BERLIN. (hpd) Transhumanismus – die Verbesserung des Menschen durch sich selbst – für einige eine realistische und erstrebenswerte Zukunftsperspektive, für andere eine unrealisierbare narzisstische Selbstüberhöhung des Menschen. Was in der Diskussion häufig übersehen wird, ist die Tatsache, dass Transhumanismus nicht nur ein theoretisches Konstrukt, sondern gelebte Realität ist.
Auf einer Intellektuellen-Party im Jahr 2016 ist eine Diskussion über Transhumanismus mindestens so en vogue wie es in den 1970ern eine Diskussion über Marxismus war. Transhumanisten schwärmen dabei von den neuen Möglichkeiten zur Verbesserung des Menschen – als Spezies und Individuum. Kritiker des Transhumanismus haben dagegen Goethes Zauberlehrling im Hinterkopf und glauben nicht, dass die Versuche des Menschen, sich selbst zu verbessern, letztlich gut ausgehen werden.
Wäre dieser Artikel eine Intellektuellen-Party, so würde wahrscheinlich spätestens an dieser Stelle ein langwieriger philosophischer Exkurs darüber erfolgen, was denn eigentlich genau mit dem ethisch aufgeladenen Begriff "Verbesserung" gemeint sei.
Ich erlaube mir, mich diesem Exkurs zu entziehen, da die Menschheit seit ihrem Bestehen offenbar intuitiv und ohne philosophische Diskussionen weiß, was sie mit der Verbesserung ihrer selbst meint. Ötzi verbesserte den körperlichen Mangel seiner geringen Körperbehaarung, indem er sich ein Tierfell zum Wärmen umhängte, und lange vor der Erfindung von Viagra brauten schon die Hochkulturen des Orients Aphrodisiaka zur Verbesserung ihres Liebeslebens. Im 19. und 20. Jahrhundert beschleunigte sich die Entwicklung schließlich rasant. Es reichte dem Menschen nicht mehr, mit Hilfe selbst hergestellter pflanzlicher Heilmittel, Krankheiten besser zu überstehen, er packte sie beim Schopf und erfand Impfungen und Antibiotika, die die Krankheiten in seinem Körper direkt bekämpften. Schließlich brachte er es sogar fertig, das Leben todgeweihter Menschen durch das Einsetzen neuer Organe zu verlängern. Etwas, das Goethes Zauberlehrling noch wie pure Magie vorgekommen wäre, ist heute medizinischer Alltag.
Zwischen Ötzis Pelzmantel und dem verpflanzten Herzen gibt es nur einen graduellen Unterschied, keinen grundsätzlichen. Offenbar strebt der Mensch, so lange es ihn gibt, nach geringerer Verwundbarkeit, höherer Leistungsfähigkeit, dem Überwinden von Krankheit und der Verlängerung des eigenen Lebens, kurz: seiner eigenen Verbesserung.
"Ja aber", würden die Transhumanismus-Kritiker auf der Party einwenden, "ja aber durch die Möglichkeiten der Gentechnik hat sich doch heute etwas ganz Grundsätzliches verändert." Das stimmt. Die Erkenntnisse der Genforschung eröffnen nur am Rande die Möglichkeit, bei einer bestehenden Krankheit 'verbessernd' einzugreifen. Was sie jedoch ermöglichen ist, bestimmte Krankheiten zu beseitigen, indem Individuen, die die Anlage zu dieser Krankheit haben, gar nicht erst entstehen. Eine erweiterte Selbstoptimierung des Menschen durch die genetische Optimierung seiner eigenen Nachkommen.
In der Tat ein Gedanke, der gewaltig ist. Transhumanismus-Kritiker stürzen sich an dieser Stelle gern auf die ethisch-moralische Problematik, wer denn diese bedeutende Entscheidung treffen solle, welches Individuum entstehen darf und welches nicht. Wer bestimmt die Krankheiten, die einem Individuum noch vor Beginn seiner Existenz die Lebensberechtigung entziehen? Wie würde ein solches Vorgehen unseren Blick auf Krankheit im Allgemeinen und auf bereits existierende kranke Individuen verändern? Und wird das nicht ein Dammbruch sein? Was mit der Auswahl von Krankheiten anfängt, führt später vielleicht dazu, dass auch Individuen keine Existenzgenehmigung bekommen, die zu wenig Intelligenz aufweisen oder nicht schön oder stark genug sind.
Transhumanisten pflegen hier meist zurückzufragen, was denn so schlimm daran sei, wenn es bestimmte Erbkrankheiten nicht mehr gäbe und Menschen intelligent, schön und stark seien? Die Individuen, die nicht existieren, würden schließlich nicht darunter leiden, dass sie nicht existieren, eben weil sie nicht existieren.
Eine hochgeistige Diskussion, die mir seltsam theoretisch erscheint. Als gälte es, zunächst die ethische Debatte zu Ende zu führen, was man machen soll und darf, ehe man zur Tat schreiten kann. Dabei gibt es sie doch schon längst, die Selbstoptimierung des Menschen durch die Genforschung.
Fruchtwasseruntersuchungen zur Feststellung einer Chromosomenanomalie wie der Trisomie 21 (Down-Syndrom) werden seit Jahrzehnten durchgeführt. Inzwischen reichen sogar ein paar Tropfen Blut der Schwangeren, um zu denselben Erkenntnissen über den Fötus zu gelangen, wie man sie durch die nicht ungefährliche Fruchtwasseruntersuchung erhält. Stellt man bei dieser genetischen Pränataldiagnostik eine Chromosomenanomalie fest, so wird in über 90% der Fälle die Schwangerschaft abgebrochen. Ob diese Entscheidung vom eigenen Wunsch auf optimalen Nachwuchs bestimmt ist oder vom gesellschaftlichen Druck, möglichst optimierte Individuen zu erzeugen, ist durchaus diskutierenswert. Tatsache ist jedoch, dass die Möglichkeit da ist und dass sie genutzt wird.
Und sie ist nicht die einzige. Auf Wunsch kann bei einer In-vitro-Fertilisation Präimplantationsdiagnostik durchgeführt werden. Die im Reagenzglas befruchteten Eizellen werden hierbei nach den ersten Teilungen getestet, ob das möglicherweise entstehende Individuum bestimmte Erbkrankheiten aufweist, ob es das gewünschte Geschlecht hat oder ob es geeignet sein wird, einem bereits erkrankten Geschwisterkind Blut und Gewebe zu spenden. In die Gebärmutter eingepflanzt werden dann nur die Embryonen mit dem gewünschten genetischen Code. Die übrigen werden vernichtet.
Eine weitere Möglichkeit der erweiterten Selbstoptimierung durch die genetische Optimierung des eigenen Nachwuchses setzt sogar noch einen Schritt früher an: Mit Hilfe präkonzeptioneller Gentests, die seit Jahren immer größeren Zulauf erfahren, lassen sich potentielle Fortpflanzungspartner auf mögliche Erbkrankheiten untersuchen – und das, noch ehe eine Schwangerschaft vorliegt oder eine Eizelle im Reagenzglas befruchtet wird.
Viele Menschen sind Träger einer sogenannten rezessiven Erbkrankheit, ohne es zu ahnen. Wenn beide Partner Träger derselben Erbkrankheit sind, besteht die Möglichkeit, dass der gemeinsame Nachwuchs zwei fehlerhafte Genkopien erbt, was zur Ausprägung der Krankheit führt. Stellt sich bei dem präkonzeptionellen Gentest heraus, dass beide Partner tatsächlich Träger derselben Erbkrankheit sind, so kommen häufig die oben genannten Methoden zum Einsatz und Paare entscheiden sich für verstärkte Pränataldiagnostik oder für eine In-vitro-Fertilisation mit Präimplantationsdiagnostik. Eine weitere Möglichkeit ist es natürlich, sich einen anderen potenziellen Fortpflanzungspartner zu suchen.
Die Auswahl eines geeigneten Fortpflanzungspartners aufgrund genetischer Kriterien? Ist das nicht vielleicht doch ein bisschen zu sehr Science Fiction? Absolut nicht. Das erste breit angelegte präkonzeptionelle Screening Programm der Geschichte wurde bereits in den 1980er Jahren ins Leben gerufen – und zwar nicht von einem visionären Wissenschaftler, sondern von einem orthodoxen jüdischen Rabbi.
Rabbi Joseph Ekstein aus New York wunderte sich darüber, warum er und seine Frau mehrere Kinder mit einer schrecklichen Krankheit namens Tay-Sachs-Syndrom bekamen. Als er sich auf die Suche nach einer Erklärung machte, stellte er fest, dass diese Erbkrankheit gehäuft bei Paaren vorkam, deren Vorfahren aschkenasische Juden waren. Die Begründung hierfür ist simpel: Lebt eine Gruppe von Individuen lange relativ abgeschottet, wie es die aschkenasischen Juden in Europa bedingt durch jahrhundertelange Repressionen taten, so reichern sich in dieser Gruppe bestimmte genetische Eigenschaften an. Aus demselben Grund haben Basken überdurchschnittlich häufig die Blutgruppe 0 und überdurchschnittlich viele Iren rote Haare.
Als Rabbi Ekstein feststellte, dass Tay Sachs und andere Erbkrankheiten in der jüdischen Community häufiger vorkamen als bei Menschen ohne aschkenasischen Hintergrund, rief er die Organisation Dor Yeshorim ins Leben. Dor Yeshorim nimmt bei Jugendlichen aus der orthodoxen jüdischen Community Gentests vor. Ihr Ergebnis erfahren die Getesteten nicht, stattdessen erhalten sie einen Zahlencode. Wird später eine Ehe arrangiert – wie dies in orthodoxen jüdischen Kreisen üblich ist – so werden Dor Yeshorim vor dem Arrangement die Nummerncodes der potenziellen Partner übermittelt. Stellt Dor Yeshorim fest, dass beide Träger der Anlagen für dieselben Erbkrankheiten sind, wird die Ehevermittlung meistens abgebrochen.
Inzwischen gibt es übrigens auch nicht-orthodoxe Einrichtungen, die sich mit entsprechenden Screening-Programmen an weltliche Mitglieder der jüdischen Community wenden. Das Tay Sachs Screening gehört heute zu den erfolgreichsten genetischen Screening Programmen überhaupt: Die Wahrscheinlichkeit für ein nicht-jüdisches Paar, ein Kind mit Tay Sachs zu bekommen, liegt inzwischen höher als die entsprechende Wahrscheinlichkeit bei einem jüdischen Paar.
Die Entscheidung darüber, ob ein bestimmtes Leben wert ist, zu entstehen oder nicht, wird also bereits seit vielen Jahrzehnten tagtäglich in den unterschiedlichsten Stufen seiner Existenz getroffen.
Eine Tatsache, die überdeutlich zeigt, dass der Mensch keine philosophischen Diskussionen abwartet, wenn es darum geht, die sich ihm bietenden Möglichkeiten zur 'Verbesserung' seiner selbst auch tatsächlich zu nutzen. Egal, ob man das positiv oder negativ beurteilt: es bleibt eine Tatsache.
Und was heißt das nun? Stelle ich mich auf der Intellektuellen-Party zu den Transhumanisten oder zu den Transhumanismus-Kritikern? Zu keinem von ihnen.
Ich bin sicher, dass dem Menschen eine weitere Selbstoptimierung gelingen wird. Wahrscheinlich wird die Anwendung genetischer Erkenntnisse im Bereich der Fortpflanzung in einigen Jahren ebenso selbstverständlich für uns sein wie es heute Organtransplantationen sind. Denn ich zweifle nicht einen Augenblick daran, dass der Mensch sein Streben nach Selbstverbesserung weiterhin mit allen ihm zur Verfügung stehenden Mitteln in die Tat umsetzen wird. Der Drang zur Selbstverbesserung scheint in seiner Natur zu liegen.
Bedauerlicherweise scheint es aber auch in seiner Natur zu liegen, dass bei dem kontinuierlichen Bestreben zur Selbstoptimierung von jeher einige Bereiche seiner selbst ausgeklammert werden. Am tief verwurzelten Streben nach Macht und Reichtum hat sich von Ötzi bis zu Donald Trump wenig verändert. Und auch nicht daran, dass der Mensch zum Erreichen von Macht und Reichtum über Leichen geht. Was die mögliche Selbstverbesserung dieser Wesenszüge betrifft, stimmt mich die Geschichte der Menschheit nicht sonderlich zuversichtlich. Transhumanisten, die auch hinsichtlich dieser Eigenschaften des Menschen eine Besserung voraussehen, können mich nicht überzeugen.
Wesentlich wahrscheinlicher erscheint es mir, dass genau dieser Spagat zwischen Selbstoptimierung einerseits und Selbstoptimierungsresistenz andererseits den Menschen letztlich seinen Kopf kosten wird. Es ist doch wirklich erstaunlich, dass eine Spezies, die noch vor einem Wimpernschlag der Erdgeschichte in Höhlen ums Lagerfeuer kauerte, inzwischen Wolkenkratzer baut, zum Mond fliegt und das Erdklima fast zum Kollabieren gebracht hat. Noch erstaunlicher ist, dass der Mensch fähig ist zu erkennen, welche dramatischen Folgen sein Tun schon in Kürze haben wird, und dass er trotzdem nicht in der Lage ist, das eigene Bedürfnis nach Macht, Reichtum und Komfort zu überwinden und auf die weitere Ausbeutung von Ölquellen oder den Shopping-Kurztrip mit dem Flieger nach New York zu verzichten.
Eigentlich ein drolliges Spektakel. Dumm nur, dass man mittendrin sitzt.
32 Kommentare
Kommentare
libe am Permanenter Link
Ein wichtiger Punkt ist, dass sich die Frage nach dem Transhumanismus nicht von sozialen Fragen lösen lässt:
Wer hat Zugang zu verbesserten Lebensbedingungen?
Hans Trutnau am Permanenter Link
In der Tat - ein sehr wichtiger Punkt.
Uwe Lehnert am Permanenter Link
Eine Autorin, die sich nicht durch intellektualisiertes, ethisch aufgeladenes Schwadronieren beirren lässt und ein erfreulicher, von gesundem Menschenverstand geprägter Artikel. Hier eine weitere Meinung:
Der Transhumanismus könnte in fernerer Zukunft von der Idee her das erreichen, was der christliche Glaube dem Menschen angesichts von Not und Tod als tröstende Verheißung nur versprechen kann. Der christliche Glaube verspricht ewiges Leben in einem von Schmerz und Not freien Jenseits. Der Transhumanismus strebt im Diesseits ein zumindest deutlich längeres Leben in einer von Leid und Entbehrungen möglichst weitgehend befreiten Welt an. Es gilt, die dem Menschen von Natur aus gesetzten Grenzen zu überwinden, ihn von Krankheiten zu befreien, seine körperlichen, intellektuellen und sozialen Möglichkeiten zu erweitern und seine Lebenszeit soweit wie möglich, jedenfalls deutlich zu verlängern.
Es wird von religiöser Seite gern davor gewarnt, dass der Mensch nicht Gott spielen dürfe. Aber tun wir das nicht schon lange? Vor gut hundert Jahren lag das durchschnittliche Todesalter bei 40 Jahren, heute liegt es bei uns faktisch doppelt so hoch – weil wir über eine sich ständig weiterentwickelnde Medizin »Gott spielten«. Bevor wir also den Stab brechen über Menschen, die das – aus ihrer Sicht – Wünschbare zu denken wagen, sollte ein Blick in die Geschichte der Medizin uns etwas vorsichtiger machen und uns daran hindern, vorschnell zu verurteilen, was in ferner Zukunft vielleicht einmal möglich sein und dann als Segen empfunden werden mag. Blickt man auf die Medizin heute, dann ist gegenüber früheren Jahrhunderten bereits Erstaunliches gelungen.
Dank wissenschaftlicher Forschung sind unzählige Heilungsmöglichkeiten Wirklichkeit geworden. Wir haben uns, ohne noch ethische oder religiöse Bedenken zu haben, gewöhnt an die Transfusion fremden Blutes, an künstliche Befruchtung, an Kontrollen auf Erbschäden bei einem heranwachsenden Kind im Mutterleib, Organtransplantationen oder Herz-schrittmacher, die aus dem Träger dieser Geräte ein Mensch-Maschine-System machen, an Implantate für das Hören, Retina-Chips für verloren gegangenes Augenlicht oder Prothesen mit integrierter Sensorik für fehlende Arme, Hände und Beine, ins Gehirn eingeführte Sonden zum Abschalten unerträglicher Schmerzen. Die Züchtung von Organen, die kranke ersetzen, ist in einfachen Fällen bereits gelungen.
Ist es nicht so, dass unsere Ziel- und Wertvorstellungen einem stetigen Wandel ausgesetzt sind? Kann es angemessen sein, mit Moralprinzipien, die ihre Wurzeln in den Tiefen der Menschheitsgeschichte haben, ethische Fragen zu beantworten, die sich heute stellen? Ich bin nicht bereit, mir von einem bronzezeitlichen Moralsystem Vorschriften machen zu lassen für Situationen, die sich einem Hirtenvolk niemals gestellt haben. Fragen im Zusammenhang mit Ehebruch, Homosexualität oder etwa Sklavenhaltung bewerten wir heute doch auch völlig anders als zu Zeiten, als nur das biblische Wort galt. Die Bedürfnisse, Interessen und Hoffnungen der Menschen haben sich gewandelt, weil sie ganz entscheidend auch durch die jeweils gegebenen wissenschaftlichen und technischen Möglichkeiten bestimmt wurden.
Muss es nicht vielmehr als »ethischer Imperativ« gelten, sich um die Verbesserung der Lebensqualität des Menschen zu bemühen, ihn gesünder, langlebiger, intelligenter und verträglicher zu machen? Dass der Transhumanismus als Idee von christlich-religiöser Seite geradezu verdammt wird, ist verständlich. Holt er doch die versprochene Erlösung von irdischem Leid bei ewigem Leben vom Himmel herunter und macht dieser Religion ihr Allein-stellungsmerkmal streitig. Einem Christen ist transhumanistisches Denken und Handeln natürlich verwehrt, bedeutet es doch, sich in frevelhafter Weise in Gottes Planung einzumischen. Für den Christen wurde der Mensch von Gott als sein Ebenbild erschaffen. Veränderte der Mensch diese Ebenbildlichkeit zum Beispiel durch Eingriffe in die Evolution, maßte er sich in der Vorstellung eines Christen an, Gottes Werk, ja selbst Gott als Original als nicht zufriedenstellend anzusehen und eigenmächtig zu verbessern.
Die Entwicklung wird jedoch mit hoher Wahrscheinlichkeit über solche zeitgebundenen Bedenken hinweggehen. Ausschlaggebend für die Akzeptanz wird letztendlich der erkannte Nutzen für Gesundheit und Lebensqualität sein. Dass dabei schwerwiegende und alle bisherigen ethischen Maßstäbe übersteigende normative Probleme auftreten werden, das soll dennoch nicht verkannt werden.
Rainer Bolz am Permanenter Link
Unsere Freunde, Familie und viele Bekannte, stimmen alle darin überein, was eine glückliche oder schmerzhafte Gegenwart auf Erden definiert.
Und wer Krankheit, Behinderung, Debilität, Missgestalt und Abnormität vorzieht, wer vielleicht gar die Existenz dieser Kategorien bestreitet, erscheint mir in seiner Weigerung, etwas zu tun, wenn es eine transgenetische Möglichkeit zur Vermeidung gibt, ontologisch gesehen kriminell zu sein.
Unvermeidlich werden auch unerwünschte Entwicklungen entstehen, - nachfolgende Generationen werden sich dann damit auseinandersetzen müssen.
Martin Weidner am Permanenter Link
Krankheit und Behinderung und die anderen Sachen (was ist abnorm?) gehört jedenfalls zum Leben dazu. Wer Embryonen tötet, um nur gesunde Kinder zu bekommen, handelt ethisch verwerflich. Das ist meine Überzeugung.
Uwe Lehnert am Permanenter Link
Herr Weidner, der Ausdruck »ontologisch kriminell« gehört nicht zu meinem Wortschatz. Ich würde allerdings sagen, dass Sie ethisch fragwürdig handeln.
Martin Weidner am Permanenter Link
Wie kommen Sie darauf, dass ich anderen meine Überzeugung aufzwingen will? Ich hebe meine Überzeugung geäußert und sie als solche ausdrücklich benannt.
Uwe Lehnert am Permanenter Link
Herr Weidner, das mögen Sie explizit nicht getan haben. Aber ich identifiziere Ihre Auffassung hier wohl zu Recht mit der von den Kirchen unter Bezug auf die christliche Lehre vertretenen Meinung.
Martin Weidner am Permanenter Link
>>ich identifiziere Ihre Auffassung hier wohl zu Recht <<: Das heißt, Sie finden es richtig, pauschal in einen Topf zu werfen und so Vorurteile auszusprechen.
Ich bin ein Verfechter der repräsentativen Demokratie, ich halte es für gut, dass es politisch keine Mehrheit für die Todesstrafe gibt, obwohl das in der Bevölkerung anders ist. Entsprechend sehe ich es auch bei den Themen, die Sie aufgelistet haben. Als neulich im Bundestag über Sterbehilfe diskutiert wurde, spielten theologische Überlegungen doch keine große Rolle. Ich kann in dem, was Sie da schreiben, keinen Realitätsbezug sehen. Da unsere Gesellschaft pluralistisch ist, aber es nur ein einheitliches Recht für alle geben kann, wird es zu umstrittenen Gesetzen immer Teile der Bevölkerung geben, die sich damit nicht identifizieren können. Sie beklagen das, ich halte es bei meinem Demokratieverständnis für unumgänglich.
Die Frage ist doch, welche Sachargumente es gibt. Bleiben wir beim Transhumanismus:
Da bekenne ich mich als Aristoteliker (zumindest weitgehend). Ich frage Sie: Was ist für Sie das, was ein Lebewesen ausmacht? Sehe Sie es anders als Aristoteles und wenn ja, wie?
Dann frage ich noch einmal direkt: Wie stehen Sie zu meinen Unterscheidungen
- Zwischen Hilfsmitteln außerhalb des Körpers und Maßnahmen innerhalb des Körpers
- Zwischen Heilung / Linderung bei Krankheiten und Veränderung des Seins eines Menschen
- Zwischen Steigerung von eigenen Kräften und ganz neuen qualitativen Möglichkeiten
- Zwischen Erlernen von Fähigkeiten und Aufpfropfen durch einen Eingriff
Oder anders gefragt: Welches Menschenbild und welche Philosophie steckt hinter dem Transhumanismus, den Sie vertreten? Wir kommentieren hier den Beitrag einer Philosophin und ich habe hier bemängelt, dass nicht philosophisch argumentiert wird. Ihnen habe ich Denkfehler vorgeworfen. Diese Sachebene hat Sie bisher nicht interessiert. Ich diskutiere hier, um auf der Sachebene weiter zu kommen, denn ich bin mit dem Thema noch nicht fertig. Ich habe gehofft, hier durch Gegenargumente meinen Horizont zu erweitern, aber bisher wurde ich enttäuscht.
Martin Weidner am Permanenter Link
Ihr Beitrag irritiert, da er sich weitgehend gegen den christlichen Glauben wendet, obwohl das im Artikel kein Thema war.
Zunächst aber zum Thema selbst: Ihre rhetorische Frage:
Kann ich nur verneinen. Der Artikel deutet es an: Solange wir Menschen uns nur um uns selbst drehen und die Biosphäre, die Grundlage unseres Daseins, dabei aus den Gleichgewichten bringen, kann das Ziel nur sein, die Ehrfurcht vor den Mitgeschöpfen als Leitgedanke des menschlichen Handelns anzusehen. Mit Ihrer begrenzten Sichtweise werden letztlich das Gegenteil von dem erreichen, was Sie wollen: Die Lebensqualität des Menschen verschlechtern etc. Diese Widersprüchlichkeit beweist, dass Ihr (trans)humanistischer Ansatz falsch sein muss.
Humanismus und darauf aufbauend Transhumanismus gehören also auf den Müllhaufen der falschen Ansätze. (Dazu gehört auch, dass man aufhört, an Menschenrechte zu glauben. Nur die Abschaffung der Menschenrechte wird dieser Welt gerecht. Mit Abschaffung meine ich, dass das Vorzeichen geändert wird: Die Inhalte von GG Art. 1-20 sind überzuführen in das, was sie faktisch sind: Staatspflichten, bei dem alle Bürger mit in die Pflicht genommen werden. Dann ist es eine Leichtes, auch Pflichten gegenüber unseren Mitgeschöpfen aufzunehmen, ohne sie zu juristischen Subjekten zu machen.)
Das setzt natürlich voraus, dass man den Menschen mit Johann Georg Hamann als Pflichtträger der Natur ansieht und damit Moses Mendelssohn widerspricht.
Sie empfehlen den Transhumanismus als ein Versprechen einer schönen, neuen Welt, dem Heil, von dem sonst Religionen sprechen.
Ich dagegen halte alle solche Heilsversprechen, egal ob religiös oder wissenschaftlich oder sonstwie für schädlich. Ich verwe4ise darauf, dass es das auch schon immer gab: Wie wurde in DDT das Heil gesehen, das den Hunger der Welt besiegt, den Ägyptern wurde der Assuanstaudamm als Heil verkauft, viele glauben immer noch an das Heil durch ‚Atomstrom. Die Liste ist beliebig verlängerbar: Immer hat das versprochene Heil das Gegenteil bewirkt oder zumindest doch eine gemischte Bilanz hinterlassen. Nicht sofort – oft gab es anfängliche Erfolge.
So steht es auch mit dem medizinischen Fortschritt. Vieles, was Sie aufzählen, setzt eine Hochtechnologie voraus, die aber die Kehrseite hat, dass die Biosphäre Richtung Orkus wandert. Im Moment sieht die Bilanz noch gut aus, aber am Ende des Jahrhunderts wird uns aller Voraussicht nach die Rechnung präsentiert (plakativ im Buch: „10 Milliarden“ aufgelistet).
Ich bin nicht gegen den medizinischen Fortschritt, ich freue mich darüber und nutze ihn, aber ich bilde mir nicht ein, dass dadurch die Welt besser geworden ist. Hier ist mehr Bescheidenheit angesagt.
Sie verkennen aber den Unterschied zwischen medizinischen Hilfen im Krankheitsfall oder einer grundsätzlichen Verbesserung des Menschen. Hier sollten Sie andere Beispiele nehmen: Schönheits-OPs, Doping, Gehirn-Doping, Dann wird nämlich auch schnell klar, warum es hier massive Ablehnung gibt: Die Verbesserung des Menschen ist nämlich kein ethisch erstrebenswertes Ziel. Der Transhumanismus, den Sie vertreten, basiert also auf Denkfehlern.
Einiges, was Sei aufzählen, ist ethisch höchst bedenklich. (s. dazu mein Kommentar zum Artikel)
Zu Ihren weiteren ethischen und religiösen Aussagen:
Vollkommen stimme ich Ihnen zu, dass das Argument, man darf nicht Gott spielen, absurd ist. Denn der Auftrag an den Menschen, die Erde zu bebauen, macht ihn in gewisser Weise zum Mitschöpfer. Interessanterweise wird das, was im Artikel als Belege für Transhumanismus der Steinzeit gilt: Das Fell als Kleid, in Genesis 3 als ein Geschenk Gottes an den Menschen erzählt: Damit wäre Transhumanismus ein Geschenk Gottes, was aber Unsinn ist, weil Werkzeuge (wie Kleidung) nicht das selbe ist wie die Veränderung eines Lebewesens selbst.
Der christliche Glaube handelt davon, dass Menschen den Weg des Absterbens gehen (wird an Aschermittwoch besonders gefeiert), also genau das Gegenteil von dem, was der Transhumanismus vertritt. Sein Kreuz auf sich zu nehmen, also alle Lebensverbesserungsperspektiven fahren zu lassen, ist das, was christliche Ethik auszeichnet. Es ist das Überschreiten des eigenen Selbst in Richtung auf Liebe. Dies erscheint zunächst ein sinnloses Ziel. Die Hoffnung, die im auferstandenen Christus beruht, besteht darin, dass das Werk der Liebe nicht vergeblich ist. So fasst Paulus das lange Kapitel über die Auferstehung (1 Korinther 15) zusammen. Auch in diesem Kapitel geht es darum, dass alle Menschen sterben – das ist der Angelpunkt, an dem die Auferstehung hängt.
Was Sie über den christlichen Glauben fabulieren, ist zwar populär, habe ich aber so in der Kirche noch nie gehört, da geht es um den angefochtenen Glauben, der im Überschreiten es eigenen Ichs besteht.
Angesichts der Ökokrise brauchen wir eine Spiritualität, die das Überschreiten des eigenen Selbst genau das, was wir brauchen.
Auch haben Sie nicht verstanden, was christlicher Glaube ist: Auf keinen Fall ist es ein Moral-System. Damit hat Jesus gründlich aufgeräumt, indem er hinter die Auswüchse der real existierenden Religion zurückgriff auf den ursprünglichen Gotteswillen. Seine Feindesliebe kann man nur als transmoralisch bezeichnen. Die Aufklärung hat mit ihrem Moralismus mit dazu beigetragen, dass die Tiefe des Glaubens aus dem kollektiven Bewusstsein verdrängt wurde.
Wenn Jesus (er lebte übrigens nicht in der Bronzezeit) ein Moralapostel gewesen wäre, hätte man ihn nicht gekreuzigt. Soweit und solange christlicher Glaube sich an Jesus bindet, stimmt er nicht mit dem überein, wie sie ihn schildern.
Dadurch wird auch gegenstandslos, wie Sie christliche Tradition verstehen. Der christliche Glaube ist (im Gegensatz zum orthodoxen Islam) keine Buchreligion, die Hermeneutik und Aneignung alter Texte ist dadurch geprägt, dass nicht der Buchstabe, sondern der Geist Jeus entscheidend ist.
Übrigens: Die Menschen haben sich (noch) nicht verändert: Technische Möglichkeiten verändern nicht die anthropologischen Grundkonstanten, die der Ethik zugrunde liegen.
Ich will es mal an den 3 Stichworten erklären, die Sie liefern:
Ehebruch: Die Folgeschäden einer zerbrochenen Ehe sind für Ehepartner und Kinder heute mehr bekannt als vor 2000 Jahren. Geändert haben sich die Absicherungen: Eine Frau hat auch nach einer Scheidung eine soziale Perspektive. Diese Funktion ist heute nicht mehr so wichtig, aber es bleiben Gründe übrig, die Hürden für das zerbrechen eine Ehe hoch zu legen, weil Ehebruch zu den para-ethischen Gebieten gehört, bei der es nur Geschädigte gibt und das deshalb nur im Grenzfall zu betreten ist.
Homosexualität: Die Verweigerung von Nachkommen ist gegenüber Frauen, die ohne Kinder keine soziale Absicherung hatten, ein Verbrechen, zumal in Zeiten, wo Hunger eine erlebte Realität war. Dass jemand, der das Leben verweigert, von Gott verflucht wird, ist eine nachvollziehbare Regel. Hier haben sich die sozialen Randbedingungen tatsächlich erheblich verändert. Hier greift, dass es eben nicht um ein Moralsystem geht. Das ist übrigens schon im Alten Testament so, bei dem ein Kastrat, der eigentlich vom Kult ausgeschlossen wird, doch aufgenommen wird, so Jesaja 56, 3, wo Gott ihnen ein Denkmal im Tempel bauen will.
Maßnahmen, die das Überleben absichern sollten, können also auch im AltenTestament abgeschafft werden. Man mjuss schon blind sein, um das zu übersehen.
Sklaverei: Sie besitzen eine dreistellige Zahl von (virtuellen) Sklaven. Allein die seltenen Erden, die von Kindern in schlimmen Verhältnissen aus Bergwerken geholt werden, nur damit Sie mobiles Internet haben, machen sie zum Sklavenhalter. Und Ihren Sklaven geht es schlechter als den Sklaven im alten Israel. Ich kann nicht sehen, dass Sie in Sachen Sklaverei besser dastehen als die alttestamentlichen Gesetze, die Sklaven Rechte gewähren, die Ihre Sklaven zum Teil nicht haben. Natürlich kann man von einer klassenlosen Gesellschaft träumen, aber das Projekt hat in Europa den Praxistest nicht bestanden. Die Abschaffung der Sklaverei der Afrikaner geschah übrigens von frommen Christen in England. Die waren weiter als sie es sind. (Falls Sie es nicht bemerkt haben: die letzten Zeilen richten sich auch gegen mich.)
Jedenfalls bin ich gespannt, wo sie meinen, weiter gekommen zu sein als die Bergpredigt. Ich bin überzeugt: Die Feindesliebe ist unübertroffen und kann auch von Ihnen nicht getoppt werden.
Uwe Lehnert am Permanenter Link
Herr Weidner, Sie schreiben, dass mein Beitrag Sie irritiert hat. Ja, das glaube ich.
Desweiteren schreiben Sie, dass Humanismus und darauf aufbauend Transhumanismus auf den Müllhaufen der falschen Ansätze gehören. Auch sollte man aufhören, an die Menschenrechte zu glauben, nur die Abschaffung der Menschenrechte würde dieser Welt gerecht. Ich vermute mal, dass Sie – um es vorsichtig auszudrücken – zumindest hier auf diesen Seiten wenig Freunde für Ihre Thesen finden würden. Behaupten doch sogar christlich-kirchliche Kreise, dass der Humanismus aus dem Christentum hervorgegangen sei und die Menschenrechte sich aus den Aussagen des Neuen Testaments ableiteten. (Vorstellungen, die ich für anmaßend und falsch halte. Humanismus und Menschenrechte wurzeln in der Aufklärung und mussten mühsam und blutig der Kirche abgerungen werden.)
Sie wiederholen meine Aussage: »Muss es nicht vielmehr als »ethischer Imperativ« gelten, sich um die Verbesserung der Lebensqualität des Menschen zu bemühen, ihn gesünder, langlebiger, intelligenter und verträglicher zu machen?« und lehnen diese Forderung kategorisch ab. Ich bekenne mich ausdrücklich dazu, wohl wissend, dass eine solche transhumanistische Zielsetzung immer eingeklemmt sein wird zwischen dem Machbaren, dem Wünschbaren und dem Verantwortbaren. In diesen Entscheidungssituationen werden keine Vorgaben aus der Bronzezeit und den Jahrhunderten danach uns weiterhelfen, im Gegenteil, sie würden viel eher zu Ergebnissen führen, die menschliches Leid zulassen, obwohl Hilfe möglich wäre.
Im weiteren Verlauf Ihrer Replik schwärmen Sie von den Vorzügen des christlichen Glaubens. Dem will ich an dieser Stelle nicht widersprechen. Ganz ausführlich habe ich das in meinem Buch getan »Warum ich kein Christ sein will« (2015, 6. Auflage, auf den hpd-Seiten wiederholt besprochen). Ihre übrigen Ausführungen haben kaum noch etwas mit dem Thema Transhumanismus zu tun, so dass ich darauf nicht eingehen möchte.
Martin Weidner am Permanenter Link
Ich gebe zu, dass ich sehr pointiert geschrieben habe.
Schade, dass Sie an keiner Stelle in Ihrer Erwiderung inhaltliche Sachargumente bringen.
Hans Trutnau am Permanenter Link
"dass genau dieser Spagat […] den Menschen letztlich seinen Kopf kosten wird" - eine (schöne?) Einsicht, die ich schon lange vertrete, so treffend aber noch nicht formuliert hatte.
Uwe Lehnert am Permanenter Link
Hans, richtig, nur wenige konnten sich zunächst teure Operationen leisten. Es waren selbstverständlich nur die Begüterten.
Hans Trutnau am Permanenter Link
Das klingt danach, Uwe, als hätte die Allgemeinheit gleichermaßen Zugriff auf KV-Leistungen, als wären Chancen etc. gleichermaßen verteilt, was - wie ein einfacher Blick auf die Realität enthüllt (vgl.
Du willst gegeneinander abwägen und erwähnst (weiter oben) normative Probleme, benennt diese aber keineswegs.
So kann sich Transhumanismus als schöne Utopie darstellen, erweist sich aber auch dank der bereits von Daniela W. erwähnten Negativa als durchaus gefährliche DYStopie, der zumindest ich nicht folgen will: "Schöne neue Welt?" Nein, danke.
Uwe Lehnert am Permanenter Link
Hans, warum immer gleich in solchen Extremen denken?
Vergleiche doch mal mit früheren Zeiten! Heute muss niemand mehr bei uns an einem vereiterten Blinddarm sterben. Auch Kassenpatienten bekommen im Bedarfsfall eine neue Hüfte. Jeder Versicherte bekommt Tabletten gegen zu viel Blutzucker, gegen Bluthochdruck oder gegen diverse Herzleiden. Ohne diese Möglichkeiten würden Millionen Menschen nicht mehr leben. Die Tatsache, dass eine Minderheit in unserer Gesellschaft von dieser Entwicklung nicht profitieren könnten, rechtfertig doch nicht die Feststellung, dass diese Fortschritte nicht begrüßenswert wären. Diese medizinischen Entwicklungen begannen einst auch mit dem Verletzen von Tabus, die die Kirche aufgestellt hatte.
Dass ich die normativen Probleme nicht angesprochen habe, ist allein dem Platz geschuldet. Meine Beiträge sind oft eh sehr lang. Ausführlich habe ich mich in meinem Buch „Warum ich kein Christ will“ (2015, 6. Auflage) damit befasst. (Hans, Du kennst vermutlich nur die 1. Auflage.) Hier ein paar Bemerkungen dazu.
Entscheidende Argumente in solchen normativen Entscheidungssituationen sind für mich die Antworten auf die Leitfragen: Wem nützt es? Wem schadet es? Wie kann Wohlbefinden, Gesundheit, Glück vermehrt, wie kann Leid verhindert werden?
Die Frage, was konkret und tatsächlich an Veränderung und Weiterentwicklung nützlich und ethisch wünschenswert ist, ob eine solche Entwicklung überhaupt gewollt wird, kann nur in einem offenen und gleichberechtigt geführten gesellschaftlichen Dialog beantwortet werden. Dieser Dialog wird wie bisher äußerst mühsam und von religiösen und weltanschaulichen Vorgaben geprägt sein. Es ist zu klären, was biotechnisch erlaubt sein soll und ob es eine nicht zu überschreitende Grenze zu respektieren gilt. Schließlich soll ja nicht verkannt werden, welche problematischen ethischen Fragen – Stichworte wie präventive Eugenik oder therapeutisches Klonen mögen stellvertretend dafür genannt werden – dahinter stehen können. Eine breite ethisch-philosophische Diskussion müsste klären, was der unaufgebbare und unantastbare Kern dessen ist, was wir unter einem »Menschen« verstehen wollen.
Die Balance zu halten zwischen entgleitender, selbstzerstörerischer wissenschaftlich-technischer Entwicklung und dem Ausloten der Möglichkeiten zu weniger Leiden und mehr Lebensglück ist sicherlich schwierig – wie übrigens schon so lange wie Technik und Medizin sich in rasanter Entwicklung befinden. Aber es wäre geradezu unethisch, die Chancen nicht zu nutzen, die uns Wissenschaft und Technik zur Überwindung von Krankheit, Leid und Unfrieden bieten, die in der menschlichen Natur begründet liegen.
Entscheidend mitwirken könnten hier Ethik-Kommissionen. Aber nicht solche, die wie heute, überwiegend mit Theologen und Fachleuten, die wiederum mehrheitlich christlich-religiös orientiert sind. Und dieses bei einer Bevölkerung, die sich tatsächlich – nicht unbedingt formal – überwiegend von bronzezeitlichen Moralprinzipien schon verabschiedet hat.
Rainer Bolz am Permanenter Link
Sehr geehrter Herr Lehnert,
Die Aussage #ontologisch kriminell#wurde 2008 vom französischen Philosophen Michel Onfray :die reine Freude am Sein im PID Kontext verwendet.
In wessen Namen kann man es noch vor jedem Sein ( ohne dass es, selbstverständlich, um die Beseitigung eines definitionsgemäß noch nicht existierenden Lebewesen ginge) ablehnen, für ebendieses unter den Milliarden genetisch möglichen Kombinationen die Auswahl des besten existenziellen Potentials zu treffen?
Im Namen von Herrn Weidner?
Martin Weidner am Permanenter Link
Mit dieser Argumentation wird jede natürliche Zeugung kriminalisiert, weil sie auf eine Selektion verzichtet.
Rainer Bolz am Permanenter Link
Sehr geehrter Herr Weidner, kein Mensch wird dann kriminalisiert.
Vielmehr wird der "Markt" das über entsprechende Tarifbeiträge regulieren.
Martin Weidner am Permanenter Link
Sehr geehrter Herr Bolz,"ontologisch kriminell" verstehe ich als Kriminalisierung - soviel zu diesem Unwort.
Rainer Bolz am Permanenter Link
Sehr geehrter Herr Weidner,
"Ontologisch kriminell" vom Autor Michel Onfray hat bei mir seinerzeit nur ein breites Grinsen hervorgerufen.
Ich plädiere im Gegenteil für eine Heuristik der Kühnheit.
Nach Ihrer Logik wäre wegen der Gefahr eines Absturzes von der Erfindung des Flugzeugs, unter dem Vorwand des Kenterns vom Schiff abgeraten worden. Wir hätten mit der Gefahr von Entgleisung drohend, die Eisenbahn verboten, mit der Vorhersage von Autounfällen den Erfinder des Automobils ausdrücklich von seiner Idee abgebracht und die Elektrizität wegen möglicher Stromschläge abgelehnt.
Der Philosoph hätte Gott höchstselbst unter dem Vorwand, es führe letztlich zum Tode, davon abgeraten das Leben zu erschaffen.......
Ich stimme Ihnen zu, wir Widerstandskämpfer schaffen das.
Allerdings ist unser Widerstand gegen das imaginäre Alphamännchen - Gott.
Martin Weidner am Permanenter Link
Nein, IHre Vermutung, dass mich die Angst antreibt, geht daneben. Angst ist ein hilfreiches Alarmsignal, aber kein guter Ratgeber.
Hans Trutnau am Permanenter Link
Wieso Extreme, Uwe? Nur, weil ich meinte, dass die (beschworene) Utopie sich auch als Dystopie herausstellen kann? Und wo stelle ich fest, "dass diese Fortschritte nicht begrüßenswert wären"?
Ich bezog mich bereits in meinem 1. Kommentar hier (vom 5.2.) unter ausdrücklicher Zitierung auf das Ende des Artikels von Daniela W., den Du ja ebenso als erfreulich und "von gesundem Menschenverstand geprägt" bezeichnetest. Ich wollte lediglich die negativen Auswüchse dieser möglichen Utopie 'Transhumanismus' bekräftigen. Bin ich deswegen "Bedenkenträger", jemand, der Fortschritt ablehnt? Ich denke, nicht. Und auch Du findest es ja vernünftig (9.2.), "gegeneinander abzuwägen" - und bringst ein paar Beispiele für die "Balance". Und das finde ich auch gut so!
Uwe Lehnert am Permanenter Link
Also. Hans, sind wir uns ja grundsätzlich einig - oder? Generell bin ich halt in dieser Hinsicht optimistischer eingestellt als viele andere Mitdiskutanten hier.
Uwe Lehnert am Permanenter Link
Hans, so weit sind wir ja auch nicht auseinander. Ich habe nur eine insgesamt optimistischere Einstellung.
Eine Herztransplantation war vor 150 Jahren medizintechnisch undenkbar, wäre außerdem auf größte Bedenken gestoßen, galt doch sehr vielen Menschen das Herz als Sitz der Seele und wäre diesen Menschen der damaligen Zeit ungeheuerlich vorgekommen. Dieser medizinische Fortschritt hat heute vielen Menschen weitere Lebensjahre geschenkt.
Dass diese medizinischen Möglichkeiten nicht gleich allen Menschen zur Verfügung stehen, ist absolut kein Grund, sie nicht einzusetzen. Selbst dann nicht, wenn aufgrund sozialer Ungerechtigkeit, diese Chance erst einmal nur Menschen zur Verfügung steht, die sich das finanziell leisten können. Die sozialen Ungerechtigkeiten zu bekämpfen, ist eine politische Aufgabe.
Hans Trutnau am Permanenter Link
Uwe, und diese politische Aufgabe könnte gelingen, meinst Du?
Hans Trutnau am Permanenter Link
Lang her, meine Frage; dann werde auch ich hier ein 2. Mal agieren:
Ich nehme an, Uwe, Du meinst, die politische Aufgabe könne gelingen. Dann müsstest Du eigentlich Dein Lob auf den Artikel von Daniela W. korrigieren, die ja genau dieses Argument einer "Besserung" in ihren letzten Absätzen nicht überzeugend nennt. Ich auch nicht (ohne weder zu optimistisch, noch zu pessimistisch, eher realistisch zu sein). Denn:
Wir werden ziemlich sicher die genannten Fortschritte nutzen (wollen), wie das auch die Autorin annimmt; aber m.E. bis auf Weiteres IMMER mit den einhergehenden Negativa und MIT einem u.a. durch die Arm/Reich-Schere verursachten Zeitversatz bzgl. des Zugangs zu den Fortschritten. Zwei Beispielbereiche mögen das verdeutlichen:
Die dystopischen Auswüchse sind ja schon heute unübersehbar, Stichwort: Umwelt (Daniela W. spricht das bereits an). Strandsand besteht bereits global z.T. aus Plastikgranulat. Und wir kippen deutschlandweit jährlich in summa -zigtonnenweise ausgeschiedene Medikamente (Diclofenac u.a.) und Hormone (aus Anti-Babypillen) sowie Pestizide / Biozide (praktisch ubiquitär vorkommende Konservierungs- und Desinfektionsmittel wie Isothiazolinone und quartäre Ammoniumverbindungen aus Reinigungsmitteln, z.B. in Shampoos, Weichspülern u.v.a.m.) über die Kanalisation in Klärwerke, wo sie schwer oder nicht abgebaut werden und über Vorfluter / Flüsse ins Sickerwasser und damit ins Trinkwasser gelangen. Und wir kippen jährlich allein in DE tausend(!)tonnenweise Glyphosat als Unkrautvernichter auf die Äcker - und wundern uns tatsächlich, dass wir das (nicht nur!) im Bier wiederfinden!
Weiteres Stichwort: Organhandel, auch in Europa. Das sagt eigentlich schon alles, wird aber noch getoppt von den Sendungen 'Ausgeschlachtet' und 'Scobel' am 18.2.16 abends auf 3sat (gab es da gerade noch in der Mediathek): Regimekritiker der Falun Gong in China werden offenbar als LEBENDE ERSATZTEILLAGER 'genutzt'!
Ich möchte mir wünschen, dass das bisherige politische Versagen mittels entsprechender Alternativen und einer unabhängigen Ethik-Kommission korrigiert wird. Aber das wird ein wirklich langer, steiniger Weg werden - schon weil das global ungemein schwierig umsetzbar sein dürfte. Mögen gbs, hpd oder die PdH hier bei uns ein hoffnungsvoller, wenn auch zaghafter Versuch sein!
Verweisen möchte ich übrigens auf die Kommentare hier von libe (5.2.) und Dennis Riehle (12.2.) mit ganz ähnlichem Tenor.
Martin Weidner am Permanenter Link
Frau Wakonigg verkennt einige qualitative Unterschiede: Ein Werkzeug oder ein Gegenstand außerhalb des Menschen (Mantel) ist etwas völlig anderes als eine Veränderung im Menschen selbst.
Ebenso ist die Frage, ob ien Lebewesen entstehen soll oder nicht völlig anders, wenn es darum geht, wer wen heiratet, oder ob eine befruchtete Eizelle, die ein eigenes Lebewesen ist, leben oder sterben soll. Dies ist die Lebenslüge der Gentechnik. Unser Sohn hatte aufgrund von einer vorgeschriebenen Blutuntersuchung eine hohe Wahrscheinliuchkeit, an Trosomie 21 zu leiden, aber wir verweigerten eine Fruchtwasaseruntersuchung, die ja nur den Sinn hat, einen Menschen zu töten. So ist das immer: Wenn man Menschen einredet, ein Lebewesen wäre kein Mensch (Dunkelhäutige sind Affen, Juden sind Untermenschen, menschliche Embryonen sind Zellhaufen), dann gibt es da keine Hemmschwelle.
Frank Linnhoff am Permanenter Link
Ray Kurzweil, einer der Gurus des Transhumanismus und "hohes Tier" bei Google schluckt täglich 250 Pillen, um besser, gesunder, möglichst ewig zu leben.
Thomas Friedrich am Permanenter Link
Der Transhumanismus ist die einzige Möglichkeit des Menschen, sich von dem Elend und der Banalität seiner bisherigen Existenz zu befreien. Sicherlich garantiert auch der Transhumanismus kein Paradies auf Erden.
Dennis Riehle am Permanenter Link
Mich stört in der Auseinandersetzung die nahe als Ohnmacht daherkommende Unterordnung unter den Transhumanismus als Ideologie.
Die Frage ist viel eher die des Willens: Wollen wir eine transhumanistische Lebensweise - und eben eine solche, die nichts mit den bislang noch milden Auswirkungen zu tun hat, die wir in Individualisierung, Entsolidarisierung und Digitalisierung schon heute sehen? Es geht um das, was für viele von uns aus augenblicklicher Sicht irreal zu wirken scheint: das Überführen des Menschen in seine "Vollendung", in seine Unantastbarkeit, in seine Stereotypisierung. Natürlich hatte auch Einstein vor 100 Jahren nicht daran geglaubt, dass seine Relativitätstheorie durch den Nachweis von Gravitationswellen jemals - und schon gar nicht im Jahr 2016 - gelingen würde. Selbstredend entwickeln sich Forschung und Wissenschaft mit einer ungeahnten Geschwindigkeit. Doch wer steuert sie? Werden wir gezwungen, uns zu idealisieren? Sind nicht wir es, die im gemeinsamen Konsens gerade dazu verpflichtet sind, die Macht des Menschen verantwortungsvoll auszugestalten?
Ja, darin sehe ich die Gefahr des transhumanistischen Denkens: Diejenigen, die an der Quelle des Wissens sitzen, lenken die menschlichen Geschicke. Wir können das - wie den Lobbyismus der Globalisierung - als unabänderlich akzeptieren oder uns wieder darauf besinnen, dass unser Erdball nur schwer funktioniert, wenn wir uns nicht auf ein Mindestmaß an Werten verständigen. Und das kann und muss nach meiner Auffassung auch bedeuten, uns selbst zu regulieren. Vielleicht geschieht es wie an den Börsen, die ebenfalls keinen dauerhaften Aufschwung kennt, sondern sich vor Überhitzung schützt...
Überdies will ich mich nicht auf eine philosophische Debatte einlassen, in der ich wahrscheinlich ohnehin verlieren würde. Denn moralische Argumente sind meist wirkungslos gegen Vernunft, wenngleich ich mich frage, ob wir denn in einem ausgedehnten Transhumanismus überhaupt noch eine Ethik brauchen würden. Solch eine Vorstellung schaudert mich, ist aber eine persönliche Empfindung, die in der Auseinandersetzung kein Gewicht haben darf. Mich irritiert in den Diskussionen viel eher die zumeist von Außenstehenden verbreitete Meinung, Krankheit oder Behinderung gehe unmittelbar mit Plagen, Qual und Schaden einher. Ich weiß es nicht, aber kann ein Leben ohne Tiefen erstrebenswert sein?
Wir könnten einerseits davon ausgehen, dass Krankheiten und "Handicaps" das Ergebnis einer entgleisten Evolution sind, die der Mensch mit seinem Können nicht nur auszugleichen vermag, sondern gar in ihren Auswirkungen vorhersehen und vermeiden kann. Doch auch, wenn ich kein Utopist bin, frage ich mich dann: Wenn wir die Fähigkeiten des Menschen derart hoch ansetzen, weshalb verhindern wir dann nicht zuerst einmal das Leid, das wir selbst verursachen, in Gewalt oder Krieg beispielsweise? Denn andererseits möchte ich in den Raum werfen, ob Erkrankungen und Behinderungen in gewissem Maße nicht auch ihren Sinn haben? Wir neigen heute rasch dazu, gesundheitliche Leiden um jeden Preis zu bekämpfen, weil wir sie als unmenschlich ansehen - das beginnt schon beim Schwangerschaftsabbruch und endet in der Sterbehilfe.
Doch woher nehmen wir Fertigkeiten wie Einfühlungsvermögen, Sensibilität, Empathie, Verständnis und Mitgefühl, wenn wir keinerlei Möglichkeit mehr haben, diese auch zu erlernen - eben beispielsweise durch die Erfahrung des Leidens? Fragt man viele Betroffene auch von schweren Erkrankungen, so zeichnen sie ihre Situation weitaus weniger dramatisch, als ihnen ihre Umwelt dies in den Mund legen will. Blicke ich auf meine eigenen, genetisch bedingten, nicht heilbaren Beeinträchtigungen, so ergeht es mir ähnlich: Dieses "Das ist aber schlimm..." von jenen, die meist vor Gesundheit strotzen, empört mich.
Gerade in Psychotherapien werden Patienten oftmals gefragt, wie es denn ohne Krankheit wäre. Und natürlich wünschen sich die meisten, dass es ihnen besser gehen würde. Aber vollständig auf eine Form von Leiden zu verzichten, das will dann kaum jemand. Denn die Feststellung, aus den Tiefen des Lebens eben auch erwachsen herauszugehen, ist keine weise Floskel, sondern ein Erlebnis, das selbst die nicht missen wollen, die wirklich geprüft wurden.
Es ist unbestritten, dass ich mir Hilfe wünsche für jeden Kranken und behinderten Menschen. Auch ich bin dankbar dafür, dass sie mir zuteil wird. Doch bedeutet ein Streben nach dem Perfekten nicht gleichsam, ein Ideal zu schaffen, dessen Einseitigkeit uns die Existenz auf dieser Welt nicht leichter, sondern gar langweiliger und inhumaner machen würde?
Martin Weidner am Permanenter Link
Vielen Dank für Ihren wertvollen und weiterführenden Beitrag. Ich frage mich, ob hier auf der website der Humansiten die Humanisten sich ins Gegenteil verkehrt haben.