Thomas von der Osten-Sacken im Interview

25 Jahre Einsatz für Menschenrechte

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Thomas von der Osten-Sacken

Der deutsch-irakische Verein WADI unterstützt seit 25 Jahren Programme zur Selbsthilfe und Stärkung von Menschenrechten im Nahen Osten. Im Zentrum der Arbeit stehen Projekte, die konkrete Hilfe mit den Rechten und Fähigkeiten der Einzelnen verbinden: Alphabetisierungs- und Bildungsprogramme, Kampagnen gegen weibliche Genitalverstümmelung und der Kampf gegen häusliche Gewalt. Vor Kurzem erhielt der Verein den Roland-Berger-Preis für Menschenwürde. Der hpd blickt mit Thomas von der Osten-Sacken, Geschäftsführer von WADI, auf ereignisreiche Jahre zurück. 

hpd: WADI setzt sich nun seit über 25 Jahren für Menschenrechte im Nahen Osten ein. Können Sie kurz erklären, auf welchem Selbstverständnis die Arbeit des Vereins basiert?

Osten-Sacken: Unsere Arbeit basiert wesentlich auf einem Verständnis, das davon ausgeht, dass Leute abstrakte Bürger sein sollen und es nicht wichtig sein sollte, was sie konkret sind: Weder die religiöse Zugehörigkeit, noch das Geschlecht oder die Ethnizität sollten eine Rolle spielen. Diese abstrakte Staatsbürgerschaft mit einer Gleichheit vor dem Gesetz ist eine der ganz großen Forderungen, die während dem arabischen Frühling formuliert wurde und die es de facto nirgendwo im Nahen Osten gibt. 

Eine weitere wichtige Säule unserer Arbeit ist das Self-Ownership, also der Selbstbesitz im ganz konkreten Sinne von "Mein Körper gehört mir". Jeder Mensch sollte selbst entscheiden, ob und wen er beispielsweise heiraten möchte oder wohin er sich bewegt. Und dass einem keine körperliche Gewalt – in unserem konkreten Fall etwa Genitalverstümmelung (FGM) als Kind – angetan wird. Das sind leider keine Selbstverständlichkeiten in der Region.

Seit Beginn der Tätigkeiten im Jahr 1992 hat WADI zahlreiche Kampagnen und Projekte im Irak lanciert. Gibt es Projekte auf die Sie besonders gerne zurückblicken?

Es gab sehr viele Projekte auf die man heute gerne zurückblickt, wie das erste Community-Radio in Irakisch-Kurdistan, das bis heute arbeitet und letztlich auch mit dem Raif-Badawi-Preis ausgezeichnet worden ist; oder die Eröffnung des ersten Frauenschutzhauses in der Region, die zu dieser Zeit ein großes Wagnis war. Wenn man auf diese Chronik von 25 Jahren schaut, gibt es einige Dinge, wo wir das Gefühl haben, dass unser Einsatz eine gewisse Nachhaltigkeit hat und die Situation vor Ort verändert.

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Mit Unterstützung von Wadi wurde die Frauenrechtsberatung "Wola" gegründet, Foto: © Wadi e.V.

Gab es eine Kampagne, die besonders viel Aufmerksamkeit erlangt hat?

Ja, 2004 sind wir sehr bekannt geworden, als wir herausgefunden haben, dass die weibliche Genitalverstümmelung nicht nur ein afrikanisches Problem ist, sondern auch in Irakisch-Kurdistan durchgeführt wird. Gegen unglaubliche Widerstände haben wir dann eine Kampagne begonnen, die sehr erfolgreich war. Denn 2011 wurde die weibliche Genitalverstümmelung in Irakisch-Kurdistan per Gesetz verboten. Und auch über die Grenzen des Irak hinaus hatte die Kampagne eine große Wirkung. Wir haben heute Partner im Iran, in Malaysia, in Indonesien und im Oman, die alle dafür kämpfen, dass international endlich anerkannt wird, dass mindestens so viele Frauen und Mädchen in Asien von Genitalverstümmelung betroffen sind, wie in Afrika.  

Wie seid ihr auf das Problem aufmerksam geworden?

Wir sind auf das Thema eigentlich per Zufall gestoßen. Lokale Mitarbeiterinnen von uns hatten mobile Teams, die Flüchtlingen geholfen haben, die aus dem Zentralirak gekommen sind. Nach Monaten hat sich dann ein Vertrauensverhältnis zu diesen Menschen aufgebaut. Und dann haben Frauen aus den Dörfern berichtet, dass sie ein Problem mit der Genitalverstümmelung haben und gefragt, was man dagegen tun kann. Wir waren völlig überrascht, denn davon hatte vorher nie irgendjemand geredet. Es war ein absolutes Tabuthema. Und als wir dann davon erfahren haben, haben wir entschieden, dass etwas dagegen getan werden muss.

Nämlich?

Unsere Kampagne hatte zwei Stoßrichtungen. Zunächst war es wichtig das Problem international bekannt zu machen. Denn es hieß immer, dass die weibliche Genitalverstümmelung ein afrikanisches Problem sei. Wir haben uns dann an Medien und andere Organisationen gewendet und mussten natürlich Zahlen vorlegen. Dazu haben wir zwei relativ große Felduntersuchungen durchgeführt, in denen tausende von Frauen befragt worden sind. Die Ergebnisse waren drastisch: In einigen Regionen in Irakisch-Kurdistan waren mindestens 80 Prozent der Frauen und Mädchen genitalverstümmelt

Zeitgleich haben wir die StopFGMKurdistan gestartet, die mit Aufklärungsarbeit vor Ort angefangen hat. Es wurde ein Film gedreht und unsere Mitarbeiterinnen sind in Dörfer gefahren, um mit den Frauen über die negativen Auswirkungen der Genitalverstümmelung zu reden. Neben einer Medienkampagne haben wir dann Unterschriftensammlungen durchgeführt, bei denen 30.000 Unterschriften zusammenkamen. Diese haben wir dem Parlament übergeben und ein gesetzliches Verbot der Genitalverstümmelung gefordert.

Welche Reaktionen gab es in der Öffentlichkeit auf eure Kampagne?

Weibliche Genitalverstümmelung war damals natürlich ein absolutes Tabuthema. Am Anfang hat die Regierung geleugnet, dass es dieses Problem gibt. Aber auf lokaler Ebene gab es dann durchaus Medien, andere Organisationen und Politiker, die uns unterstützt haben. Auf internationaler Ebene hat es sieben Jahre gedauert, bis die UN und Unicef anerkannt haben, dass das Problem auch in Asien besteht. 

Die Unicef hat sich lange geweigert, da sie sich nicht damit auseinandersetzen wollten. 2010 gab es dann einen Erfolg, als sich Human Rights Watch dem Thema angenommen hatte und es in einem Report vorstellte. Das war ein Durchbruch, denn Human Rights Watch hat eine gewisse Autorität.

Wie haben religiöse Gruppierungen darauf reagiert?

Eigentlich ist es so: Innerhalb der sunnitischen Rechtsschulen sind die Schafiiten diejenigen, die sagen, dass Beschneidung von Jungen und Mädchen obligatorisch sei. Überall wo die schafiitische Rechtsschule dominant ist, also in Gegenden in Irakisch-Kurdistan, Ägypten, Somalia und Indonesien, hat man wahnsinnig hohe Zahlen von verstümmelten Mädchen. Und natürlich wurde unsere Kampagne von Klerikern und dem islamischen Etablishment nicht gerade begeistert aufgenommen. Ganz im Gegenteil: Sie haben sich dagegen gestellt und versucht uns zu denunzieren. Zugleich gab es einen Teil an Mullahs, die das Anliegen unterstützt haben. Es war also keine Einheitsfront gegen die da angekämpft werden musste.

Zu eurem Engagement gehört auch die Stärkung von Frauen und Mädchen in der Region. Wie sieht das konkret aus?

Was wir seit 20 Jahren machen, ist eine relativ große Alphabetisierungskampagne. Zwischen 20.000 und 25.000 Frauen sind durch Kurse gelaufen, damit sie später in die Schule gehen konnten. Und natürlich ist das auch eng mit dem Kampf gegen "Ehrtötung", Zwangsverheiratung, Genitalverstümmelung und andere Formen von Gewalt gegen Frauen verbunden. 

Kinder, Jugendliche und Frauen sind natürlich ein Hauptfokus von uns, weil sie am meisten unter den gesellschaftlichen Verhältnissen leiden. In der Regel sind es auch diejenigen, die am offensten für Veränderungen sind. Wir betrachten unsere Arbeit allerdings nicht so sehr als reine Frauenrechtssache, denn es sind nicht nur 50 Prozent der Gesellschaft, die von diesen Problemen betroffen sind. Letztlich geht es uns immer um Fragen von positiver gesellschaftlicher Veränderung und um Rechte, die alle Menschen haben.

Habt ihr momentan einen Schwerpunkt bei euren Tätigkeiten?

Im Augenblick haben wir einen großen Schwerpunkt auf der Betreuung von jesidischen Mädchen, die als Sexsklavinnen vom Islamischen Staat missbraucht worden sind, nachdem dieser 2014 das Sindschar-Gebirge überrollt hat. Was diese Mädchen durchgemacht haben, ist jenseits der Beschreibbarkeit und die Betreuung von ihnen ist sehr zeitintensiv und eine große Herausforderung. Dazu gehört zum einen die mobile Hilfe in den Flüchtlingslagern und Ersthilfe, wenn sie zurück kommen. Zum anderen haben wir ein Zentrum errichtet, das inzwischen eine selbstständige Organisation geworden ist. Dort werden Mädchen für zwei oder drei Wochen aus den Flüchtlingslagern hingefahren und es gibt für sie unterschiedliche Workshops und Ausbildungen, gemeinsames Kochen und sie bekommen eine psychologische Betreuung. Die Grundidee dahinter ist, dass es eine Möglichkeit gibt, eine schöne Zeit in sicherer Umgebung zu verbringen und recht frei mit anderen Betroffenen kommunizieren zu können. In den letzten zweieinhalb Jahren konnten wir auf diese Art und Weise deutlich mehr als 600 Mädchen betreuen.

Zudem arbeiten wir momentan auch sehr viel mit Binnenvertriebenen aus anderen Teilen des Irak und Flüchtlingen aus Syrien, die wir ganz gezielt in andere Projekte einbinden wollen. Es geht dabei auch immer um die Frage nach dem Status all dieser Leute. Wir leisten also nicht nur Nothilfe, sondern wollen auch einen Beitrag zur Integration leisten – auch in Deutschland. 

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Hilfe für Geflüchtete in Dahok, Foto: © Wadi e.V. 

Inwiefern spielt Religion eine Rolle für die Arbeit von WADI? 

Bei WADI gibt es Mitarbeiter, die Atheisten sind und Mitarbeiter, die religiös sind. Aber Religion ist bei uns allen Privatsache und die Leute wissen, dass es uns letztlich darum geht, für Verhältnisse einzutreten, in denen Religion als Privatsache angesehen wird. Das erzeugt bei vielen positive Resonanzen, führt natürlich aber auch zu Konflikten, wie es bei unserer Kampagne gegen Genitalverstümmelung sichtbar wurde. Denn generell stehen wir für die Idee ein, dass Gesetze vom Parlament verabschiedet werden und nicht von einem Gott vorgesetzt werden, wie es sich die Islamisten vorstellen.

Herzlichen Dank für das Interview und weiterhin viel Erfolg bei Ihrem Engagement!


Weitere Informationen zum 25-jährigen Jubiläum von WADI unter: 25jahre.wadi-online.de