Achtsamkeit und Selbstoptimierung

Fuck you, carpe diem!

Der dauererschöpfte Mensch ist zur Zielgruppe eines ganzen Wirtschaftszweiges geworden. Die Gestressten und Gehetzten konsumieren Selbsthilfeliteratur und buchen Achtsamkeits-Workshops, um ihre Beschwerden zu lindern. Mit Yoga, Entspannungsübungen und Meditation sollen sie wieder funktionstüchtig gemacht werden. Und die Achtsamkeitsindustrie boomt, Mindfulness ist ein Lifestyle-Produkt geworden. Ein Kommentar.

"Das Leben wartet darauf, dass du dich zeigst. Es wartet darauf, dass du losgehst." Diese Sätze stammen nicht aus einem Glückskeks, sondern von einer Motivationstrainerin, die ihre Schlauheiten auf YouTube kundtut. Das Video hat über 200.000 Klicks. Die sogenannte "Empowerment-Speakerin" erzählt dem selig dreinblickenden Publikum von einer Reise nach Bali (wohin auch sonst), und ihrer Suche nach Sinn. Den hat sie gefunden, immerhin schreibt sie nun Bestseller über Achtsamkeit und Heiterkeit, gibt Onlinekurse und produziert Podcasts. "Ich bin der Schöpfer meines Lebens", sagt die Influencerin und schwadroniert irgendetwas von "Indianern", die immer dann herhalten müssen, wenn es um Weisheit geht. Achtsamkeit bedeutet wohl nicht achtsam sprechen, Ethik scheint verzichtbar. Zum Schluss fordert sie ihre Zuschauer auf, "Bewusstsein ins Herz" zu pflanzen. Der Applaus ist schallend.

Ja, damit kann man Geld verdienen, sehr gut sogar, denn Mindfulness ist ein Lifestyle-Produkt geworden, das durch verschiedene Strömungen – esoterische und nicht esoterische – beeinflusst wird. Die Grenzen sind fließend, ungeachtet der Widersprüche, die sich daraus entwickeln.

Totalitarismus der Selbstoptimierung

Dass Mindfulness solch einen Hype entfacht, verwundert nicht. In unserer schnelllebigen Zeit fühlen sich zahlreiche Menschen gestresst und sehnen sich nach Tiefe und Entschleunigung. Manche haben Schlafstörungen, andere leiden unter Schmerzen. Und alle suchen irgendwie Hilfe. Wissenschaftliche Publikationen werden vorgelegt, Praktiken erarbeitet. Ein populäres Konzept zur Stressbewältigung geht auf den US-amerikanischen Molekularbiologen Jon Kabat-Zinn zurück, der in den 1970er Jahren seine "Achtsamkeitsbasierte Stressreduktion" entwickelte, kurz MBSR (Mindfulness-Based Stress Reduction). MBSR kommt ganz ohne Esoterik und Religion aus. Körperwahrnehmung, Meditation und Fokussierungsübungen stehen im Mittelpunkt. Dazu ein bisschen Yoga, ein wenig Zen. Daran ist auf den ersten Blick absolut nichts Schlechtes, aber ein zweiter Blick lohnt, denn Kritiker beklagen, dass durch diese Methode die buddhistische Praxis der Meditation samt den dazugehörigen Wertvorstellungen ad absurdum geführt würde.

Ihre Befürchtung ist berechtigt. Achtsamkeit ist zum Allheilmittel mutiert, und mittlerweile bedienen Speaker, Körpertrainer und Autoren ein riesiges Business-Modell, das sich die Bedürftigkeit vieler Menschen zunutze macht. Die vermeintlichen Experten verkaufen Hoffnung auf ein erfülltes Leben und streichen Gewinne in Millionenhöhe ein. Dabei hilft die monetarisierte Achtsamkeitslehre den Hilfesuchenden oft gar nicht. Im Gegenteil. Statt Stress zu reduzieren, führt Achtsamkeit häufig zu Stress, indem sie einen Totalitarismus der Selbstoptimierung erschafft. Ob Jon Kabat-Zinn das gewollt hat, ist zu bezweifeln. Heute werden Seminare, Ratgeberliteratur und Coachings gegen die alltägliche Belastung vertickt. Man rackert sich ab, um zu relaxen. Man übt das Atmen, um loszulassen. Und oft entsteht Frust, weil nichts klappt.

Allein in Deutschland gibt es über tausend zertifizierte Dozenten, die ihre Mitmenschen in Widerstandsfähigkeit und Entspannung coachen. Tendenz steigend, ein wachsender Markt, und etliche Krankenkassen übernehmen einen Teil der Kosten. Das Problem: Die Anti-Stress-Kurse sind auf Erfolg ausgerichtet, und somit bestätigen sie am Ende das System.

Quality Time oder das Leben ist kein Ponyhof

Achtsamkeit ist ein Megatrend geworden, spirituell entkernt und massentauglich simplifiziert. Regeln gibt es trotzdem; Entschleunigung wird zwar allerorts propagiert, aber faul auf dem Sofa rumgammeln kommt bei den Speakern und Influencern nicht gut an. Atmen, Yoga machen, Ratgeber lesen, joggen, kochen, authentisch sein, an sich glauben, meditieren, Bullet Journal schreiben, sich schön finden, Gedanken tanken. Der Tag muss genutzt werden, sonst ist er verloren, erst recht, wenn man nicht lächelt. Morgenroutine, Mittagsroutine, Abendroutine gehören selbstverständlich dazu, dann noch achtsam essen, achtsam gehen, achtsam gärtnern, achtsam scheißen, achtsam schlafen, achtsam krank sein.

Wer die Seele nicht regelmäßig putzt, ist nicht diszipliniert genug. Denn psychische Hygiene braucht jeder, der in unserer Hochleistungsgesellschaft bestehen will. Mindfulness und Neoliberalismus sind Geschwister. Die eigentlichen Ursachen für den Stress sind hingegen meistens irrelevant. Anstatt Arbeitsbedingungen kritisch zu beleuchten und artgerechte Verhältnisse zu installieren, richten die Unternehmen lieber betriebsinterne Fitnessstudios ein oder schicken ihre Leistungsträger in steuerlich absetzbare Achtsamkeitstrainingscamps. Wenn der Job schon jeglichen Sinn entbehrt, so soll er wenigstens lohnend ausgeglichen werden. Und das funktioniert am besten mit Work-Life-Balance und Quality Time. Diese zwei unsäglichen Begriffe sind aus dem ganzen Bewusstseinszirkus hervorgegangen. Sie schaffen eine Wertigkeit, denn sie suggerieren, dass Arbeit und Leben in Konkurrenz zueinander stehen, obwohl das Blödsinn ist.

Wer sich in seiner Work-Life-Balance eine effiziente Quality Time einräumt, hat verstanden, dass es eine gute Zeit und eine weniger gute Zeit gibt. Und überall dort, wo sich keine Harmonie einfindet, weil das Leben logischerweise nicht immer ein Ponyhof sein kann (und auch nicht sein muss), läuft etwas schief. Da soll nachgebessert werden. Unangenehme Gefühle werden outgesourct, sie stören die Quality Time.

Depressionen wegatmen

Work-Life-Balance und Quality Time stellen unlösbare Anforderungen an die Gesellschaft. Was dieser Selbstoptimierungswahn aber mit Menschen macht, die an einer Angststörung oder Depression leiden, wird kaum diskutiert. Eine psychische Erkrankung lässt sich nämlich nicht wegatmen oder durch ein bisschen Yoga abtrainieren. Der Betroffene kann sich auch nicht schön finden, positiv denken, seine Leere annehmen oder für das ayurvedische Soulfood Gemüse schnibbeln.

Richtig eingesetzt (am besten therapeutisch begleitet), kann Achtsamkeit helfen, die Gedankenspiralen zu durchbrechen. Ein depressiver Mensch, dem die Methode zusagt, lernt dann beispielsweise, seine Gedanken nicht mehr zu bewerten. Die Achtsamkeitsindustrie jedoch vermittelt den Betroffenen unterschwellig, dass sie ihr Elend selbst verschuldet hätten. Man muss ja nur wollen, man kann ja alles schaffen! Dieses Mantra ist Gift für jeden psychisch Erkrankten. Suizidneigungen können dadurch sogar verstärkt werden.

Mein Selbst und ich

Wenn das Ich für sein eigenes Glück verantwortlich ist, werden Missstände in der Gesellschaft nicht mehr benannt. Das Credo lautet Anpassung des Individuums, nicht Korrektur der Umstände. Im schlimmsten Fall gibt der Mensch den Kampf für bessere Arbeits- sowie Lebensbedingungen auf und zieht sich ins Private zurück. Quality Time eben. Mindfulness wird zur Selbstbespiegelung, zur Nabelschau. Das Gefühl für gemeinschaftliche Werte verliert dagegen an Bedeutung. Kein Wandel wird mehr vorangetrieben, keine Utopien entwickelt. Denn das Individuum ist mit sich selbst beschäftigt, um reibungslos zu funktionieren, um stressresistenter zu agieren. Damit sich alle Träume erfüllen.

Für die vermeintliche Persönlichkeitsentwicklung hält der Markt jede Menge Apps, Ratgeberliteratur, Smartwatches, Retreats, Biohacking, Wellness und Malbücher für Erwachsene bereit. Die Profiteure der Achtsamkeitsindustrie scheffeln kräftig Kohle und schüren die Unsicherheiten der Verbraucher. Denn wer nicht malt, nicht richtig atmet, wer seine Körperfunktionen nicht kontrolliert oder nicht per App meditiert, verschenkt sein Potenzial. Natürlich ist es weder verwerflich, solche Produkte zu vertreiben, noch ist es falsch, sie zu konsumieren. Die Intention der Produzenten mag gut sein – aber gut gemeint ist nicht gut gemacht.

Selbsthilfe ist nicht Selbstbestimmung

Yoga, Ruhe und Versenkung sind bereichernd. Unbedingt! Gesunde Ernährung und ein geschmeidiger Körper können dazu beitragen, das Leben zu verbessern. Die eigentliche Bedeutung von Achtsamkeit, nämlich Ethik, Akzeptanz, Mitgefühl und eine distanzierte Betrachtung der Dinge, trägt zum Wohlbefinden bei. Auch wenn die Studienlage bezüglich Meditation dünn ist und die Wissenschaft mittlerweile die angeblich heilsame Wirkung von Achtsamkeitsübungen relativiert, so bekräftigen Ärzte und Patienten immer wieder die positiven Effekte von Bewegung und Entspannung auf den Organismus.

Die Bewusstseinslobby wiederum pervertiert die ursprüngliche Idee der Achtsamkeit. Mindfulness gilt als Massenprodukt, das konsumiert werden soll. Nur wer gesund ist, macht Karriere. Nur wer zwanzig Minuten täglich praktiziert, kann durchstarten. Nicht Innehalten, Bescheidenheit und Sinngebung sind das Ziel, sondern Optimierung und Output. Indes bringen die Workshops und Ratgeberbücher selten mehr als Plattitüden hervor; nutze den Tag, denk positiv, liebe dich selbst – für derlei Banalitäten wird tatsächlich Geld verlangt. Und der Leser oder die Kursteilnehmerin shoppt den nächsten Ratgeber und bucht das Folgeseminar, in der Hoffnung, sich von den eigenen Schwächen freikaufen zu können. Doch Konsum macht abhängig und verurteilt zur Passivität. Nur weil ich in einem Yoga-Buch blättere, übe ich nicht den "herabschauenden Hund". Bloß weil ich ein YouTube-Video über die "innere Mitte" anklicke, bin ich nicht zentriert.

Der Konsum erzeugt das trügerische Gefühl, bereits zu handeln. Er gaukelt dem Konsumenten eine Entwicklung vor, doch es entwickelt sich nichts. Denn Selbsthilfe ist nicht Selbstbestimmung. Wer unter psychischen Problemen leidet, braucht einen Therapeuten und keinen "Empowerment-Speaker". Wer wirklich sein Leben ändern möchte, sollte die Ratgeber zur Seite legen und stattdessen die antiken Stoiker lesen. Oder den Computer ausschalten und sich bewegen. Körperlich und geistig. Ein Spaziergang im Wald macht zufriedener als triviale Glückskekssprüche von Influencern.

Sich gesellschaftlich zu engagieren oder ein Ehrenamt auszuüben, kann Sinn schenken – ein Video mit dem Titel "Power-Talk für dein Higher Self" vermag das nicht. Und manchmal ist es auch völlig in Ordnung, einfach auf dem Sofa zu gammeln. Ganz nach dem Motto: Fuck you, carpe diem! Mit Waldspaziergängen und Hingabe verdienen die Mindfulness-Trainer, Autoren und Online-Gurus zwar kein Geld, aber vielleicht hilft ihnen ja positives Denken dabei, den finanziellen Verlust wegzuatmen.

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