Positives Denken ist ein Zwang, der das Glück vertreibt

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Wir Zeitgenossen des 21. Jahrhunderts sind verwöhnt und anspruchsvoll wie keine Generation vor uns. Technische Fortschritte und eine unerschöpfliche Konsumwelt lassen keine noch so absonderlichen Ansprüche und Wünsche offen. Oder gaukeln es uns zumindest vor. Unüberwindbare Grenzen setzt einzig noch der Tod. Da versagt der Zauberstab. Noch.

Ausdruck dieser Selbstverwirklichungskultur ist das positive Denken, ein Zweig am Wunderbaum der Esoterik. Der Grundgedanke: Alles lässt sich herbeidenken, auch veritable Wunder. Man muss nur an die vermeintliche Kraft des Denkens glauben.

Für Esoteriker sind Materie und Gedanken nur Energie. Energien, die in verschiedenen Frequenzen schwingen. Es gibt angeblich positive Energien, aber auch negative. Diese Energien sollen beeinflussbar sein. Durch Meditationen, Mentalcoaching, teure Seminare und esoterische Rituale. Sie sollen auf unser Hirn und unser Unbewusstes wirken. So werden negative Gedanken und Gefühle ausgeräumt und durch positive ersetzt.

Die Krux dieser Theorie beginnt schon im Kern. Energie ist ein physikalischer Begriff. Negative Energie ist ein Konstrukt der esoterischen Szene. Energie ist nicht gut (positiv) oder böse (negativ).

Um Missverständnissen vorzubeugen: Das positive Denken im esoterischen Sinn hat nichts mit dem sinnvollen Spruch des Volksmundes zu tun, nicht alles im Leben negativ zu sehen, sondern auch die positiven Aspekte wahrzunehmen.

Misserfolge gehören dazu

Das positive Denken als esoterisches Konstrukt hat einen Haken: Es kann zum Zwang werden. Wer glaubt, mit dem positiven Denken Erfolg, Glück und Gesundheit erlernen zu können, unterliegt einem Irrtum. Misserfolge sind Teil des Lebens und fördern Lernprozesse und die Persönlichkeit und gehören zwingend zur Lebenserfahrung.

Positivdenker blenden alle negativen Gedanken und Gefühle krampfhaft aus. Sie flüchten in eine Scheinwelt, in der die Kulisse rosa ist. Der Gedanke an den krebskranken Nachbarn katapultiert sie aus ihrer Wohlfühlblase. Nachrichten über den Ukrainekrieg? Bloß das nicht. Überhaupt Nachrichten! Nur noch negativ. Also wegzappen.

Mit dem Kopf im Sand manipulierbar

Wer sich aber nicht wappnet gegen die negativen Aspekte des Lebens, zahlt später einen hohen Preis. Wir müssen gerüstet sein gegen die kleinen oder großen Stürme, wir müssen uns mit der Politik auseinandersetzen, wenn wir mündige Bürger werden und die Demokratie stützen wollen. Wer den Kopf in den Sand steckt, um negative Gedanken und Emotionen abzuwehren, wird manipulierbar.

Das positive Denken führt auch zu einem Zwang zur Selbstoptimierung und zur Selbstkonditionierung. Es ist letztlich ein Zwang, der das Glück vertreibt. Der natürliche Gedankenfluss wird durch Autosuggestion unterbunden, die Fantasie unterdrückt. Das positive Denken kann zu einer emotionalen Regression führen. Es ist eine naive Weltsicht zu glauben, das Glück durch mentale Konditionierung erzwingen zu können.

Der deutsche Philosoph Wilhelm Schmid spricht sogar von einer drohenden Diktatur des Glücks in westlichen Gesellschaften. Und der australische Psychologe Joseph Forgas bringt es auf den Punkt: "Emotionale Schwankungen gehören nun mal zu dem Affen, der wir sind."

Das positive Denken fördert den Anspruch, das große Glück auf alle Zeiten konservieren zu können. Es ist ein Egoprojekt. Leben bedeutet Bewegung, ist ein Auf und Ab. Wer dieses "Gesetz" missachtet, zahlt früher oder später einen entsprechenden Preis.

Zum ersten Mal zur Kasse gebeten wird man, wenn man einen der vielen Kurse oder Seminare bucht, die Glück, Erfolg, ein stärkeres Immunsystem und eine bessere Gesundheit durch Gedankentraining bringen sollen.

Fast alle Religionen, Glaubensgemeinschaften und spirituelle Gruppen predigen Achtsamkeit, Bescheidenheit und Demut. Der Zeitgeist fördert hingegen Egoismus und Narzissmus. Da läuft etwas gründlich schief.

Übernahme mit freundlicher Genehmigung von watson.ch.


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