Meinung

Der ganz reale Transhumanismus

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Transhumanismus - Alltag oder Zukunftsvision?

BERLIN. (hpd) Transhumanismus – die Verbesserung des Menschen durch sich selbst – für einige eine realistische und erstrebenswerte Zukunftsperspektive, für andere eine unrealisierbare narzisstische Selbstüberhöhung des Menschen. Was in der Diskussion häufig übersehen wird, ist die Tatsache, dass Transhumanismus nicht nur ein theoretisches Konstrukt, sondern gelebte Realität ist.

Auf einer Intellektuellen-Party im Jahr 2016 ist eine Diskussion über Transhumanismus mindestens so en vogue wie es in den 1970ern eine Diskussion über Marxismus war. Transhumanisten schwärmen dabei von den neuen Möglichkeiten zur Verbesserung des Menschen – als Spezies und Individuum. Kritiker des Transhumanismus haben dagegen Goethes Zauberlehrling im Hinterkopf und glauben nicht, dass die Versuche des Menschen, sich selbst zu verbessern, letztlich gut ausgehen werden.

Wäre dieser Artikel eine Intellektuellen-Party, so würde wahrscheinlich spätestens an dieser Stelle ein langwieriger philosophischer Exkurs darüber erfolgen, was denn eigentlich genau mit dem ethisch aufgeladenen Begriff "Verbesserung" gemeint sei.

Ich erlaube mir, mich diesem Exkurs zu entziehen, da die Menschheit seit ihrem Bestehen offenbar intuitiv und ohne philosophische Diskussionen weiß, was sie mit der Verbesserung ihrer selbst meint. Ötzi verbesserte den körperlichen Mangel seiner geringen Körperbehaarung, indem er sich ein Tierfell zum Wärmen umhängte, und lange vor der Erfindung von Viagra brauten schon die Hochkulturen des Orients Aphrodisiaka zur Verbesserung ihres Liebeslebens. Im 19. und 20. Jahrhundert beschleunigte sich die Entwicklung schließlich rasant. Es reichte dem Menschen nicht mehr, mit Hilfe selbst hergestellter pflanzlicher Heilmittel, Krankheiten besser zu überstehen, er packte sie beim Schopf und erfand Impfungen und Antibiotika, die die Krankheiten in seinem Körper direkt bekämpften. Schließlich brachte er es sogar fertig, das Leben todgeweihter Menschen durch das Einsetzen neuer Organe zu verlängern. Etwas, das Goethes Zauberlehrling noch wie pure Magie vorgekommen wäre, ist heute medizinischer Alltag.

Zwischen Ötzis Pelzmantel und dem verpflanzten Herzen gibt es nur einen graduellen Unterschied, keinen grundsätzlichen. Offenbar strebt der Mensch, so lange es ihn gibt, nach geringerer Verwundbarkeit, höherer Leistungsfähigkeit, dem Überwinden von Krankheit und der Verlängerung des eigenen Lebens, kurz: seiner eigenen Verbesserung.

"Ja aber", würden die Transhumanismus-Kritiker auf der Party einwenden, "ja aber durch die Möglichkeiten der Gentechnik hat sich doch heute etwas ganz Grundsätzliches verändert." Das stimmt. Die Erkenntnisse der Genforschung eröffnen nur am Rande die Möglichkeit, bei einer bestehenden Krankheit 'verbessernd' einzugreifen. Was sie jedoch ermöglichen ist, bestimmte Krankheiten zu beseitigen, indem Individuen, die die Anlage zu dieser Krankheit haben, gar nicht erst entstehen. Eine erweiterte Selbstoptimierung des Menschen durch die genetische Optimierung seiner eigenen Nachkommen.

In der Tat ein Gedanke, der gewaltig ist. Transhumanismus-Kritiker stürzen sich an dieser Stelle gern auf die ethisch-moralische Problematik, wer denn diese bedeutende Entscheidung treffen solle, welches Individuum entstehen darf und welches nicht. Wer bestimmt die Krankheiten, die einem Individuum noch vor Beginn seiner Existenz die Lebensberechtigung entziehen? Wie würde ein solches Vorgehen unseren Blick auf Krankheit im Allgemeinen und auf bereits existierende kranke Individuen verändern? Und wird das nicht ein Dammbruch sein? Was mit der Auswahl von Krankheiten anfängt, führt später vielleicht dazu, dass auch Individuen keine Existenzgenehmigung bekommen, die zu wenig Intelligenz aufweisen oder nicht schön oder stark genug sind.

Transhumanisten pflegen hier meist zurückzufragen, was denn so schlimm daran sei, wenn es bestimmte Erbkrankheiten nicht mehr gäbe und Menschen intelligent, schön und stark seien? Die Individuen, die nicht existieren, würden schließlich nicht darunter leiden, dass sie nicht existieren, eben weil sie nicht existieren.

Eine hochgeistige Diskussion, die mir seltsam theoretisch erscheint. Als gälte es, zunächst die ethische Debatte zu Ende zu führen, was man machen soll und darf, ehe man zur Tat schreiten kann. Dabei gibt es sie doch schon längst, die Selbstoptimierung des Menschen durch die Genforschung.

Fruchtwasseruntersuchungen zur Feststellung einer Chromosomenanomalie wie der Trisomie 21 (Down-Syndrom) werden seit Jahrzehnten durchgeführt. Inzwischen reichen sogar ein paar Tropfen Blut der Schwangeren, um zu denselben Erkenntnissen über den Fötus zu gelangen, wie man sie durch die nicht ungefährliche Fruchtwasseruntersuchung erhält. Stellt man bei dieser genetischen Pränataldiagnostik eine Chromosomenanomalie fest, so wird in über 90% der Fälle die Schwangerschaft abgebrochen. Ob diese Entscheidung vom eigenen Wunsch auf optimalen Nachwuchs bestimmt ist oder vom gesellschaftlichen Druck, möglichst optimierte Individuen zu erzeugen, ist durchaus diskutierenswert. Tatsache ist jedoch, dass die Möglichkeit da ist und dass sie genutzt wird.

Und sie ist nicht die einzige. Auf Wunsch kann bei einer In-vitro-Fertilisation Präimplantationsdiagnostik durchgeführt werden. Die im Reagenzglas befruchteten Eizellen werden hierbei nach den ersten Teilungen getestet, ob das möglicherweise entstehende Individuum bestimmte Erbkrankheiten aufweist, ob es das gewünschte Geschlecht hat oder ob es geeignet sein wird, einem bereits erkrankten Geschwisterkind Blut und Gewebe zu spenden. In die Gebärmutter eingepflanzt werden dann nur die Embryonen mit dem gewünschten genetischen Code. Die übrigen werden vernichtet.

Eine weitere Möglichkeit der erweiterten Selbstoptimierung durch die genetische Optimierung des eigenen Nachwuchses setzt sogar noch einen Schritt früher an: Mit Hilfe präkonzeptioneller Gentests, die seit Jahren immer größeren Zulauf erfahren, lassen sich potentielle Fortpflanzungspartner auf mögliche Erbkrankheiten untersuchen – und das, noch ehe eine Schwangerschaft vorliegt oder eine Eizelle im Reagenzglas befruchtet wird.

Viele Menschen sind Träger einer sogenannten rezessiven Erbkrankheit, ohne es zu ahnen. Wenn beide Partner Träger derselben Erbkrankheit sind, besteht die Möglichkeit, dass der gemeinsame Nachwuchs zwei fehlerhafte Genkopien erbt, was zur Ausprägung der Krankheit führt. Stellt sich bei dem präkonzeptionellen Gentest heraus, dass beide Partner tatsächlich Träger derselben Erbkrankheit sind, so kommen häufig die oben genannten Methoden zum Einsatz und Paare entscheiden sich für verstärkte Pränataldiagnostik oder für eine In-vitro-Fertilisation mit Präimplantationsdiagnostik. Eine weitere Möglichkeit ist es natürlich, sich einen anderen potenziellen Fortpflanzungspartner zu suchen.

Die Auswahl eines geeigneten Fortpflanzungspartners aufgrund genetischer Kriterien? Ist das nicht vielleicht doch ein bisschen zu sehr Science Fiction? Absolut nicht. Das erste breit angelegte präkonzeptionelle Screening Programm der Geschichte wurde bereits in den 1980er Jahren ins Leben gerufen – und zwar nicht von einem visionären Wissenschaftler, sondern von einem orthodoxen jüdischen Rabbi.

Rabbi Joseph Ekstein aus New York wunderte sich darüber, warum er und seine Frau mehrere Kinder mit einer schrecklichen Krankheit namens Tay-Sachs-Syndrom bekamen. Als er sich auf die Suche nach einer Erklärung machte, stellte er fest, dass diese Erbkrankheit gehäuft bei Paaren vorkam, deren Vorfahren aschkenasische Juden waren. Die Begründung hierfür ist simpel: Lebt eine Gruppe von Individuen lange relativ abgeschottet, wie es die aschkenasischen Juden in Europa bedingt durch jahrhundertelange Repressionen taten, so reichern sich in dieser Gruppe bestimmte genetische Eigenschaften an. Aus demselben Grund haben Basken überdurchschnittlich häufig die Blutgruppe 0 und überdurchschnittlich viele Iren rote Haare.

Als Rabbi Ekstein feststellte, dass Tay Sachs und andere Erbkrankheiten in der jüdischen Community häufiger vorkamen als bei Menschen ohne aschkenasischen Hintergrund, rief er die Organisation Dor Yeshorim ins Leben. Dor Yeshorim nimmt bei Jugendlichen aus der orthodoxen jüdischen Community Gentests vor. Ihr Ergebnis erfahren die Getesteten nicht, stattdessen erhalten sie einen Zahlencode. Wird später eine Ehe arrangiert – wie dies in orthodoxen jüdischen Kreisen üblich ist – so werden Dor Yeshorim vor dem Arrangement die Nummerncodes der potenziellen Partner übermittelt. Stellt Dor Yeshorim fest, dass beide Träger der Anlagen für dieselben Erbkrankheiten sind, wird die Ehevermittlung meistens abgebrochen.

Inzwischen gibt es übrigens auch nicht-orthodoxe Einrichtungen, die sich mit entsprechenden Screening-Programmen an weltliche Mitglieder der jüdischen Community wenden. Das Tay Sachs Screening gehört heute zu den erfolgreichsten genetischen Screening Programmen überhaupt: Die Wahrscheinlichkeit für ein nicht-jüdisches Paar, ein Kind mit Tay Sachs zu bekommen, liegt inzwischen höher als die entsprechende Wahrscheinlichkeit bei einem jüdischen Paar.

Die Entscheidung darüber, ob ein bestimmtes Leben wert ist, zu entstehen oder nicht, wird also bereits seit vielen Jahrzehnten tagtäglich in den unterschiedlichsten Stufen seiner Existenz getroffen.

Eine Tatsache, die überdeutlich zeigt, dass der Mensch keine philosophischen Diskussionen abwartet, wenn es darum geht, die sich ihm bietenden Möglichkeiten zur 'Verbesserung' seiner selbst auch tatsächlich zu nutzen. Egal, ob man das positiv oder negativ beurteilt: es bleibt eine Tatsache.

Und was heißt das nun? Stelle ich mich auf der Intellektuellen-Party zu den Transhumanisten oder zu den Transhumanismus-Kritikern? Zu keinem von ihnen.

Ich bin sicher, dass dem Menschen eine weitere Selbstoptimierung gelingen wird. Wahrscheinlich wird die Anwendung genetischer Erkenntnisse im Bereich der Fortpflanzung in einigen Jahren ebenso selbstverständlich für uns sein wie es heute Organtransplantationen sind. Denn ich zweifle nicht einen Augenblick daran, dass der Mensch sein Streben nach Selbstverbesserung weiterhin mit allen ihm zur Verfügung stehenden Mitteln in die Tat umsetzen wird. Der Drang zur Selbstverbesserung scheint in seiner Natur zu liegen.

Bedauerlicherweise scheint es aber auch in seiner Natur zu liegen, dass bei dem kontinuierlichen Bestreben zur Selbstoptimierung von jeher einige Bereiche seiner selbst ausgeklammert werden. Am tief verwurzelten Streben nach Macht und Reichtum hat sich von Ötzi bis zu Donald Trump wenig verändert. Und auch nicht daran, dass der Mensch zum Erreichen von Macht und Reichtum über Leichen geht. Was die mögliche Selbstverbesserung dieser Wesenszüge betrifft, stimmt mich die Geschichte der Menschheit nicht sonderlich zuversichtlich. Transhumanisten, die auch hinsichtlich dieser Eigenschaften des Menschen eine Besserung voraussehen, können mich nicht überzeugen.

Wesentlich wahrscheinlicher erscheint es mir, dass genau dieser Spagat zwischen Selbstoptimierung einerseits und Selbstoptimierungsresistenz andererseits den Menschen letztlich seinen Kopf kosten wird. Es ist doch wirklich erstaunlich, dass eine Spezies, die noch vor einem Wimpernschlag der Erdgeschichte in Höhlen ums Lagerfeuer kauerte, inzwischen Wolkenkratzer baut, zum Mond fliegt und das Erdklima fast zum Kollabieren gebracht hat. Noch erstaunlicher ist, dass der Mensch fähig ist zu erkennen, welche dramatischen Folgen sein Tun schon in Kürze haben wird, und dass er trotzdem nicht in der Lage ist, das eigene Bedürfnis nach Macht, Reichtum und Komfort zu überwinden und auf die weitere Ausbeutung von Ölquellen oder den Shopping-Kurztrip mit dem Flieger nach New York zu verzichten.

Eigentlich ein drolliges Spektakel. Dumm nur, dass man mittendrin sitzt.