Mit 60 bis 65 Gästen war Frankfurts "Club Voltaire" gut gefüllt. Zur Lesung von Peter Menne und Reiner Diederich auf Einladung von KunstGesellschaft und Business Crime Control im Rahmen der GegenBuchMasse waren auch Interessierte gekommen, die man dort kaum erwartet hätte.
Rainer Werner Fassbinders Drama "Der Müll, die Stadt und der Tod" nahmen die beiden Referenten zum Anlass, um über Antisemitismus heute zu sprechen. Darum drehte sich auch die Diskussion. "Projektion" und "Ablenkung" waren dabei die entscheidenden Stichworte. Wie beides funktioniert, wurde auf drei Ebenen nachgezeichnet: Im Drama selbst, in dessen Rezeption und in seiner Vorgeschichte. Im Drama wird der Mechanismus mit den Mitteln des Theaters komprimiert dargestellt.
Auf die Juden wurde seit dem Mittelalter das Negative an der Geldwirtschaft projiziert. Sie seien schuld an Spekulation, überhöhten Zinsen und ganz allgemein an der Herrschaft des Tauschwerts (Geld) über den Gebrauchswert (den Nutzen eines Produkts für die Befriedigung von Bedürfnissen). Damit wird abgelenkt von den systemischen Zusammenhängen einer Marktwirtschaft. Aus einer eher emotionalen, nicht aufgeklärten Kritik am Marktgeschehen können so antisemitische Ressentiments entstehen und befördert werden. Diese Ablenkung funktioniert auch heute noch.
In der deutschen Rezeption von Fassbinders Stück wiederholte sich zum Teil diese Projektion, denn konservative Kritiker unterstellten gerne, dass Antikapitalisten eigentlich Antisemiten seien. Hitlerbiograph und FAZ-Herausgeber Joachim Fest behauptete gar, die linke Szene betrachte Antisemitismus als Mittel zur Weltrevolution.
Am Beispiel der Umstrukturierung des Frankfurter Westends vom Wohngebiet zum Bürostandort, die den zeitgeschichtlichen Hintergrund von Fassbinders Stück bildete, stellte Peter Menne dar, welchen Realitätsgehalt die Behauptung hatte, „jüdische Spekulanten“ hätten dabei die Hauptrolle gespielt. Das Stadtplanungsamt wollte Hochhäuser statt einer Renovierung von Gründerzeitbauten. Eine breite und disparate Investorenschar erfüllte die Wünsche des Planungsdezernenten Hans Kampffmeyer, von Ärzten und Anwälten über mittlere und höhere Beamte bis hin zu Pensionären. Die "Spekulanten" geschimpften Immobiliendevelopper dominierten zwar die Schlußphase – doch besaßen sie gerade mal 15 % der Fläche. Über die mit 10 % der Fläche zweitgrößte Investorengruppe der Versicherungen sprach niemand: keine Angriffe gegen sie. Den Einzelkaufleuten hingegen wurde teils sogar eine Religionszugehörigkeit angedichtet: der muslimische Perser Ali Selmi wurde als Jude beschimpft.
Die Wirklichkeit ist komplex: deren Analyse vielen zu mühselig in einer als ungerecht empfundenen Welt. Einzelne "Sündenböcke" böten da eher eine emotionale Entlastung, so die These von Peter Menne.
Das Verhältnis von Antisemitismus und Kapitalkritik war Gegenstand des Beitrags von Reiner Diederich. Er bezog sich auf Max Horkheimer, der "in den 1930er Jahren gesagt hat, dass wer vom Faschismus reden wolle, vom Kapitalismus nicht schweigen dürfe. Analog ließe sich heute dazu sagen: wer über Antisemitismus und Fremdenhass reden will, darf über die realen Macht- und Abhängigkeitsverhältnise in Wirtschaft und Gesellschaft nicht schweigen". Diederich zeigte auf, wie mit Hitlers angeblichem "nationalen Sozialismus" Symbole der Arbeiterbewegung umfunktioniert wurden. Aber die "beinahe sozialistisch klingenden" Forderungen des NS-Parteiprogramms wurden ausschließlich auf "jüdisches Kapital" bezogen. Die Nazis verschleierten ökonomische Differenzen, indem sie behaupteten, es seien ethnische.
Diederich zitierte aus dem Interview, das er im letzten Jahr mit Michel Friedman geführt hat – vor dem Symposium der KunstGesellschaft zum 30. Jahrestag der Bühnenbesetzung im Frankfurter Schauspiel, mit der die Uraufführung von Fassbinders Stück verhindert wurde. Es ist in dem von ihm und Peter Menne herausgegebenen Buch abgedruckt. Weiter referierte er die Position von Birgit Seemann aus ihrem Buchbeitrag. Sie kritisierte, dass es Fassbinder an Empathie für die Opfer der Shoa gefehlt habe. Anders als bei seinem Engagement für Randgruppen wie Prostituierte, Schwule oder Gastarbeiter fehle ihm Verständnis für die Position von Juden im Nachkriegsdeutschland.
Friedman stellte fest, dass antisemitische Positionen – in allen Schichten der Gesellschaft! – heute wieder ganz offen geäußert werden. Daneben stehen sehr sublime Formen, wie sie Diederich unter Bezug auf Armin Pfahl-Traughbers im Buch enthaltene vergleichende Übersicht aufzeigte: "Da Antisemitismus in der Bundesrepublik Deutschland offiziell tabuiert ist und strafrechtlich verfolgt werden kann, bedienen sich Rechtspopulisten wie Jürgen Elsässer und die NPD vielerlei Anspielungen und Kodierungen."
In der Diskussion wurde beklagt, dass es trotz 60 Jahren politischer Bildung nicht gelungen ist, antisemitische Stereotype und Ressentiments, die in der einen oder anderen Form bei über der Hälfte der deutschen Bevölkerung zu beobachten sind, entscheidend zurückzudrängen. Dass dies nötig bleibe, darüber waren sich alle einig – doch mit welchen politischen und pädagogischen Maßnahmen es gelingen kann: da bleibt weitere Diskussion notwendig.
Diederich, Reiner / Menne, Peter (Hrsg.): Der Müll, die Stadt und der Skandal, Nomen-Verlag,168 Seiten, ISBN: 978-3-939816-26-3, 14,90 Euro
Das Buch gibt es auch bei unseren Partner Denkladen.
1 Kommentar
Kommentare
little Louis am Permanenter Link
Zu:
"In der Diskussion wurde beklagt, dass es trotz 60 Jahren politischer Bildung nicht gelungen ist, antisemitische Stereotype und Ressentiments, die in der einen oder anderen Form bei über der Hälfte der deutschen Bevölkerung zu beobachten sind, entscheidend zurückzudrängen..."
(Zitatende)
Ich vermute, dass es sich bei den 50% „Antisemiten“ nur zu einem kleineren Teil um echte biologische "Rassisten" handelt, und dass ein größerer Anteil der fünzig Prozent nichts weiter darstellt, als so etwas Ähnliches wie die Ressentiments der Bayern gegen "die Preußen" oder der "Preußen" gegen "die Schwaben" oder „Der Deutschen gegen „die Spaghettifresser“ usw.
Man sollte ,gerade auch unter Humanisten , um der Redlichkeit willen polemische Übertreibungen vermeiden.
Zudem ist es für kritische Beobachter schon seit Jahrzehnten offensichtlich, dass versucht wird, Kapitalismuskritik mit unbelegten Verweisen auf Antisemitismus zu bekämpfen. Dass die Shoa- Opfer für einseitige politische Polemiken instrumentalisiert werden, lässt eventuell zumindest einen Teil davon im Grab rotieren.
Und wenn man (mit Friedemann) der Meinung ist, dass heute antisemitische Positionen trotz drohender Stafverfolgung in allen Schichten der Gesellschaft wieder ganz offen geäußert werden (können), stellt sich die Frage, warum sich Rechtspopulisten dann (angeblich) durch Anspielungen und Kodierungen tarnen (oder tarnen müssen)
Solch teilweise widersprüchliche Argumentation ist für „neutralere“ Rezipienten nicht gerade überzeugend.