ROSTOCK. (mpg) Im goldenen Zeitalter der Ehe waren die Verhältnisse in Europa übersichtlich: Wer in den 1950er und 1960er Jahren ein Kind bekommen wollte, heiratete vorher. Heute dagegen sind in vielen Ländern mehr als die Hälfte der Geburten nichtehelich – Tendenz weiter steigend. Nur in Osteuropa zeigt sich ein entgegengesetzter Trend: Dort werden zunehmend mehr Kinder von verheirateten Paaren geboren. Eine Studie des Max-Planck-Instituts für demografische Forschung in Rostock hat diese Entwicklungen von 1910 bis in die Gegenwart analysiert.
Ob ein Paar vor der Geburt eines Kindes heiratet, kann von unterschiedlichen Faktoren abhängen: Es könnte ökonomisch sinnvoll sein, weil die Familienpolitik die Ehe belohnt und ein weniger oder gar nicht arbeitender Partner besser abgesichert ist. Daneben können religiöse Motive oder soziale Normen und Traditionen die Entscheidung beeinflussen. Und auch die Verfügbarkeit und Akzeptanz von Verhütungsmitteln kann einen Einfluss auf ungeplante nichteheliche Geburten haben.
Für die Hochphase der traditionellen Familie in der Mitte des 20. Jahrhunderts, als weit über 90 Prozent aller Geburten ehelich waren, kamen viele dieser Gründe zum Tragen. Außerehelich geborene Kinder hatten zu dieser Zeit – ebenso wie ihre Mütter – mit erheblichen Benachteiligungen zu rechnen. Die Dominanz ehelicher Geburten war in ganz Europa zu beobachten, stellte aber innerhalb der letzten 100 Jahre eine Ausnahmesituation dar, wie Sebastian Klüsener vom Max-Planck-Institut für demografische Forschung in einer aktuellen Studie zeigt.
Ausnahmen im Speckgürtel der Großstädte
Bereits 1970 nimmt die Bedeutung der Ehe langsam wieder ab, weil die Säkularisierung in vielen Ländern voranschreitet und Frauen vielerorts mehr wirtschaftliche Unabhängigkeit erlangen. Vorreiter dieser Entwicklung ist Nordeuropa: Schon 1990 hat sich dort der Anteil der nichtehelichen Geburten mehr als vervierfacht, während er in West- und Zentraleuropa erst ab 1980, und in Süd- und Osteuropa sogar erst nach 1990 deutlich zu steigen beginnt.
Doch während der Anstieg in Nordeuropa schon seinen Höhepunkt erreicht zu haben scheint, nimmt der Anteil in Westeuropa in den letzten Jahren weiter stark zu. In vielen Teilen Nord- und Westeuropas sind die nichtehelichen Geburten bereits zahlreicher als die ehelichen. Ein letzter Hort der traditionellen Familie scheinen in diesen Ländern Speckgürtel um Großstädte herum zu sein, wie Klüsener am Beispiel Dänemarks zeigt. Während in den innenstadtnahen Bereichen oft alternative Lebensstile vorherrschen, scheinen Speckgürtel mit der Nähe zu gut bezahlten Jobs in der Stadt und niedrigeren Hauspreisen Familien mit eher traditionellen Vorstellungen anzuziehen.
Rückläufiger Trend in Osteuropa
Eine interessante Ausnahme zu der allgemeinen Entwicklung stellt Osteuropa dar, das die Nicht-EU-Länder auf dem Gebiet der ehemaligen Sowjetunion umfasst. Dieser Teil Europas verzeichnete in den 1960er Jahren noch den höchsten Anteil an nichtehelichen Geburten, während er heute den niedrigsten hat. Zudem ist Osteuropa momentan die einzige europäische Region mit einem rückläufigen Trend. Klüsener nennt dafür mehrere mögliche Gründe: Die ökonomische Situation hat sich im Vergleich zu den 1990er Jahren deutlich verbessert. Hierdurch werden möglicherweise weniger Ehen aufgeschoben. Zudem sei Osteuropa eine der wenigen Regionen Europas, in der Religion an Bedeutung gewinne und eine Rückkehr zu alten Traditionen stattfinde. Letztgenannte schienen in Sowjetzeiten unter sehr starkem staatlichen Einfluss verschwunden zu sein.
Dass regionale Unterschiede beim Anteil der nichtehelichen Geburten in vielen europäischen Regionen über eine lange Zeit hinweg Bestand haben können, zeigt Sebastian Klüsener in seiner Studie mithilfe räumlicher Analyseverfahren. Skandinavien etwa verzeichnete bereits vor 100 Jahre einen sehr hohen Anteil an nichtehelichen Geburten. Auch die starken Ost-West-Unterschiede in Deutschland sind nicht ausschließlich auf die deutsche Teilung nach 1945 zurückzuführen, sondern waren durchaus schon vorher vorhanden.
Trotz dieser Unterschiede innerhalb und zwischen einzelnen Nationen geht Klüsener davon aus, dass sich die Verhältnisse innerhalb der Europäischen Union mit der Zeit weiter angleichen werden, solange der Prozess der zunehmenden europäischen Integration andauert. Die Unterschiede zwischen den Ländern der EU und den osteuropäischen Nicht-EU-Ländern könnten dagegen von längerer Dauer sein. (S.K.)