Ist Angela Merkel eine Kanzlerin der offenen Grenzen? Welche Gründe hatte die sogenannte Flüchtlingskrise wirklich? Thomas Osten-Sacken erklärt in einem Kommentar, warum die Flüchtlinge des Jahres 2015 vor allem Folge einer "desaströsen Außenpolitik" sind.
Da auch durch ständige Wiederholungen eine Aussage nicht richtiger wird, tut an dieser Stelle noch einmal ein kurzer Hinweis auf die Fakten der sogenannten Flüchtlingskrise in den Jahren 2013 bis 2016 not.
Zuallererst: Es ist keineswegs so, dass die Bundesregierung oder Angela Merkel 2015 eine Million Flüchtlinge "eingeladen" oder die Grenzen für sie geöffnet hätten. Der massive Zustrom war vielmehr die Folge einerseits des Krieges in Syrien und andererseits der Ausbreitung des IS. Beide Entwicklungen hatten die Europäer, allen voran die Deutschen, mit Nichtstun und hohlen Phrasen begleitet. Spätestens seit den Giftgasangriffen in Ghouta 2013 war allerdings jedem Syrer klar, dass sich niemand dem Iran oder Russland ernsthaft in den Weg stellen würde. Erst danach machten sich aus Syrien, der Türkei, dem Libanon und anderen Ländern Hunderttausende auf die Reise. Zeitgleich schaute man hierzulande auch weitgehend tatenlos zu, wie der Islamische Staat, jenes Amalgam aus Al-Qaida und ehemaligen irakischen Baathisten, sein Kalifat im Nahen Osten immer weiter ausdehnte.
Die erste massive Flüchtlingswelle kam ab 2014 in Italien an. Rom forderte damals bereits eine europäische Antwort und blitzte damit vor allem bei den Deutschen ab, die erklärten, Italien habe sich an die Dublin-Regeln zu halten, weswegen die Flüchtlinge auch einzig und allein Problem der italienischen Regierung seien. Derweil ließ die EU – wiederum allen voran die Bundesregierung – Erdogan hängen, während täglich Tausende von Syrern in die Türkei flohen. Dies ging so lange, bis dem Präsidenten in Ankara der Kragen platzte und er die Kontrollen an der Ägais de facto einstellen ließ, mit der Folge, dass nun Zehntausende von der Türkei nach Griechenland übersetzten. Athen, damals schon arg von der ökonomischen Krise gebeutelt, sollte sich, ähnlich wie Italien, um diese Flüchtlinge kümmern und sie sogar durchs Asylverfahren bringen, ohne dass genügend Kapazitäten oder Aufnahmeeinrichtungen vorhanden gewesen wären.
Bis in den Sommer 2015 hinein stellte sich die Bundesregierung stur. Weder bot sie den südlichen EU-Ländern nennenswerte Hilfe an noch unternahm sie irgendetwas, um in Syrien – etwa durch Einrichtung einer Flugverbotszone, wie von der syrischen Opposition seit 2012 gefordert – Menschen vor den Luftangriffen der syrischen und russischen Luftwaffe zu schützen.
Und so war spätestens im Juni 2015 jedem, der es wissen wollte, klar, dass die Lage explodieren würde. Was sie im September dann auch tat, als für einige Monate das gesamte, maßgeblich von Deutschland initiierte Fluchtabwehrsystem der vergangenen Jahrzehnte einfach kollabierte.
Die "Willkommenskultur" mit Luftballons an Bahnhöfen und dem ganzen Bohei mögen darüber hinwegtäuschen, aber in Wirklichkeit waren die Ereignisse des September 2015, die inzwischen kollektiv unter dem Label "Merkel hat die Flüchtlinge eingeladen" rezipiert und kritisiert werden, eine unmittelbare Folge der rigiden deutschen Asylpolitik, die zuvor jahrelang versucht hatte, den Südländern die Kosten der Flüchtlingskatastrophe aufzubürden.
Was dann folgte, war Improvisation. Die einzige Alternative hätte darin bestanden, die Grenzen zu schließen und auf die Flüchtlinge schießen zu lassen. Welche Diskussionen damals in Berlin geführt wurden und dass diese Option durchaus auf dem Tisch lag, kann man bei Robin Alexander nachlesen, der in seinem Buch "Die Getriebenen" zu dem Schluss kommt: "Die Grenze bleibt offen, nicht etwa, weil es Angela Merkel bewusst so entschieden hätte, oder sonst jemand in der Bundesregierung. Es findet sich in der entscheidenden Stunde schlicht niemand, der die Verantwortung für die Schließung übernehmen will."
Noch einmal: Hätte man 2012, als es noch einfach gewesen wäre, da von massiver russischer Präsenz noch nichts zu sehen war, Flugverbotszonen über Nord- und Südsyrien eingerichtet und 2013 nach den Giftgasangriffen nicht noch einen vermurksten Deal mit Assad abgeschlossen, sondern die ständig zitierten "Rote Linien" wirklich durchgesetzt – es wäre nur ein Bruchteil der Syrer überhaupt gekommen, die das ganze Dublin-System vor allem kollabieren ließen. Eine Kritik an der Politik der Bundesregierung müsste deshalb hier ansetzen: Die Flüchtlinge des Jahres 2015 sind vor allem Folge einer desaströsen Außenpolitik.
Der Kommentar ist im Original auf der Facebook-Seite von Thomas von der Osten-Sacken erschienen
9 Kommentare
Kommentare
Hans Trutnau am Permanenter Link
Schwacher Tag heute, hpd.
Francesca Paoletti am Permanenter Link
Der Artikel trifft den Nagel genau auf dem Kopf!
Helmut Lambert am Permanenter Link
Sehr einseitig. Dahinter steht offenbar der Wunsch, sich als Deutscher für alle Übel der Welt verantwortlich und schuldig zu fühlen.
Ich vermisse ein kritische Position zu den Rettern im Mittelmeer und ihre - ungewollte, aber faktisch unbestreitbare - Unterstützung der kriminellen Fluchthelferorganisationen.
David Z am Permanenter Link
"Die einzige Alternative hätte darin bestanden, die Grenzen zu schließen und auf die Flüchtlinge schießen zu lassen."
Mit einem solchen Satz vernichtet der Autor dann auch wirklich den letzten Rest von Seriosität, der in seiner erschreckend monokausalen Argumentation übrig geblieben ist.
Michael Haß am Permanenter Link
Thomas von der Osten-Sacken liegt genau richtig, aber angesichts des allgegenwärtigen (nicht nur) deutschen "Vulgärpazifismus" (Thea Dorn) lässt sich für die robuste Durchsetzung von Flugverbotszonen (auch n
Markus Schiele am Permanenter Link
"Spätestens seit den Giftgasangriffen in Ghouta 2013 war allerdings jedem Syrer klar, dass sich niemand dem Iran oder Russland ernsthaft in den Weg stellen würde."
What the f...? Auf dem hpd hätte ich eigentlich stärkere Analysen erwartet, als dass man wieder mal die ganze Misere "den bösem Russen" in die Schuhe schiebt. Die diversen Giftgasangriffe sind bis heute noch nicht wirklich aufgeklärt und es gibt immerhin Hinweise, dass sie Assad (der davon nur Nachteile gehabt hätte) von interessierter Seite angehängt wurden. (Obamas "rote Linien" wären hierfür natürlich eine Steilvorlage gewesen.) Und - es mag einem gefallen oder nicht - im Gegensatz zu den militärischen Einsätzen aller anderer Staaten in Syrien ist der russische als einziger völkerrechtskonform, da er auf Einladung Syriens erfolgt.
Eigentlich nervt es mich, dass ich ständig so unangenehme Typen wie Putin oder Assad (wahrlich keine Waisenknaben!) verteidigen muss, aber die westlichen Mainstream-Medien (und jetzt auch noch der hpd) berichten in diesem Bereich so undifferenziert, dass einem nichts anderes übrig bleibt.
Von einer desaströsen Außenpolitik lässt sich hingegen in der Tat reden: Zunächst von der US-amerikanischen, die einen völkerrechtswidrigen Konflikt nach dem anderen vom Zaun bricht. Die imperialen Kriege der USA haben seit dem Zweiten Weltkrieg laut offiziellen Dokumenten 20-30 Millionen Todesopfer gekostet. Was hört man von deutschen Regierungen und Leitmedien dazu?
"Von deutschem Boden soll nie wieder Krieg ausgehen" hieß es einmal so schön, aber unsere Regierung ist nicht einmal Willens und in der Lage den US-Stützpunkt Ramstein zu schließen, der als notwendige Relaisstation für den US-Drohnenkrieg gilt. Täglich fallen Unschuldige diesen Drohnenangriffe zum Opfer. Und selbst mutmaßliche Verbrecher ("Terroristen") dürften von "Rechtsstaaten" nicht ohne fairen Prozess verurteilt, geschweige denn getötet werden.
So (und natürlich durch die fortgesetzte aggressive Ausbeutung der "Entwicklungsländer", auch durch Staaten der EU) produziert man stets nur neue Terroristen und Flüchtlinge. So sieht desaströse Außenpolitik aus!
Fazit: Um es mal freundlich zu formulieren: Herrn Osten-Sackens Analyse greift eindeutig zu kurz.
Klemens am Permanenter Link
...und sie sind auch, unter anderem, das Ergebnis einer weltweiten, übermässigen Waffenproduktion, bei der auch Deutschland gewaltig mitmischt.
M. Berlandi am Permanenter Link
Da weiß man echt nicht, wo man anfangen soll. Die fehlerhafte Politik der Bundesrepublik im Rahmen der EU ist einigermaßen treffend beschrieben.
Lars Temme am Permanenter Link
Sehr geehrter Herr von der Osten-Sacken,
Sie haben recht: Die Flüchtlinge des Jahres 2015 waren vor allem Folge einer desaströsen Außenpolitik. Leider erweckt Ihre unvollständige Analyse durch Auslassungen und Einseitigkeiten aber den Eindruck, bloß einige der heute üblichen Feindbilder transportieren zu wollen.
Es stimmt noch, wenn Sie schreiben, dass die Bundesregierung die Südeuropäer und Türken, wie auch die weiteren Nachbarstaaten Syriens, mit dem Flüchtlingsproblem alleine gelassen hat. Wenn Sie allerdings die Verantwortung für die Flucht allein in der Nicht-Verhinderung der Einmischung Russlands und des Irans in den syrischen Bürgerkrieg sehen, frage ich mich, ob Sie auf einem Auge blind sind oder bewusst ein Feindbild schüren wollen. Der syrische Bürgerkrieg wurde von außen zunächst einmal ganz wesentlich durch die Einmischung von Saudi-Arabien, den USA, der Türkei und einiger weiterer Staaten vom Zaun gebrochen, von der amerikanischen Verantwortung für das Chaos im Nahen Osten durch den verbrecherischen Überfall auf den Irak ganz zu schweigen. Auch hier hat die europäische Außenpolitik komplett versagt, Möglichkeiten der Einflussnahme auf die genannten Länder geltend zu machen. Davon ist bei Ihnen keine Rede.
Stattdessen führen Sie als Fluchtursache die Giftgasangriffe von Ghouta 2013 an, deren Urheberschaft übrigens immer noch nicht geklärt ist, und behaupten allen Ernstes, erst danach "machten sich Hunderttausende auf die Reise". Man benötigt aber keine zwei Jahre, um von Syrien nach Europa zu reisen, auch nicht als Flüchtling. Der wahre Grund, warum ausgerechnet 2015 so viele Menschen nach Europa gereist sind, liegt in einem weiteren Versagen europäischer Außenpolitik: Dem Flüchtlingshilfswerk der Vereinten Nationen mangelte es 2015 an Geld, in den Flüchtlingslagern rund um Syrien auch nur die grundlegendsten Bedürfnisse wie Essen, Trinken und Hygiene zu garantieren. Erst DANN haben sich die Menschen aus purer Verzweiflung auf den Weg nach Europa gemacht. Das hat Angela Merkel im Kanzlerduell sogar von sich aus zugegeben. (Was gar nicht nötig gewesen wäre, da weder Herr Schulz noch die handzahmen Journalisten auf die Idee kamen, sie dafür zu kritisieren. Das haben sie mit Ihnen gemeinsam.) Sie hingegen verorten die Verantwortung für die Flucht einseitig bei einer der beteiligten Kriegsparteien, geradeso, als ob es keine weiteren in Syrien gäbe. Dabei sind übrigens auch wir, Deutschland: Die Bundeswehr liefert Aufklärung für Luftangriffe.
Apropos: Ihre Forderung nach einer Flugverbotszone über Syrien schließlich ist ungemein leichtfertig. Ich bin gerne bereit, die gute Absicht anzuerkennen, aber haben Sie einmal darüber nachgedacht, wie diese Flugverbotszone durchgesetzt werden sollte? Von der UN gäbe es dafür wohl kaum ein Mandat, ist Russland doch Vetomitglied im Sicherheitsrat. Wollen Sie, dass europäische oder amerikanische Kampfjets russische bekämpfen - auch auf die Gefahr eines dritten Weltkrieges hin? Und soll diese Flugverbotszone dann auch für Flugzeuge der Anti-IS-Koalition gelten? Wenn nicht, geht es Ihnen dann gar nicht um Zivilisten, sondern nur um Parteinahme in diesem Bürgerkrieg? Wenn Sie der europäischen Außenpolitik in dieser Angelegenheit Versagen vorwerfen, machen Sie es sich zu leicht. Und da nützt auch ein Verweis auf 2012 nichts, als "von massiver russischer Präsenz noch nichts zu sehen war". Warum hätte man dann damals eine Flugverbotszone fordern sollen?
Ich stimme mit Ihnen zwar darin überein, dass Angela Merkel für das Nichtschließen der Grenzen weder Lob noch Kritik gebühren - ohne zutiefst unmenschliches Handeln wären die Flüchtlinge nicht aufzuhalten gewesen. Aber Ihre einseitige Sichtweise auf die Fluchtursachen finde ich sehr erklärungsbedürftig.