Rezension

Ein etwas zu apologetischer Sammelband über die Muslimbruderschaft

Der Religionswissenschaftler Wolfram Reiss hat mit "Aufstieg und Fall der ägyptischen Muslimbruderschaft 2011-2013" einen Sammelband mit drei längeren Abhandlungen herausgegeben. So informativ diese im Detail sind, so fehlt ihnen häufig genug eine wirklich kritische Distanz gegenüber den Muslimbrüdern.

Die Muslimbruderschaft kann als Mutterorganisation des heutigen Islamismus gelten: Nach ihrer Gründung 1928 agierte sie zunächst als eine Art Kulturorganisation, welche die islamische Lebensweise verbreiten wollte. Nach einigen Jahren kamen aber auch dezidierte politische Positionen hinzu. Sie liefen darauf hinaus, die autoritären Regime auf nationalistisch-säkularer Grundlage abzulösen.

Als Alternative sah die Muslimbruderschaft eine Theokratie an. Bezogen auf den islamistischen Kontext meint dies ein politisches System, das in der Deutung des Islam die Grundlage für die Gestaltung des Staates sieht. Damit gerieten deren Anhänger auch und gerade in Ägypten in Konflikt mit den erwähnten nationalistisch-säkularen Diktatoren von Nasser bis Mubarak, was eben auch mit Unterdrückung und Verfolgung verbunden war.

Der "Arabische Frühling" gab auch den Islamisten neue Entfaltungsmöglichkeiten: Bekanntlich wurde einer ihrer Anhänger, Mursi, zum Ministerpräsidenten gewählt, aber kurze Zeit später wieder gestürzt.

Die damit einhergehende Entwicklung der Muslimbruderschaft in Ägypten wollen die drei Autoren des von dem Religionswissenschaftler Wolfram Reiss herausgegebenen Sammelbandes "Aufstieg und Fall der ägyptischen Muslimbruderschaft 2011-2013" aus verschiedenen Blickwinkeln erörtern. Dabei geht es erklärtermaßen darum, die Anhänger und Protagonisten der Organisation auch als Opfer und nicht nur als Täter zu sehen. Nachvollziehbar ist dieses Anliegen durchaus, waren die Muslimbrüder doch eben auch Verfolgte.

Nach einer Einführung von Reiss geht der Nahost-Redakteur der "Frankfurter Allgemeinen Zeitung" Markus Bickel auf "Sisis starken Staat" als Entwicklungsergebnis von der Revolution zur Repression ein. Für ihn hat es dabei einen Austausch der Autokraten gegeben, wobei das Ergebnis eine Friedhofsruhe und kein Frühling gewesen sei. Der westliche Blick hatte diese Entwicklung trotz des Sturzes eines formal demokratisch gewählten Politikers wohlwollend betrachtet. Für Bickel ging Stabilität vor Demokratie.

Der zweite Beitrag stammt von der Assyriologin Martina Schmidl, die sich ausführlich mit der Gewalt gegen Islamisten am Beispiel eben der ägyptischen Muslimbruderschaft beschäftigt. Dabei greift die Autorin weit zurück bis auf die Gründung der Organisation und zeichnet deren Entwicklung bis in die Gegenwart nach. Dabei finden die Ereignisse während und nach dem "Arabischen Frühling" besonders großes Interesse.

Auffällig ist hier, dass die Entstehungs- und Entwicklungsgeschichte in all zu großer Anlehnung an die klassische Arbeit von Mitchell erfolgt, später geht die Autorin dann aber doch eigene Wege. Und schließlich gibt es als dritten und letzten Teil die englischsprachige Fassung einer ganzen Masterarbeit, die an der American University of Cairo in der Fakultät für Massenkommunikation von Aisha Essam El-Haddad eingereicht wurde. Darin geht es um das Bild von der Muslimbruderschaft in regierungsnahen und privaten Zeitungen. Mit ihrer Framinganalyse meint sie dort auf der Grundlage von vielen Fallbeispielen, eine "Islamistophobia" konstatieren zu können.

Die einzelnen Beiträge sind von großem Informationsgehalt geprägt. Es wird auch häufig eine andere Perspektive als die im Westen dominierende eingenommen. Gleichwohl bedingt keine Kritik am unfairen Umgang mit den Muslimbrüdern eine Apologie von deren Agieren und Positionen. Genau dies schlägt aber häufig genug direkt oder indirekt durch die Zeilen durch. Der Herausgeber Reiss hat dies auch gesehen, denn er bemerkt: "Manche werden dieses Buch möglicherweise als pro-islamistische Publikation von vornherein verurteilen" (S. 19). Man kann daraus neue Erkenntnisse gewinnen, gleichwohl handelt es sich aber in der Tat um einen eher pro-islamistischen, zumindest weitgehend unkritischen Sammelband. Über die letztgenannte Autorin schreibt der Herausgeber: "Sie ist die Tochter ... des ehemaligen außenpolitischen Hauptberaters Mursis sowie Schwester von ... dem glühenden Wahlkämpfer für die Partei der Muslimbrüder …" (S. 18). Da kann man sich dann auch nicht über den doch sehr einseitigen Einschlag von Darstellung und Deutung wundern.

Wolfram Reiss (Hrsg.), Aufstieg und Fall der ägyptischen Muslimbruderschaft 2011-2013, Marburg 2016 (Tectum-Verlag), 459 S., ISBN 978-3-8288-3678-5, 39,95 Euro