Zu einem politischen Skandal aus den 1950er Jahren

Entführungsopfer oder Landesverräter?

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Die Historiker Benjamin Carter Hett und Michael Wala legen mit "Otto John. Patriot oder Verräter" die Lebensbeschreibung des ersten Präsidenten des Bundesamtes für Verfassungsschutz vor, war dieser doch in die DDR verschwunden und wurde später als Landesverräter verurteilt. Auf Basis der bislang vorliegenden historischen Quellen machen die Autoren dabei deutlich, dass die Geschichte wohl nicht so einfach war, wie man damals und später meinte.

Nach 1949 wurden viele Behörden der noch jungen Bundesrepublik Deutschland von ehemaligen Nationalsozialisten geleitet. Eine Ausnahme bildete hier das Bundesamt für Verfassungsschutz, war doch Otto John dessen erster Präsident und kam aus dem Umfeld des Widerstandes. Doch 1954 tauchte er überraschend in der DDR auf und erklärte Erstaunliches auf Pressekonferenzen. Demnach ging John freiwillig in den SED-Staat, um seine Empörung über den wachsenden Einfluss von früheren NS-Funktionären auf den bundesdeutschen Staat zu artikulieren. Ein Jahr später, 1955, ging John verdeckt von Ost- nach West-Berlin zurück. Danach behauptete er, von DDR-Agenten entführt worden zu sein. Doch dies glaubte man ihm nicht. John wurde des Landesverrats angeklagt und zu vier Jahren Haft verurteilt. Bis zu seinem Tod 1997 bemühte er sich immer wieder um eine Rehabilitierung, allerdings ohne Erfolg. So endete einer der großen politischen Skandale aus den 1950er Jahren. Bis heute stellt sich aber die Frage: War John nun ein Entführungsopfer oder ein Verräter?

Auch darauf eine Antwort geben wollen Benjamin Carter Hett, Professor für Geschichte an der City University of New York, und Michael Wala, Professor für Nordamerikanische Geschichte an der Ruhr-Universität Bochum. Gemeinsam haben sie das Buch "Otto John. Patriot oder Verräter: Eine deutsche Biographie" geschrieben. Es arbeitet auch die von der DDR-Stasi gesammelten Unterlagen auf. Und genau auf diesem breiten Forschungsstand beruht die Lebensbeschreibung, womit sich bereits ein erster Vorzug verbindet. Die Autoren gehen historisch-chronologisch vor, wie man das bei einer Lebensbeschreibung nicht anders erwarten würde. Dabei fällt zunächst auf, dass Kindheit, Jugend und dem frühen Erwachsenenleben gerade mal zwei Seiten gewidmet werden. Dies irritiert ein wenig, wird doch später die Frage der besonderen Motive von John erörtert und dazu gehören dann doch auch Prägungen in diesen Lebensabschnitten. Dem folgend geht es um seine berufliche Entwicklung und dann auch schon um die frühe Nähe zum Widerstand.

Nach kurzen Ausführungen zur Zeit nach dem Ende des Krieges werden die Hintergründe für seine Ernennung zum Präsidenten des Bundesamtes für Verfassungsschutz und seine dort von fehlendem Durchsetzungsvermögen und wenigen Erfolgen geprägte Tätigkeit beschrieben. Ausgerechnet nach einer Gedenkfeier für die Widerständler des 20. Juli 1944 verschwand John 1954 in die DDR. Was dann geschah, wird besonders ausführlich anhand der historischen Quellen vermittelt. Dabei zeigt sich, dass John zu einem Spielball der östlichen Geheimdienste wurde. Es gab sowohl bei der DDR-Stasi wie beim sowjetischen KGB lange Verhöre. Er trat auch auf eingeübten Pressekonferenzen mit  politischen Statements auf. Dabei "kritisierte" John offiziell die einseitige Bindung der Bundesrepublik an die USA, die damit einhergehende "Remilitarisierung" und die "Wiederbelebung" des Nationalsozialismus. Das Buch endet dann mit den Schilderungen des Prozesses gegen ihn und seine lebenslangen vergeblichen Bemühungen um Rehabilitierung.

Die beiden Historiker haben eine gut recherchierte Lebensbeschreibung vorgelegt, wobei sie immer wieder zutreffend betonen, dass man Johns Handlungen im Kontext der damaligen Zeit sehen muss. Er war von den politischen Entwicklungen als ehemaliger Widerständler enttäuscht und wurde nach seiner Rückkehr als "doppelter Verräter" verleumdet. Gerade bei dem Prozess gegen ihn spielten diesbezügliche Ressentiments eine wichtige Rolle. Da sowohl die Akten in amerikanischen wie russischen Geheimdienstarchiven über John bis heute geschlossen und die vorliegenden Zeitzeugenaussagen nicht widerspruchsfrei sind, lässt sich die zentrale Frage zu John "Entführungsopfer oder Landesverräter?" bis heute nicht eindeutig beantworten. Die beiden Autoren formulieren hier aber eine differenzierte Deutung. Demnach sei John freiwillig in die DDR gegangen, um dort mit den Mächtigen über politische Probleme zu sprechen. Dass man ihn dort festhalten und instrumentalisieren würde, habe er aus Naivität nicht vermutet. Insofern hätte er freigesprochen werden müssen.

Benjamin Carter Hett/Michael Wala, Otto John. Patriot oder Verräter: Eine deutsche Biographie, Hamburg 2019 (Rowohlt-Verlag), 411 S.