konzert in der Carnegie Hall zu geben.

Xavier Giannoli orientierte sich für seinen Film "Madame Marguerite oder die Kunst der schiefen Töne" sehr frei an Jenkins' Lebensgeschichte, verlegt die Handlung ins Paris der 20er-Jahre. Auch seine Protagonistin Marguerite Dumont, gespielt von Catherine Frot, liebt es trotz mangelnder Begabung zu singen. Sie ist allerdings keine selbstsichere Frau und merkt schlicht nichts von ihrer Talentlosigkeit. Dafür hat sie eine andere hervorstechende Qualität: Sie ist überaus reich. Als Gönnerin eines Vereins von Musikliebhabern durchleiden dessen Mitglieder regelmäßig ihre "Gesangskünste" bei heimischen Konzerten, um weiterhin finanziert zu werden. Ihr Gatte (André Marcon), ein ehemals verarmter Baron, macht ebenso gute Miene zum bösen Spiel, nutzt sie aus, um seinen Lebensstandard zu halten. Dabei plagen ihn Gewissensbisse, zudem er sie mit einer jüngeren Frau betrügt.

Dem Journalisten Lucien (Sylvain Dieuaide) und seinem Freund Kyrill (Aubert Fenoy), einem anarchistischen Künstler, gelingt es zu Beginn, sich bei einem Heimkonzert Marguerites einzuschleichen. Zunächst irritiert von der Heuchelei der anwesenden Gäste, mischen die Beiden bei deren Spiel mit und beginnen ebenso, Marguerite auszunutzen. Lucien schreibt eine überschwängliche Kritik, was die Sopranistin zu einem von Kyrill organisierten Auftritt in einem Kneipentheater verleitet. Dort krächzt sie die "Marseillaise" zu Filmaufnahmen des vorangegangenen Weltkrieges, was zu einem Skandal führt. Für den Dadaisten Kyrill eine gelungene Performance im Sinne seiner antipatriotischen Anti-Kunst. Durch ihren Gatten von den Auswirkungen des Eklats abgeschirmt, nimmt Marguerite Gesangsunterricht bei dem abgehalfterten Opernsänger Atos (Michel Fau), der es auch nur auf ihr Geld abgesehen hat. Als sie schließlich in der Pariser Oper ein Konzert geben soll, kommt es zur unausweichlichen Katastrophe, die in einer überraschenden Wendung gipfelt.

Giannolis Tragikomödie war bei den Filmfestspielen von Venedig für den Goldenen Löwen nominiert, musste sich allerdings Lorenzo Vigas' "Desde allá" geschlagen geben. Der Regisseur selbst wurde jedoch mit dem "Nazareno Taddei"-Preis ausgezeichnet.

Er erzählt seine Geschichte in opulenten Bildern, die das Frankreich der 1920er wiederauferstehen lassen. Dabei geht er teils eilig vor, etwas längere Passagen hätten der Handlung mehr Dichte verleihen können. Dafür erweist sich die Besetzung als äußerst gelungen. Catherine Frot überzeugt in der Rolle der warmherzigen, aber unsicheren Marguerite, die sich ständig zwischen zerstörerischen Selbstzweifeln und erhoffter Egozentrik zu verlieren droht.

Die Filmbewertungsstelle verlieh dem Werk das Prädikat "besonders wertvoll", gerade im Hinblick auf die Kunst- und Medienreflexion zu der es anrege.
Niemand respektiert die vereinsamte Heldin als Person, allein ihr Reichtum zählt. Die Verlogenheit und Gier der Menschen machen Ehrlichkeit und Aufrichtigkeit zunichte. Einerseits also eine universale Kritik menschlicher Makel. Andererseits erinnert Giannoli daran, dass auch Dilettanten Kunst schaffen dürfen, dass gängige Konventionen und das Streben nach Perfektion im Zuge avantgardistischer Revolution gebrochen werden müssen. Man denke heute etwa an die vermeintlich hässlichen Gemälde eines David Shrigley und die Strömung der "Art brut".

Letztlich kann niemandem verboten werden, seine Kunst zu schaffen und seine Stimme erklingen zu lassen, solange er dazu steht und nicht der Lächerlichkeit preisgegeben wird. In Letzterem, als Folge der Manipulation durch ihr Umfeld, offenbart sich die Tragik Marguerites. Somit steht sie im Gegensatz zur selbstbewussten, echten Florence Foster Jenkins. Auf deren Grabstein lassen sich folgende Worte finden: "Die Leute können vielleicht behaupten, dass ich nicht singen kann, aber niemand kann behaupten, dass ich nicht gesungen hätte."

Xavier Giannolis Drama kann daher auch als Plädoyer für die Freiheit der Kunst interpretiert werden. Eine wichtige Botschaft angesichts einer Welt, in der Kunst immer mehr zur Wertanlage verkommt und der in den letzten Jahren wiederholt aufflammenden Diskussion um die Grenzen der Kunstfreiheit. 

"Madame Marguerite oder: Die Kunst der schiefen Töne"
Originaltitel: Marguerite
Regie: Xavier Giannoli

Kinostart: 29. Oktober 2015