Aktuelle Studien zeigen, dass vermehrt in den sozialen Medien gegen Juden gehetzt wird. Das hat auch mit der Corona-Pandemie zu tun.
Die Welt entwickelt sich in fast allen Lebensbereichen rasant. Das Wissen ist in den letzten 20, 30 Jahren exponentiell gewachsen, nicht zuletzt dank Wissenschaften und Internet.
Und was ist mit uns, den Menschen? Nutzen wir die Erkenntnisse aus den Geisteswissenschaften, der Geschichte, der Politik, der Kultur? Schaffen wir es, die Welt wirtlicher und menschlicher zu machen? Werden wir toleranter, sorgen wir für mehr Gerechtigkeit?
Ein Blick auf den aktuellen Zustand der Welt und die Menschheit lässt Zweifel aufkommen. Eine neue Untersuchung in Sachen Antisemitismus nährt diese Zweifel.
Das hauptsächliche Resultat: Die Diskriminierung von Juden nimmt in der Schweiz zu. Viele fühlen sich bedroht. Bei uns offenbar sogar mehr als in anderen europäischen Staaten. Was läuft hier schief?
Konkret: Rund die Hälfte der befragten Jüdinnen und Juden gaben an, in den letzten fünf Jahren im Alltag oder online aufgrund ihres Glaubens belästigt oder diskriminiert worden zu sein. Fast drei Viertel von ihnen sagten, dass der Antisemitismus ein zunehmendes Problem darstelle.
Antisemitismus in der Mitte der Gesellschaft
Dirk Baier, Leiter des Instituts für Delinquenz und Kriminalprävention an der Zürcher Hochschule Angewandter Wissenschaften, dazu: "Diese Zahlen zeigen deutlich, dass Antisemitismus in der Schweiz existiert und den Alltag der hier lebenden Jüdinnen und Juden prägt." Sein Institut hat die Studie durchgeführt und befragte 487 Personen.
Der Antisemitismus grassiert vor allem im Internet wie nie zuvor. Fast 90 Prozent der befragten Juden gaben an, dass vorwiegend in den sozialen Medien gegen sie gehetzt werde. Es geht vor allem um Bedrohungen und Beleidigungen. Physische Gewalt erlebten aber die wenigsten. Tätliche Übergriffe bekamen ausschließlich Vertreter des strengen orthodoxen Glaubens zu spüren, die anhand ihrer Kleider zu erkennen sind.
Diskriminierung erfuhren die befragten Personen besonders an Schulen und Hochschulen, am Arbeitsplatz und bei der Wohnungssuche. "Der Antisemitismus kommt offenbar aus der Mitte der Gesellschaft", sagt Kriminologe Baier laut Tages-Anzeiger. Das sei anders als in Deutschland oder Frankreich, wo viele Täter einen muslimischen beziehungsweise rechts- oder linksextremen Hintergrund hätten.
Eine andere Studie, die kürzlich veröffentlicht wurde, bestätigt diese Resultate indirekt. Sie ergab, dass während der Corona-Pandemie eine Welle des Antisemitismus über die Welt hereingebrochen ist.
Die Studie des Kantor-Zentrums für das Studium zeitgenössischen europäischen Judentums der Universität Tel Aviv stützt sich auf Hunderte von Berichten aus aller Welt, wie das Onlineportal Audiatur schreibt. Die Untersuchung zeigt ebenfalls, dass die Corona-Pandemie den Antisemitismus vor allem in sozialen Mediennetzwerken verschärft hat.
Stereotyp: Juden haben Jesus gekreuzigt
Der Tenor dabei: Juden hätten die Krankheit entweder verursacht oder profitierten davon. In christlich geprägten Milieus kursiert dagegen die antisemitische Ansicht, Juden hätten sich mit dem Virus infiziert, weil sie Jesus nicht als Sohn Gottes anerkennen würden und ihn gekreuzigt hätten. Ein weiteres Stereotyp: Sie würden das Virus verbreiten und damit versuchen, die Welt zu erobern.
Der Antisemitismus hat vor allem religiöse Wurzeln und geht unter anderem auf Paulus zurück: "Die Juden haben sogar Jesus, den Herrn, und die Propheten getötet; auch uns haben sie verfolgt. Sie missfallen Gott und sind Feinde aller Menschen; sie hindern uns daran, den Heiden das Evangelium zu verkünden und ihnen das Heil zu bringen. Dadurch machen sie unablässig das Maß ihrer Sünden voll. Aber der ganze Zorn ist schon über sie gekommen." (1 Thess. 2; 14–16).
Im Lauf der Geschichte lösten aber politische Motive die religiösen weitgehend ab. In den letzten rund 100 Jahren nährten und nutzten Rechtsradikale und Verschwörungstheoretiker den Antisemitismus, um Juden zu stigmatisieren und attackieren.
Juden als angebliche Drahtzieher der geheimen Weltregierung
Diese behaupten, Juden wären Drahtzieher bei der Bildung einer geheimen Weltregierung, um die Menschheit zu unterjochen. Höhepunkt dieser hirnrissigen Behauptung war die Ermordung von sechs Millionen Juden im Zweiten Weltkrieg.
Der Antisemitismus blüht regelmäßig in Krisenzeiten auf. Wenn die Leute verunsichert sind und Angst haben, kriechen die Antisemiten aus den braunen Löchern, wittern Morgenluft und starten den Propaganda-Feldzug.
Dass dieses Phänomen auch heute noch so reibungslos funktioniert, ist ein trauriges Zeichen für den geistigen Zustand breiter Bevölkerungskreise. Nicht nur in der Schweiz.
Übernahme mit freundlicher Genehmigung von watson.ch.
10 Kommentare
Kommentare
Gerhard Baierlein am Permanenter Link
Traurig aber wahr, dennoch muss ich sagen, ohne Glauben an irgendeine Religion gäbe es diese Probleme nicht.
SG aus E am Permanenter Link
Sehr geehrter Herr Baierlein, ich widerspreche Ihnen nur ungern, doch bitte ich zu bedenken: Der (neuzeitliche) Antisemitismus ist ein Kind der Aufklärung und gründet nicht auf Religion.
Gerhard Baierlein am Permanenter Link
Antisemitismus ist primär eine Menschenverachtende Gesinnung, aus welchen Gründen auch immer. Das der Grundstein dafür in der BRD von den Kirchen und den Nationalsozialisten
A.S. am Permanenter Link
Ich betrachte es als normal (=instinktives Verhalten der Menschen), dass in Krisenzeiten die Individuen die Zugehörigkeit zu einer starken Gruppe suchen, die ihnen als Teil des Kollektivs Schutz bietet.
Ich wage die steile These, dass der Antisemitismus in Gesellschaften mit jüdischen Minderheiten Ursachen hat, die auf allgemeine menschliche Herden-Instinkte rückführbar sind und in Krisenzeiten sich besonders bemerkbar machen.
SG aus E am Permanenter Link
Auf die Idee, Juden als 'Außenseiter' zu betrachten, muss man erst einmal kommen.
Wikipedia schreibt zu politischen System der Schweiz: „Die Politik der Schweiz ist durch das Selbstverständnis als Willensnation geprägt – die nationale Identität basiert nicht auf einer gemeinsamen Sprache und Kultur, sondern unter anderem auf der gemeinsamen Geschichte, gemeinsamen Mythen, der freiheitlichen, basisdemokratischen und föderalistischen Tradition ...” → https://de.wikipedia.org/wiki/Schweiz#Politik
Abgesehen davon ist es weder 'normal' noch erstrebenswert, einfach 'den Instinkten' zu folgen. So kann Gesellschaft nicht funktionieren.
A.S. am Permanenter Link
Sehr geehrter SG aus E,
wir kommen an unseren Instinkten nicht vorbei. Da hilft keine Religion, keine Ideologie, keine Erziehung, keine Verdrängung, kein Nicht-wahr-haben-Wollen.
"Außenseiter" ist, wer entweder von anderen zum Außenseiter gemacht wird (Ausgrenzung/Diskriminierung) oder sich selbst durch Absonderung und spezielle Gepflogenheiten zum Außenseiter macht.
Die ganze Diskriminierungsdiskussion ist unvollständig, wenn die selbstgewählte Absonderung nicht auch betrachtet wird. Man kann sich auch selbst diskriminieren.
In einer freiheitlichen Gesellschaft besteht selbstverständlich auch das Recht zur Selbstdiskriminierung. Wer das aber tut, soll sich nicht wegen Diskriminierung durch andere beschweren.
Ich denke schon, dass es einen Unterschied macht, ob Menschen nur von Dritten diskminiert werden, ohne eigene Absonderungsbestrebungen, oder ob sie auch Selbstdiskriminierung betreiben.
Problematisch halte ich die Multikulti-Politik dahingehend, dass sie ausdrücklich zugewanderte Menschengruppen zur Selbstdiskriminierung auffordert.
SG aus E am Permanenter Link
Sehr geehrte/r A.S.,
gegen instinktgetriebenes Verhalten haben wir Grundgesetz, StGB und andere Gesetze und Verordnungen. Ich sehe keinen Diskussionsbedarf. Sorry.
Zu Absonderung und Selbstdiskriminierung:
Welche 'speziellen Gepflogenheiten' meinen Sie denn? Und warum sollten diese Diskriminierung begründen? Ehrlich gesagt, mag ich diese Art Diskussion gar nicht, denn sie basiert auf Klischees und Zuschreibungen – den ersten Schritten zu vorurteilsbeladenem Denken und gruppenbezogener Diskriminierung. Darum nur soviel:
Ich verstehe nicht, warum es O.K. sein soll, Hut, Baseballkappe oder keine Kopfbedeckung zu tragen – aber verwerflich, Hut, Kippa, Baseballkappe oder keine Kopfbedeckung zu tragen.
Ich weiß auch keinen Grund, warum eine Gesellschaft mit Menschen, die kein Fleisch oder keinen Fisch zu essen, gut zurechtkommt – der Verzicht auf Schweinefleisch und Sahnesoße aber verwerflich sein soll. Hier werden Unterschiede menschlichen Verhaltens mal nivelliert, mal problematisiert. Sachliche Gründe dafür kann ich nicht erkennen. In der schier unübersehbaren Menge an Lebensentwürfen in Europa fallen jüdische Traditionen m.E. nicht besonders aus dem Rahmen.
Den Bezug Antisemitismus – Zuwanderung halte ich für besonders daneben. Jüdisches Leben gibt es im deutschsprachigen Raum seit der Römerzeit, mindestens seit tausend Jahren. Ich bin kein Freund der Rede von der sog. christlich-jüdischen Kultur Europas (weil sie oft dazu benutzt wird, die Muslime auszugrenzen) – aber in diesem Zusammenhang kann man doch darauf hinweisen, dass Juden in Europa seit Menschengedenken dazugehören. Leider ist es auch Aufklärung und Humanismus bisher nicht gelungen, mit uralten Vorurteilen und völkischem Denken aufzuräumen.
Hans Trutnau am Permanenter Link
"Das hat auch mit der Corona-Pandemie zu tun" - Kausalität oder bloße Korrelation?
Das hat dann tatsächlich Anzeichen von Kausalität, zumindest indirekt.
M. Landau am Permanenter Link
>>"Der Antisemitismus kommt offenbar aus der Mitte der Gesellschaft"
Das Wörtchen "offenbar" könnte man auch weglassen, denn all das ist nicht neu und vor allem kommt Antisemitismus dort vor oder her, wo so manche ihn gar nicht sehen wollen oder können oder beides...
Dan Diner vor 18 Jahren:
https://www.welt.de/print-welt/article394615/Es-redet-aus-ihnen-heraus.html
Es heißt zwar, dass nichts so alt ist wie die Zeitung von gestern, aber das ist hier außer Kraft gesetzt, weil es jeden Tag aufs neue "passiert".
BixBolden am Permanenter Link
Persönliche Beobachtungen in Schweizer Ferienorten St. Moritz, Davos und Celerina.