Rezension

Der Dschihadismus in Europa

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Der Dschihadismus insbesondere in Europa ist das Thema in Hugo Micherons neuer Monographie. "Der Zorn und das Vergessen" ist aber eher beschreibend als Entwicklungsgeschichte konzipiert, analytische Kommentierungen fehlen häufig.

Wie hat sich der Dschihadismus in den letzten Jahrzehnten entwickelt? Welche Besonderheiten waren ihm bei Ebbe, welche bei Flut eigen? Antworten auf diese Fragen will Hugo Micheron in einer umfangreichen Monographie geben. Sie trägt "Der Zorn und das Vergessen" als Titel und "Die Demokratien angesichts des europäischen Dschihadismus" als Untertitel. Ersterer wirkt ein wenig literarisch, darunter kann man sich kaum etwas vorstellen. Die Absichten der Betitelung sind auch nicht richtig nachvollziehbar, der Verfasser und der Verlag haben sich gleichwohl dafür entschieden. Der Autor ist kein Historiker, sondern Politikwissenschaftler, er schreibt aber eher wie ein Historiker. Denn sein Buch folgt keiner grundlegenden Fragestellung, es liefert eher eine Darstellung der gemeinten Entwicklung. Dazu wertete Micheron sowohl Primär- wie Sekundärliteratur aus, auch Archivmaterial und Interviews gehörten zu seinen Quellen. Aus den Erkenntnissen entstand dann seine umfangreiche Monographie.

Cover

Der Autor ist Dozent am Institut d'Études Politiques in Paris und Forscher am Centre de Recherches Intenationales – Sciences-Po (CNRS). Außerdem lehrte er an der Abteilung für Nahoststudien der Princeton University. All dies spricht für seinen Expertenstatus. Außerdem wurde das genannte Buch mit dem "Prix du Livre de Géopolitique 2023" ausgezeichnet. Und darüber hinaus war von "einer bemerkenswerten und bahnbrechenden Geschichte des europäischen Dschihadismus" (L'Express) und einem "faszinierenden, präzisen und vollständig dokumentierten Essay über die schrittweise Verwurzelung des Dschihadismus" (Le Figaro) die Rede. Derartige Auffassungen beziehen sich primär auf die Beschreibung, weniger auf eine Analyse mit Fragen nach Spezifika und Ursachen. Insofern sei die Erwartungshaltung von interessierten Lesern nicht gar zu hoch geschraubt, womit die dem Buch eigenen Qualitäten nicht ignoriert werden sollen. Sie liegen indessen auf der bilanzierenden Darstellung, nicht in problemorientierten Einschätzungen.

Die Darstellung setzt in den 1990er Jahren ein, wobei zunächst Afghanistan in den Blick gerät. Ebendort entstanden seinerzeit jene Gruppierungen, die später Al-Qaida werden sollten. Der Autor blendet für diese Vorgeschichte andere aus, kann man doch eigentlich den damaligen Dschihadismus ohne den legalistischen Islamismus als dessen Vorgeschichte nicht verstehen. Da das Buch ohnehin eine sehr kleinteilige Gliederung hat, wären kurze Ausführungen etwa zur Muslimbruderschaft möglich gewesen. Demgegenüber konzentriert sich Micheron auf die gewaltorientierten Phänomene, hierbei auch immer wieder fixiert auf die europäischen Länder und den dortigen Untergrund. In dieser Blickrichtung besteht der besondere Erkenntnisgewinn durch die Monographie, wird doch auf Entwicklungen von "Londonistan" bis Molenbeek verwiesen. Auch hier bleibt der Autor meist auf einer allgemeinen Ebene stehen, französische Banlieues kommen nur am Rande vor. Einschlägige Forschungen referiert Micheron nur in kurzer Zusammenfassung.

Gleichwohl findet man gelegentlich analytisch interessante Ausführungen, etwa zur Bedeutung der Golfstaaten, welche den Salafismus förderten. Auch die Auflösung von "Londonistan" ist ein Thema. Derartige Ausführungen münden aber nicht in problemorientierten Bilanzen und zugespitzten Einzeldeutungen. Indessen liefert der Autor für so etwas wichtige Orientierungspotentiale. Gleiches gilt für seine zutreffenden Bemerkungen, die auf die Digitalisierung der Szene bezogen ist. Aber häufig geht der Autor nicht in die Tiefe, springt doch die Darstellung gleich zum nächsten Punkt. Wer demnach eine Beschreibung einschlägiger Ereignisse wünscht, der ist mit dem Buch als Einführung gut beraten. Darüber hinaus macht der Autor auf die besondere Gefahrendimension auch und gerade in den europäischen Ländern aufmerksam, worin ein weiterer Pluspunkt der Veröffentlichung zu sehen ist. All dies geschieht ohne dramatisierende Hysterie, sondern im nüchternen Tonfall. Die Monographie kann auch als Weckruf verstanden werden.

Hugo Micheron, Der Zorn und das Vergessen. Die Demokratien angesichts des europäischen Dschihadismus, Gifkendorf 2025, Merlin-Verlag, 428 Seiten, 29,90 Euro

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